Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Churchill-Symposium

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Joachim Gauck als Redner auf dem Churchill-Symposium

©Helen Ree - Swiss Reinsurance Company

Rede im Zoologischen Museum der Universität Zürich anlässlich des Churchill Europe Symposiums 2017

Teilnahme am Churchill-Europe-Symposium in Zürich

04. Dezember 2017, Zürich, Schweiz

"Europa – einst Verheissung – heute Streitfall"

 

Es ist mir eine Freude, hier zu sein. Wenn ich meinen Blick durch diese historische Aula schweifen lasse, auch dieses wunderschöne Gebäude, dann empfinde ich zunächst einmal grosse Freude. Es ist auch eine ästhetische Freude. Ich bin in vielen Universitätsgebäuden unterwegs gewesen und es ist nicht so, dass man immer eine ästhetische Freude hat. Das ist hier doch etwas anders.

Ich freue mich auch, dass mein Vorredner Winston Churchill so ausführlich und so wunderschön und umfassend, auch zum Teil ambivalent, geschildert hat. Das sorgt auch so etwas für ein Ankommen hier auf einer Ebene, wo zunächst nur Herausforderungen vor meinen Augen stehen. Ich bin voller Respekt an das Pult getreten und wenn ich mich meinem Thema später zuwende, dann wird der Respekt noch wachsen:  Welche Zukunft soll Europa anstreben – über siebzig Jahre nachdem Churchill den hier Versammelten und allen Europäern zurief: "Let Europe arise"? Wenn wir uns noch einmal vor Augen führen, unter welchen Umständen er seine "Rede an die akademische Jugend der Welt" gerichtet hat, dann wird uns bewusst, wie aussergewöhnlich und visionär sie war. Dieses Europa in Trümmern und dann diese grosse Vision, das passte doch gar nicht zusammen. Jetzt ist Europa überhaupt nicht in Trümmern und viel kleinere Visionen erscheinen völlig unglaubwürdig. Das muss man sich mal vor Augen führen: Dieser Mut, diese Energie, dieser tiefe Glaube an etwas, was doch möglich sein würde.

Die finstersten Zeiten Europas, das Verderben, in das Deutschland den europäischen Kontinent gestürzt hatte, waren gerade erst überwunden. Besiegt auch durch den unbeugsamen "Kriegspremier", Winston Churchill. In den Strassen Zürichs wurde der Bezwinger Nazi-Deutschlands mit grosser Freude und Jubel empfangen. Wir haben gehört: In seiner Heimat war das anders, da war er aber schon abgewählt. Doch hier in Zürich sprach er dann von seiner Vision für die Zukunft Europas. Ein Europa, das Hass und Rachegelüste überwindet. Ein Europa, das sich nicht den Kränkungen der Vergangenheiten hingibt, obwohl das immer wieder eine grosse Versuchung ist, aus den erfahrenen Kränkungen heraus Politik zu machen. Das sehen wir bis heute immer wieder. Nein, Europa hat sich anders verhalten. Es hat sich auf einen Weg gemacht, nach den schrecklichen Verbrechen der Vergangenheit den unverbrüchlichen Zusammenschluss der europäischen Völker zu suchen. Kern des Zusammenschlusses, so sah es Churchill, sollte die Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Dass sich die beiden "Erzfeinde" über die Schützengräben zweier Weltkriege die Hand zur Versöhnung reichen, sei die wichtigste Voraussetzung, um so etwas die "Vereinigten Staaten von Europa" entstehen zu lassen.

Churchills Worte konnten vor über siebzig Jahren ihre historische Bedeutung entfalten, weil sie in ganz Europa auf fruchtbaren Boden fielen. Nach der Nazidiktatur, nach all dem Tod und Schrecken, war die Vision von einer "europäischen Völkerfamilie" eine Verheissung für viele Menschen in ganz Europa – im Westen und im Osten. Und für die, die noch Jahrzehnte in Diktaturen von sowjetischen Gnaden leben mussten, wurde die Sehnsucht nach den "Vereinigten Staaten von Europa" nur umso grösser. Diese Verheissung von Frieden und Freiheit, von der Herrschaft des Rechts und dem Wohlstand für alle, ich kann sie noch heute spüren, denn wie sie vorhin gehört haben, lebte ich allzu lange im Osten Deutschlands und war fern von der politischen Verwirklichung dieser Vision. Noch heute ist dies für mich eines der grössten Wunder der europäischen Geschichte: Dass nach all dem Leid, das Deutsche über Europa gebracht haben, die Spirale von Rache und Gewalt durchtrennt wurde und verfolgte und erniedrigte Nationen den Weg der Verständigung mit dem einstigen Okkupanten beschritten. Das würde man in einer theologischen Sprache als gnadenvollen Vorgang bezeichnen. Ich sage hier einfach mal, es war ein Glück, das wir Deutsche nur dankbar annehmen konnten.

