Erinnerung an den 30. Jahrestag der Kerzendemonstration
25. März 2018, Bratislava, Slowakische Republik
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Es gilt das gesprochene Wort.
Heute bin ich bei Ihnen, um mich gemeinsam an den Tag zu erinnern, an dem Tausende Menschen die Angst vor ihren Unterdrückern überwanden, weil ihre Sehnsucht nach Freiheit größer war als ihre Furcht. Wir erinnern uns an mutige Menschen, die daran teilhatten, die Freiheit nach Mittel- und Osteuropa zurückzuholen. Wir erinnern uns an ein bedeutendes Kapitel der slowakischen und europäischen Freiheitsgeschichte.
Herr Präsident, Herr Erzbischof, ich danke Ihnen für Ihre Einladung nach Bratislava, um den Mut der Frauen und Männer zu feiern, die am 25. März 1988 auf dem Platz vor diesem Gebäude mit einer Kerze in der Hand friedlich für ihre Religionsfreiheit und für ihre Menschenrechte demonstriert haben. Und dass ich heute zu Ihnen sprechen darf, empfinde ich als ein schönes Symbol für die Verbundenheit der Menschen in Mittel- und Osteuropa: Wir waren vor 30 Jahren im Protest gegen das kommunistische Regime und für Freiheit und Demokratie vereint. Und wir sind heute vereint gegen alle Versuche, die Demokratie auszuhöhlen oder das veraltete Modell des Nationalismus wiederzubeleben.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn wir uns an die Jahre 1988/89 erinnern, haben wir ganz unterschiedliche Bilder im Kopf; auch die Namen, die wir den Bewegungen gaben, mögen sich unterscheiden, so sprechen wir heute von der Samtenen, der Singenden, der Friedlichen oder Nežná revolúcia, aber dennoch gibt es das Einigende zwischen den Menschen in meiner Heimatstadt Rostock und Bratislava. Es ist die jahrzehntelange Erfahrung von Unrecht und Unterdrückung, eine Erfahrung der scheinbar unendlichen Macht der Wenigen und der scheinbar endlosen Ohnmacht der Vielen. Es ist auch die Erfahrung, dass aus dem Glauben eine Kraft entstehen kann, sich aus der Ohnmacht zu befreien. In der DDR wie in der Slowakei waren Christinnen und Christen aus der evangelischen beziehungsweise aus der katholischen Kirche zentraler Teil des öffentlichen Protests. Schließlich eint uns das unbeschreibliche Glücksempfinden, die ersehnte Freiheit tatsächlich errungen zu haben.
Wer vor 30 Jahren hier in Bratislava stand, um gemeinsam mit anderen Gläubigen den Rosenkranz zu beten und eine Kerze anzuzünden, der hat seine Ohnmacht, seine Angst überwunden und ein Zeichen an seine Unterdrücker gesendet. Ein Zeichen, dass sie sich nicht länger ihrer Selbstbestimmung, ihres Rechts auf freie Religionsausübung, auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit berauben lassen. Die Mächtigen spürten, welche Gefahr von den friedlichen Demonstranten ausgeht, sie wussten, dass sie den Mut und die Entschlossenheit der Menschen ihrerseits fürchten müssen. Und deshalb haben Sie mit allen Mitteln der Diktatur versucht, die Demonstration zu verhindern und niederzuschlagen.
Ja, sie konnten Frauen und Männer niederknüppeln und verhaften, sie konnten bespitzeln und verraten, aber sie konnten die Hoffnung, die Sehnsucht nach Freiheit nicht unterdrücken. Dies gelang ihnen weder in Warschau noch in Leipzig, weder in Prag noch in Bratislava. So unterschiedlich die oppositionellen Bewegungen und Gruppierungen auch waren – ich erinnere an die Charta 77, die Solidarność oder die Kirche im Untergrund –, durch das Ziel geeint, entstand in ganz Mittel- und Osteuropa eine breite Demokratiebewegung, die die jahrzehntelange Herrschaft der Kommunisten beendete und dazu führte, dass sich im Herbst 1989 der erste Schlagbaum in Berlin öffnete und der eiserne Vorhang endgültig fiel. Und – auch das sollten wir nicht vergessen: Alle Beteiligten wollten Teil eines geeinten Europa sein!
Wir wollen diese Erinnerung aufbewahren, um uns immer wieder zu vergewissern, was wir errungen haben – errungen, wonach sich Menschen in vielen Ländern der Welt noch immer sehnen. Freiheit und die Achtung und Wahrung der Menschenrechte.
Heute wissen wir: Auch die Demokratie kennt Ohnmacht, oft ist es selbstverschuldete Ohnmacht, wenn der Einzelne nicht mitredet, nicht mitgestaltet, nicht zur Wahl geht, sich nicht für zuständig erklärt, obwohl über ihn und seine Gesellschaft befunden wird.
Wir dürfen niemals vergessen, dass unsere Demokratie nicht nur bedroht ist von Extremisten, von Fanatikern und Ideologen. Sie kann auch ausgehöhlt werden und ausdörren, wenn die Bürger im Land sie nicht mit Leben erfüllen.
In einer Demokratie hängt es immer auch von Jeder und Jedem ab, ob und wie gut sie funktioniert. Und hier in Bratislava haben sie es in den vergangenen Tagen wieder erlebt: Wenn Tausende auf die Straße gehen und rufen "Wir wollen eine anständige Slowakei", dann bleibt dieser Ruf nicht ungehört. Und die Bürger machen erneut die Erfahrung: Nur wer abseits steht und sich heraushält, wird zum beherrschten Objekt. Wer aber das Schweigen bricht und den Wandel einfordert, wer sich für zuständig erklärt, der übernimmt Verantwortung als Bürgerin oder Bürger.
Mir und auch Ihnen ist wahrscheinlich bewusst, dass die Demokratie nicht vollkommen ist. Anders als andere Staatsformen erhebt sie auch gar nicht diesen Anspruch. Im Gegenteil: Sie ist lernfähig und -willig. Sie ist die einzige Ordnung, die ihre Defizite und Mängel nicht zu verstecken trachtet, sondern sie lösen will, etwa durch wissenschaftliche Erkenntnisse, im – zuweilen auch robust geführten – Wettstreit der unterschiedlichen Meinungen! Und sie schätzt und fördert die aktive Zivilgesellschaft genauso wie eine unabhängige Presse.
Und gerade in Zeiten, in denen an vielen Orten erreichte Ordnungen in Frage stehen und viele Gewissheiten verloren gehen, sollten wir uns an unsere eigenen Erfahrungen erinnern. Wir sollten uns der Herausforderung stellen und die liberale Demokratie verteidigen. Wir können ihre Erfolge benennen und müssen ihre Mängel nicht verschweigen. Und wir können dies viel selbstbewusster tun als all jene, die etwa eine unabhängige Presse und Justiz oder auch eine aktive Zivilgesellschaft fürchten.
Wir haben diese Freiheiten gemeinsam erkämpft – und ich wünsche mir, dass wir diese Freiheiten auch gemeinsam nutzen und ausfüllen!
Ich wünsche mir auch, dass wir die Schalmeienklänge der Populisten in ganz Europa verhallen lassen, und stattdessen die Kontroversen um die richtigen politischen Lösungen nicht scheuen!
Und ich wünsche mir zuletzt, dass wir nicht den diffusen Ängsten folgen, sondern den Wert unserer freiheitlichen Ordnung erkennen und gemeinsam für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Einheit Europas einstehen!