Im Jahr 2017 wissen wir leider aber auch, dass Churchills Hoffnung auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Nationen neuerdings bedroht ist. Wenn ich in die aktuellen Debatten über die Zukunft Europas hineinhorche, dann höre ich an vielen Orten weniger Verheissungsvolles. Ich höre antieuropäische Parolen aus allen Himmelsrichtungen der Union. Brüssel ist dann schnell das Synonym für eine menschenferne Bürokratie, die den einzelnen Bürger gängelt, die Europäische Union für einige sogar eine Bedrohung für die nationale Identität. Manche glauben auch, die Europäische Union habe ihren Zenit überschritten, sei eventuell gar vom Zerfall bedroht. Hier in der Schweiz, also einem Land, das nicht Mitglied der EU ist, aber doch so viele enge Verbindungen zu den Ländern der Union hat und deshalb auch aus eigenem Interesse auf das Wohl und Wehe der EU blickt, will ich in dieser Situation mit Ihnen auf die Frage schauen: Ist Europa nur noch ein Streitfall und nicht mehr die Verheissung auf eine bessere Zukunft? Wer die Situation in Europa heute mit der im Jahr 1946 vergleicht, muss zunächst einmal feststellen: In einer Langzeitperspektive ist der Zusammenschluss der europäischen Staaten eine Erfolgsgeschichte, trotz der Gefühle, die ich eben beschrieben habe. Nie gab es eine so lange und stabile Zeit des Friedens in Europa, noch nie gab es mehr Prosperität und ein höheres Wohlstandsniveau in fast allen Teilen Europas, und noch nie waren die Herrschaft des Rechts und gute Sozial- und Umweltstandards weiter verbreitet – und dies trotz der noch grossen regionalen Unterschiede und der Krisen, die mir natürlich auch klar vor Augen stehen. Trotz der zweifellosen Erfolge erleben wir in ganz Europa heute aber Ratlosigkeit und eine Art Lähmung, ja sogar erstarkende politische und ideologische Bewegungen, die das liberale Projekt Europa und damit alte Gewissheiten in Frage stellen. Wir erleben einen schleichenden, aber auch tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und mentalen Umbruch. In allen Gesellschaften gibt es Unzufriedene, gibt es Menschen, für die Europa kein Erfolgsmodell, sondern eine gefühlte oder reale Bedrohung ist. Und das aus mehreren Gründen. Ich nenne einige:

Wir leben heute, wie wir alle wissen, im Zeitalter der Globalisierung und damit leben wir in immer grösseren Aktionsräumen. Zum Teil unüberschaubar für viele. Das wissen alle, aber nicht alle empfinden es gleich, denn nicht für alle hat die Entwicklung dieselben Folgen. Den Einen hat die Globalisierung viele neue Chancen eröffnet. Vor allen Dingen denen, die gut ausgebildet sind, die Fremdsprachen beherrschen und Grenzen überschreiten können und wollen. Dieser Teil der Bevölkerung gehört zu den Gewinnern dieser Entwicklung; er begegnet neuen Umständen und neuen Menschen mit Zuversicht.

Es gibt andererseits aber auch jene Gruppen von Menschen, die der Globalisierung und dem rasanten Wandel skeptisch und verunsichert gegenüberstehen, weil sie von den Vorteilen selten oder nie profitieren und sogar Nachteile in Kauf nehmen müssen.

Bei einigen hat sich die soziale Lage bereits verschlechtert, andere fürchten einen Abstieg in naher Zukunft oder den Verlust ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ich bin mir sicher: Dieses Hadern mit der Globalisierung ist eine wesentliche Ursache dafür, dass Menschen die Europäische Union kritisieren oder sich gar von ihr abwenden, weil sie in ihr eine Verbündete dieser Entgrenzung sehen. Die Freizügigkeit von Waren und Personen beispielsweise, zunächst als nahezu unbegrenzte Möglichkeit willkommen geheissen, wird in Westeuropa inzwischen auch als Ursache für zunehmende Konkurrenz und steigenden Druck auf den Sozialstaat wahrgenommen. Insofern müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten auch die Sorgen ernst nehmen und die Interessen der ökonomisch Benachteiligten wahrnehmen. Sonst wird der Zusammenhalt nicht nur in den Gesellschaften, sondern in ganz Europa gefährdet. Einen derartigen Prozess haben wir in den Vereinigten Staaten durch die Trump-Wahl sehr deutlich gesehen.

Hinzu kommt nun noch etwas, was in vielen Ländern das Gefühl einer politischen Dominanz seitens der europäischen Institutionen bedeutet. So manche Vorgabe aus Brüssel, die lange verhandelt worden ist, wird, wenn sie dann im Grunde als Regel zurückläuft, als übergriffig empfunden, so manche Intervention von Brüssel aus als arrogant erlebt. Selbst dann, wenn Bürger, nämlich Abgeordnete oder Beamte aus dem Land mitgewirkt haben. Dann wird Brüssel als Lehrmeister empfunden, der moralische oder politische Standards ohne Rücksicht auf historisch-nationale Besonderheiten durchzusetzen sucht und dabei kollektive Kränkungen und Demütigungen in Kauf nimmt. Ich schaue jetzt auf die Region jenseits der Oder: Im Osten wie im Süden der Union hat sich daher die Abwehr gegen supranationale Regelungen verstärkt, während gleichzeitig die Zahl derer gestiegen ist, die sich nach einem Rückzug in den Nationalstaat sehnen und anfällig sind für populistische anti-europäische Antworten. Bei manchen sind Ablehnung, Angst und Verunsicherung gar in Hass umgeschlagen.

Wir erleben es in nahezu allen europäischen Staaten: Verfechter von Nationalismus, Populismus und Protektionismus haben den Kampf gegen die Befürworter der offenen und demokratischen Gesellschaft aufgenommen. Auf den Strassen europäischer Städte – etwa in Warschau, Göteborg oder Dresden – schüren sie den Hass gegen alles Fremde und propagieren einen rückwärtsgewandten Nationalismus. Es gibt sogar in Europa Regierungen, die sich mit einer "illiberalen Demokratie" etwas versprechen und ihre Bevölkerung versprechen, was sich positiv abheben soll vom liberalen Leitbild der Europäischen Union. Sie widersetzen sich teilweise oder zeitweise europäischen Beschlüssen und Regelungen. Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich und Österreich spürten viele Menschen, dass rechtspopulistische Staatsoberhäupter gewählt werden würden. Und ganz nebenbei: Großbritannien verlässt die Europäische Union. Die alte Vorstellung, die Europäische Union werde sich quasi automatisch in Richtung von demokratischeren und toleranteren Gesellschaften und einer ever closer union fortentwickeln, hat sich als trügerisch erwiesen.

Wir kommen nicht um das selbstkritische Eingeständnis herum, dass wir, die politische Klasse, die Bedeutung nationaler Loyalität und nationaler Tradition unterschätzt haben. Nicht zuletzt in Deutschland. Der Grund dafür lag auf der Hand: Nachdem der menschenverachtende, aggressive Nationalsozialismus Europa und weite Teile der Welt in die Katastrophe geführt hatte, galt der Nationalstaat vielen meiner Landsleute als per se moralisch diskreditiert und historisch überholt. Manche erstrebten die europäische Einigung, um eben diesen als reaktionär angesehenen Nationalstaat ein für alle Mal zu überwinden. Der Weg von einer fundamentalen Verurteilung der jüngeren deutschen Geschichte zu einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber der eigenen Nation und der eigenen Tradition war nicht weit. Eben weil sie fortschrittlich und liberal sein wollten, wollten viele Deutsche "post-national" sein: Verbunden sehr wohl mit einer Region, aber nicht mit ihrem "Vaterland". Dieses Wort hätten sie gar nicht in den Mund genommen. Verbunden sehr wohl mit den Menschenrechten, auch mit Rechtsstaat und Demokratie, aber nicht mit einer national geprägten Tradition und Kultur. Als ich das erste Mal nach langem Zwangsaufenthalt nur im Osten eine Ausreisegenehmigung bekam und nach Hamburg oder andere Teile reiste, spürte ich das deutlich: Sie fühlten sich durchaus als Hamburger oder Bayern, aber sie wollten keine Deutschen sein, sondern gleich Europäer und Weltbürger: "Ich bin Hamburger und Europäer." Das gehört sich so in den politischen Kreisen, mit denen ich damals Kontakt hatte.

Dass die Nation allerdings historisch keineswegs abgedankt hatte und Bezugspunkt für Beheimatung und Identität auch innerhalb der Europäischen Union blieb, zeigte sich, als verschiedene europäische Verträge in den 90er Jahren zunächst scheiterten, weil die Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel in Frankreich und den Niederlanden ihnen in einem Referendum die Zustimmung verweigerte. Die Abgabe von Souveränität, wie sie ihnen die Regierungen vorgelegt hatten, ging ihnen zu weit. Ich schweige erneut hier vom Brexit. Ich geh nochmals zurück in meine eigene politische Entwicklung und meinen eigenen politischen Kampf. Für viele eine überraschend grosse Rolle spielte die nationale Idee auch 1989/90 in Deutschland. Dort im Osten hatten wir uns mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" (einem der schönsten Sätze der deutschen Politikgeschichte) unsere Unterdrücker entledigt und unsere Freiheit als Bürger erkämpft. Sehr schnell setzte sich dann eine weitere Parole durch. Sie lautete: "Wir sind ein Volk". Die intellektuellen Vorreiter der Bürgerbewegung waren da oft noch gar nicht, aber in der breiten Masse, war ein Gespür dafür da: wir wollen wiedervereinigt werden. Ja: Wir wollten frei, aber wir wollten auch einig sein. Nicht nur, um am Wohlstand des Westens teilzuhaben, sondern auch aufgrund gemeinsamer Sprache und Traditionen, und weil wir durch unzählige familiäre und freundschaftliche Beziehungen mit Westdeutschland verbunden waren.

In einer weniger positiven Weise hat nationalstaatliches Denken in den letzten Jahren weiteren Auftrieb erhalten durch die großen Migrationsbewegungen. Angesichts massenhafter illegaler Grenzüberquerungen wurde plötzlich wieder über die Sicherung nationalstaatlicher Grenzen und europäischer Aussengrenzen debattiert. Wir lernten: Solange es keine effektiven europäischen Lösungen gibt, ist der Nationalstaat weiter gefordert, den ihm anvertrauten Raum zu kontrollieren. Wir lernten auch: Mögen Deutschland und Europa insgesamt auch von einer grossen Offenheit gekennzeichnet sein, so fürchten doch immer mehr Angehörige von Mehrheitsgesellschaften, ihre nationale Kultur und ihre Lebensweisen könnten durch Zuwanderer bedroht sein. Und so muss der Nationalstaat einen Ausgleich schaffen zwischen denen, die ihre Identität auf Universalismus und Weltoffenheit aufbauen und jenen, die sich eben vor diesen Prinzipien fürchten. Unsere Vorstellung vom Nationalstaat ist deswegen nicht nationalistisch, weil sie in Übereinstimmung mit dem Geist der Europäischen Union existiert. Gerade weil uns daran liegt, uns für einen Nationalstaat einzusetzen, der Europa zugewandt ist, dürfen wir es nicht den Populisten überlassen, die Entgrenzungsängste der Menschen aufzugreifen. Da bin ich sehr nahe bei ihnen, Herr Berset, und ihren Ausführungen von vorhin. Europa muss sich auf demokratische, weltoffene Nationalstaaten verlassen können, denn sie sind sein Fundament. Nationalstaaten sind auch für die meisten Menschen immer noch der Garant zum Schutz von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten. Sie sind auch immer noch der Garant für die kulturelle Vielfalt Europas – eine Vielfalt, wie sie zwischen den verschiedenen Staaten existiert, aber wie sie auch innerhalb der einzelnen Staaten anzutreffen ist. Eine starke Homogenität mag denjenigen beheimaten, der nur nach Einheit mit seinesgleichen sucht. Aber starke Homogenität, das ist uns doch auch klar, mindert die Toleranz für Verschiedenheit und befördert Abgrenzung und Ausgrenzung, manchmal in offen rassistischer und gewalttätiger Form. Die Lösung liegt meines Erachtens nach wie vor in der Verteidigung offener Gesellschaften – mit gleichen Rechten für Verschiedene, mit der Respektierung des Mehrheitswillens und gleichzeitigem Schutz von Minderheiten. Insofern hat der lange verstorbene Ralf Dahrendorf Recht, als er den heterogenen Nationalstaat die "grösste Errungenschaft der politischen Zivilisation" genannt hat. Den heterogenen Nationalstaat.

Mit dem Wissen um die Vorteile der heterogenen Gesellschaft können wir überall in Europa entschlossen den Nationalisten und rechten Fanatikern entgegentreten, so wie es kürzlich, zu meiner Freude, der polnische Staatspräsident in bemerkenswerter Weise getan hat. Dort hatten in Warschau Rechtsextreme den polnischen Nationalfeiertag mit ihrer absurden Forderungen nach einem "weissen Europa" diskreditiert. Gerne greife ich die Worten von Präsident Duda auf: "In Europa gibt es keinen Platz und keinen Beifall für Xenophobie. In Europa gibt es keinen Platz für kranken Nationalismus, keinen Platz für Antisemitismus. Solche Haltungen bedeuten den Ausschluss aus unserer Gemeinschaft." Präsident Duda, der derselben Partei angehörte wie Kaczyński und die Mehrheiten heute in Polen.

Bisher haben wir unseren Blick vor allem nach innen gerichtet. Ein grosser Teil europäischer Verunsicherung speist sich aber auch aus den neuen aussenpolitischen Konstellationen. Vielfach wurde es bereits diagnostiziert: Wir erlebten nach 1989 weder den weltweiten Siegeszug der Demokratie noch das Ende der Geschichte, vielmehr erlebten wir neue Unruhen, neue Instabilitäten, neue Kriege, neue Diktaturen, dazu neue aufsteigende Staaten und Verschiebungen im internationalen Machtgefüge. Europa ist nicht mehr nur von friedlichen und befreundeten Staaten umgeben – einige europäische Nachbarregionen sind vielmehr Problem- und Kriegsländer geworden. Russland hat mit der Annexion der Krim und der hybriden Kriegführung in der Ostukraine die Friedensordnung nach 1991 gebrochen. In Syrien herrscht seit über sechs Jahren Krieg, im Irak ist der militärische Konflikt zwischen Bagdad und dem kurdischen Autonomiegebiet neu aufgebrochen. Die Lage in Nordafrika ist instabil, in Libyen ist die Staatlichkeit zerbrochen. Und die autoritäre Entwicklung in der Türkei führt zur zunehmenden Unterdrückung von Kurden, politisch Oppositionellen und Journalisten; und überhaupt allen unabhängigen Geistern. Die Auswirkungen dieser Krisen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auf Europa sind unverkennbar. Der Migrationsdruck hat stark zugenommen und wird weiter wachsen. In mehreren europäischen Staaten haben islamistische Terroristen allein seit 2014 über ein Dutzend Anschläge verübt. Dann gibt es massive Versuche zur Verbreitung antiwestlichen, antiliberalen Gedankenguts über das Internet oder durch radikale islamistische Prediger, die extremistische Auffassungen schüren und das nicht allein unter Zuwanderern. In diesem Ausmass neu sind auch Auseinandersetzungen, die in unsere Länder importiert werden. Politisch verfeindete Gruppen aus Herkunftsländern von Zugewanderten, spielen sich dann auch in unseren Kommunen ab. Ebenfalls neu in diesem Ausmass sind die Destabilisierungsversuche europäischer Gesellschaften durch Cyberattacken, Fake News und die Unterstützung europakritischer Regierungen und Parteien, wie sie etwa von Russland betrieben werden.

All diese Veränderungen haben wir 1990 nicht sehen können. Nun hören Sie wahrscheinlich genauso wie ich oftmals die Klagen von Freunden und Bekannten, dass sich zu viel zu schnell ändert. Wer hat denn auch bedacht, was die Geschichte uns eigentlich hätte lehren können. Wie träge und langsam der Wandel von Mentalitäten von statten geht. Wie soll der Verstand das alles verarbeiten? Und erst recht unser Gefühlshaushalt? Auf welche politischen Koordinaten ist denn noch wirklich Verlass? Wir fragen uns ja bereits, ob wir auf alte, feste Bündnispartner noch zählen können. Tatsächlich hat die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten in den USA viele Bürger in Europa ja geradezu verstört. Und tatsächlich: Ziehen sich die Vereinigten Staaten zurück, ist Europa in ganz anderer Weise gefordert, die Sicherheit der eigenen Bürger zu garantieren und sich verstärkt politisch, militärisch und wirtschaftlich den Konflikten in der Welt zu stellen. Als Europäer.

So verändert eine Politik des "America firs"“ im ungünstigen Fall nicht nur Amerika, sondern auch die jetzige Weltordnung und das transatlantische Bündnis. Diese Verunsicherung ruft uns allerdings auch stärker wieder ins Bewusstsein, was wir schon lange wussten: Europa braucht mehr Selbstverantwortung und Eigeninitiative. Ich hoffe allerdings, dass Europa das transatlantische Bündnis weder aus Enttäuschung und schon gar nicht aus antiamerikanischem Ressentiment voreilig aufkündigen wird. Seit dem Ende des 2. Weltkriegs hat Europa nicht nur unter dem Schutzschild der USA gelebt, es hat auch die Werte mit Amerika geteilt. Differenzen existierten selbstverständlich, aber sie betrafen nicht die ideellen Grundlagen. Mit dem Amtsantritt von Trump hat sich das zwar geändert. Doch wir alle wissen, auch durch persönliche Beziehungen - Trump ist nicht Amerika. Es gibt auch das andere Amerika. Wir erleben ein System, das mit seinen checks and balances erstaunliche Widerstandskräfte gegen willkürliche Eingriffe besitzt, und wir sehen viele Frauen und Männer, die den Rechtsstaat auf allen Ebenen des Staates hoch halten. Weil der Westen ohne die USA nicht vorstellbar ist, braucht es eine langfristige, pragmatische Strategie: aktuelle Konflikte möglichst austragen, ohne sie zu eskalieren, und die Hoffnung, dass aktuell grosse gemeinsame Initiativen in Gang kämen, klein halten, ohne defätistisch zu sein. Wenn man nicht zu viel hofft, ist man einfach aktiver. Weil das zu viel Hoffen uns auch in ein Feld der Frustration führt aus dem wir nur mit grösserer Schwäche herausgehen und deshalb ist manchmal eine Begrenzung der Hoffnung, obwohl es ein bisschen "ältlich" aussieht und gar nicht schön klingt, ein geeigneter politischer Weg. Ich habe 1990 für mich gelernt: In der Politik ist für mich das Wichtigste, nicht die schöne Vision, sondern die Gestaltung des weniger Schlechten. Das kann man in verschiedenen politischen Konstellationen als nützlichen Lehrsatz anwenden. Vor allem aber sollten wir alle Gesprächskontakte halten und ausbauen, nicht nur im Regierungsapparat, sondern auch in den Parlamenten und der Zivilgesellschaft, in der Wissenschaftscommunity, unter den Künstlern. Es darf nicht sein, dass die gewachsene und substantielle Beziehung zu den Vereinigten Staaten an den Unsicherheiten einer Präsidentschaft scheitert.

Was mich trotz aller innen- und aussenpolitischen Probleme der Europäischen Union augenblicklich optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass viele Menschen in der Stunde neuer Verunsicherung nicht vor der Idee der europäischen Vereinigung davonlaufen, sondern Europa als Teil der Lösung erkennen.

Und dass sich mit einer eindeutig pro-europäischen Ausrichtung wieder – wie unlängst in Frankreich – Wahlen gewinnen lassen. Nicht wenige Menschen sind für die europäische Idee sogar auf die Strasse gegangen – vom rumänischen Galati bis zum irischen Galway. Weitere Desintegration, so ihr fester Glaube, ist nicht unausweichlich, weitere Integration vielmehr möglich. Ja – die meisten Bürger Europas wollen Veränderung. Und damit meinen sie nicht: kein Europa, sondern sie meinen: ein anderes, ein besseres Europa. Selbst wenn man ihr nicht in allen Teilen zustimmt: Die Grundsatzrede von Emmanuel Macron kann der europäischen Entwicklung neuen Schwung geben. Vieles von dem, was der französische Präsident vorschlägt, ist auch nicht vollkommen neu. Neu ist, dass die Vorschläge von ihm stammen. Er hat durch sein bisheriges Handeln deutlich gemacht, dass er seinen Ankündigungen Taten folgen lässt. Also nicht nur Themen, sondern Haltungen sind Dinge, die den politischen Raum bestimmen. So ist der Druck auf andere Regierungen gewachsen, sich zu den grossen europäischen Fragen zu positionieren: von der Haushalts- und Wirtschaftspolitik über die Migrationspolitik, den Aufbau einer eigenen europäischen Armee bis hin zum verstärkten Kampf gegen Terrorismus und Cyberkriminalität. Wir wissen es alle: Europa hat tatsächlich weit zügiger als bisher umzusetzen, was nur auf europäischer Ebene geregelt werden kann, wenn es für alle Mitgliedsstaaten effektiv sein soll. Nutzen wir die Gunst der Stunde! Die Skeptiker und Gegner der EU sind nicht verschwunden, aber die Befürworter der EU haben sich mit neuem Elan daran gemacht, der Union ein Profil zu geben, das zur neuen Zeit passt.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf einen Aspekt eingehen, der mir besonders am Herzen liegt: Ich möchte dafür werben, den Dialog zwischen den verschiedenen europäischen Gesellschaften zu intensivieren. Europa ist zu Recht stolz auf seine Vielfalt. Europa hat aber auch Probleme aufgrund seiner Verschiedenheit. In den letzten Jahre liessen sich die Differenzen in Mentalitäten und Kulturen regelmässig beobachten: schon zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Grossbritannien und dem Rest der EU, aber auch zwischen den Südländern und den Nordländern, erst recht zwischen Mittelosteuropäern und Westeuropäern. Jene Nationen, die über 45 Jahre unter sowjetischer Herrschaft lebten, kannten keine offene Gesellschaft und keine offenen Grenzen. Mit Zuwanderung mussten sie sich nie auseinander setzen. Während es in vielen westeuropäischen Staaten zunächst unstrittig war, politisch Verfolgten und Bürgerkriegsflüchtlingen Schutz zu gewähren, gab es in den mittel- und osteuropäischen Ländern selbst für humanitären Schutz kein Verständnis – weder bei den Regierungen, noch bei grossen Teilen der Bevölkerungen. Die Weltoffenheit und die Vielfältigkeit, die in Westeuropa zur neuen Identität gehören, werden in den mittelosteuropäischen Ländern von vielen als bedrohlich empfunden. Manche Westeuropäer wollen das als Charaktermanko sehen. Tatsächlich aber ist dies begründet in anderen historischen Prägungen und mangelnden Erfahrungen, die westliche Gesellschaften machten, als sie das Miteinander der Verschiedenen jahrzehntelang eingeübt haben. Dies sollten wir zumindest im Hinterkopf haben, wenn wir uns in den Disput begeben.

Die Zukunft der EU wird meines Erachtens nicht zuletzt davon abhängen, ob es ihren Mitgliedsstaaten gelingt, den Dialog innerhalb unserer Union zu intensivieren, das gegenseitige Verstehen zu fördern und mehr um einvernehmliche Lösungen zu ringen. Dazu gehört, die Kontakte zwischen den Zivilgesellschaften zu verbessern und all jene Kräfte zu unterstützen, die sich dem Abbau von Demokratie und Rechtsstaat und einer nationalistischen Rückwendung in ihren Ländern widersetzen. Das wird sicher auch zu Kontroversen mit einzelnen Regierungen führen. Aber Demokratie heisst auch, Streit zu ertragen – zuweilen heftigen Streit. Doch wenn es gelingt, diesen Streit mit Respekt und mit der Anerkennung von Regeln zu verbinden, dann ist das nicht unbedingt ein Schaden für das europäische Projekt.

Ich kann nun nicht die Rede beenden ohne auf meine Heimat, auf Deutschland, zu schauen. Ich muss ein paar Worte zu Deutschland und seine Prägung sagen. Deutschland hat sich lange, mit Verweis auf seine Vergangenheit, relativ passiv auf internationaler Bühne verhalten.

Vor einigen Jahren habe ich auf der Münchner Sicherheitskonferenz angemahnt, dass unser Land mehr Verantwortung übernehmen müsse – auch global. Es ist nicht nur die Stärke der Wirtschaft, es sind auch die – trotz aller gegenwärtigen Unklarheiten in Berlin – die gefestigte Demokratie, es ist ein überaus stabiler Rechtsstaat, eine – trotz populistischer Versuchungen – stabile Gesellschaft, und es ist zweifellos auch die geostrategische Lage, die Deutschland eine führende Rolle zuweisen. Einiges ist auch bereits zu besichtigen. Deutschland hat sich bewegt. So hat die Bundesregierung wesentlich beigetragen zum Zustandekommen des Minsker Abkommens, sie war beteiligt an den Verhandlungen zum Atom-Abkommen mit dem Iran und sie hat die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika intensiviert. Deutschland hat auch Zusagen gemacht bei militärischen Einsätzen in Afghanistan, aber auch in Afrika. Das Parlament entsandte Soldaten zu friedensstabilisierenden Einsätzen ins Ausland, die massgeblichen Parteien haben zudem die grundsätzliche Bereitschaft signalisiert, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. All das sind Schritte auf dem Weg zur Übernahme von mehr Verantwortung im politischen wie im militärischen Bereich. Ich weiss, dass, wenn Deutschland entschlossen verantwortlich wahrnimmt, es aufgrund seiner Vergangenheit immer auch auf Misstrauen bei Nachbarn und Verbündeten stossen wird. Ich weiss, dass Deutschlands Führungsstil in den Krisen der letzten Jahre teilweise als buchhalterisch oder unbarmherzig empfunden wurde.

Da tut es den Deutschen natürlich gut, wenn Jeroen Dijsselbloem den Deutschen für ihre Solidarität in den Finanzkrise jetzt gerade ausdrücklich gedankt hat. Allerdings habe ich, weil Deutschland nach den Parlamentswahlen im Herbst 2017 nicht gleich eine Regierung bilden kann, auch erschrockene Stimmen aus dem Ausland gehört. Dort betrachten Viele Deutschlands Schwäche mit grösserer Sorge als Deutschlands Stärke. Mag es manchmal auch mit Skepsis sein. Ohne Deutschland entsteht jedenfalls ein Machtvakuum, es entsteht auch ein Gestaltungsdefizit. Denn ohne Deutschland kommen wichtige Entscheidungen ins Stocken, angefangen von Verträgen zum Brexit über den Klimawandel bis zu den Ukraine-Verhandlungen. Es wäre geradezu paradox sich vorzustellen, dass ein starkes Europa auf der Basis eines schwachen Deutschlands existieren könnte. Eines aber dürfte ein Axiom deutscher Europapolitik bleiben: Ganz im Sinne von Winston Churchill wird jede deutsche Regierung Führung in Europa nur in enger Partnerschaft mit Frankreich verwirklichen wollen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal zur Europäischen Union zurückkommen. Was ich vermisse, das ist ein stärker strategisch ausgerichtetes Denken, das heisst ein Bezugsrahmen, an dem sich politisches Eingreifen ausrichten und messen lässt – für alle unsere Mitgliedsländer. Was wir brauchen, sind neue Vorstellungen von Optionen und Ideen, vor allem über mittel- und langfristige Ordnungskonzepte:

  • Wie sieht Europas Ordnung aus, wenn die USA sich tatsächlich aus ihrer globalen Verantwortung zurückziehen und militärisches Engagement begrenzen?
  • Welche Strategie entwickelt Europa angesichts zunehmender chinesischer Bemühungen um Einfluss, auch in Europa?
  • Welche Rolle sollte Europa angesichts der Konflikte im Nahen Osten einnehmen?
  • Wie kann es Europa gelingen, eine überzeugende Afrikapolitik zu entwickeln?
  • Und – ganz wichtig: Wie können wir in Zeiten einer technologischen Revolution eine digitale Agenda entwerfen, die zukunftsfähig ist? Werden wir Opfer oder Gestalter in einem Prozess, der wahrscheinlich so umfassend ist, dass er unser ganzes Bild vom Menschen verändern wird?

Wir brauchen ein neues Bewusstsein vom Wert des geeinten Europa. Die hoffnungsvollen Stimmungen und die frühe Euphorie der frühen Vereinigungsjahre lassen sich nicht wieder aufrufen. Aber es könnte so etwas wie ein gereiftes Vertrauen entstehen – gewachsen aus den positiven Erfahrungen aller Nationen, gleichgültig, ob sie früher oder später beigetreten sind:
Was sind diese Erfahrungen? Es war der Wachstum von Wohlstand, von demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten und von rechtsstaatlichen Mechanismen. Selbst wenn uns heutige Probleme in Europa gross erscheinen, gilt es, etwas Einfaches wiederzuentdecken:

  • Allein hätten wir unsere früheren Probleme wohl kaum bewältigt.
  • Allein stünden wir unseren aktuellen, ungelösten Problemen hilflos gegenüber.
  • Allein könnten wir macht- und einflusshungrigen Herrschern nicht standhalten.
  • Allein könnten wir unsere Sicherheit nicht garantieren, allein nicht zukunftssicher werden.

Und wem das alles als Basis für ein gereiftes Vertrauen nicht ausreicht, dem sei schlicht und einfach ein weiterer Grund genannt:

Europa hat gezeigt, dass es imstande ist, Krisen zu bewältigen, wenn es Entschlossenheit verbindet mit Flexibilität und Kompromissbereitschaft. Wir wollen es doch nicht vergessen: Europa hat etliche massive Krisensituationen gemeistert. Der alte Kontinent ist aufs Ganze gesehen von einer erstaunlichen Vitalität. Mag auch die grosse Vision fehlen, so zeigt Europa doch diese erstaunliche Überlebensfähigkeit.
Deshalb gilt auch in diesen Zeiten des Zweifels: Europa ist unsere Zukunft! "Let Europe arise again".