Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Laudatio auf Navid Kermani

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Joachim Gauck im Gespräch mit dem Preisträger Navid Kermani im Deutschen Theater in Göttingen

©Peter Heller

Austausch mit dem Preisträger Navid Kermani im Deutschen Theater in Göttingen

Laudatio bei der Verleihung des Samuel-Bogumił-Linde-Literaturpreises

03. Juni 2018, Göttingen

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort
.

Der Samuel-Bogumil-Linde Preis für Navid Kermani: selten wohl haben Preisträger und Namensgeber eines Preises so gut zueinander gepasst wie in diesem Fall.

Bei dem einen wie bei dem anderen handelt es sich um einen Immigranten: Samuel Bogumil Linde wurde 1771 als Kind schwedisch-deutscher Einwanderer in Polen geboren; Navid Kermani kam 1967 als Kind iranischer Einwanderer in Deutschland zur Welt.

Beide erwarben sich große Verdienste in einer Sprache und Kultur, in die sie erst hineinwuchsen: Linde, der seine Ausbildung auf dem evangelischen Gymnasium von Thorn erhielt und gutes Polnisch erst während seiner Studienzeit in Leipzig lernte, schenkte den Polen ein bahnbrechendes sechsbändiges Wörterbuch der polnischen Sprache – das erste wissenschaftliche Werk dieser Art in Polen, das bis heute eine unerlässliche Quelle für Historiker und Literaturwissenschaftler blieb. Und Navid Kermani, der aufwuchs in der muslimisch-persisch geprägten Tradition seines Elternhauses und später Islamwissenschaft studierte, beschäftigt sich in seinen Essays, Reden und Büchern wesentlich mit deutscher Philosophie, Literatur und Politik sowie mit Veröffentlichungen zu christlicher Religion und Kunst.

Jedenfalls denke ich: Der deutsch-polnische Samuel Bogumil Linde hätte für den deutsch-iranischen Navid Kermani ein Wahlverwandter sein können, ein Bruder im Geiste. Ich bin sicher, lieber Navid Kermani, Sie hätten hervorragend mit ihm darüber diskutieren können, wie befruchtend, aber auch wie spannungsgeladen es ist, wenn man sich zwischen verschiedenen Kulturen und verschiedenen Loyalitäten bewegt, und wie wunderbar frei und reich es sich anfühlt, wenn man sich nicht auf eine von mehreren Möglichkeiten festlegen muss. "Ich habe – so auch ihre Erfahrung – das anmaßende Gefühl, meinen Freunden ... etwas voraus gehabt zu haben. Ich brauchte niemals die Aufklärung darüber, dass das, was ist, nicht alles ist."

Ich selbst bin, wie Sie wissen, in einem Staat aufgewachsen, in dem Vielfalt, welcher Art auch immer, nicht erwünscht war. Entsprechend wurden Fremde möglichst in eigenen Wohnheimen untergebracht, der Kontakt zu uns Einheimischen war nicht erwünscht. Wie alle ehemaligen Bewohner der DDR bin ich daher mit einem Deutschland von vielen Ethnien und Kulturen erst im Zuge der Wiedervereinigung konfrontiert worden. Und ich gestehe, dass mir Ihre Texte, Herr Kermani, einige Jahre später eine große Hilfe waren, mich in einem Einwanderungsland zurechtzufinden, das nicht nur viele, sondern mit den Muslimen auch viele fremde Menschen aufgenommen hatte, deren Sprachen, Sitten und Religionen uns unvertraut waren und nicht selten auch Abwehr auslösten.

Für Sie, Navid Kermani, gibt es von Kindheit an das Gefühl, zwischen den unterschiedlichen Milieus, Sprachen und Kulturen wechseln, drinnen und draußen sein zu können. Die verschiedenen Welten schließen sich für Sie nicht aus, sie existieren vielmehr nebeneinander und durchdringen sich nicht selten. So haben Sie sich zu den Traditionen des Elternhauses bekannt, ohne sich gegenüber den Einheimischen abzuschotten. Fremdheit, als sie Ihnen erstmals im Fußballklub gegenüber den Kindern einer ärmeren sozialen Schicht bewusst wurde, überwanden Sie einfach durch Kontakt – indem Sie auch jene besuchten, deren Eltern keinen Mercedes, sondern einen Opel fuhren.

Bewusst herbeigeführte Grenzüberschreitungen haben Ihr Leben oft geprägt, im Großen wie im Kleinen, im ganz gewöhnlichen Alltag ebenso wie in der Auseinandersetzung mit existentiellen, auch metaphysischen Fragen. Und mit einer erstaunlichen Offenheit, auf eine ebenso persönliche wie sachliche Weise haben Sie uns, den Leser, an dem Prozess teilhaben lassen, der Sie zu dem hat werden lassen, der Sie heute sind – ein Grenzgänger im kulturellen und religiösen Bereich, der, gerade weil er der einheimischen Mehrheitsbevölkerung oft so nah ist, ihr mit dem Blick von außen begegnet, als einer, der kritisch, aber doch wohlwollend spiegelt, was und wen er sieht. Nicht zu Unrecht zählte eine überregionale Zeitung Sie unlängst zu den einflussreichsten Intellektuellen in Deutschland.

"Entlang den Gräben" hieß Ihr letztes Buch über eine Reise von Deutschland ins persische Isfahan. "Entlang den Gräben" oder auch "Entlang den Grenzen" könnte als Leitlinie allerdings über all Ihren intellektuellen und emotionalen Erkundungen stehen. Ich denke, längst nicht jeder Mensch ist fähig und bereit, sich so dicht an Grenzen heranzuwagen, ja Grenzsituationen sogar zu suchen, wie Sie es tun. Man denke nur an die vielen, die in digitalen Echokammern Kontakt allein zu Gleichgesinnten suchen, bei denen sie Bestätigung erfahren und nicht das Risiko einer Verunsicherung oder gar Verstörung eingehen. Wer sich an Grenzen wagt, setzt sich zuweilen Gefahren aus. Vielleicht betrachtet ihn die andere Seite nicht als ihren Freund, vielleicht bedroht sie ihn sogar. Vielleicht gelingt es ihr umgekehrt aber auch, ihn zu verführen und über die Grenzlinie zu locken. In dem einen wie in dem anderen Fall braucht es dann Kraft – Kraft, sich weder klein machen und einschüchtern zu lassen noch der Faszination des Fremden zu erliegen und im Anderen aufzugehen.

So oder so: Wer sich in Grenzsituationen begibt, dem muss Freiheit mehr bedeuten als Sicherheit. Denn wer sich in Grenzsituationen begibt, wird anders aus ihnen herauskommen, als er in sie hineingegangen ist. Er kann sich verängstigter und skeptischer fühlen, mit weniger Vertrauen in Gott und die Welt, aber er kann umgekehrt auch reicher und freier werden, beschenkt mit Erfahrungen, die seine bisherige Welt erweitern, ihn vielleicht sogar über sich selbst hinausführen.

Und damit bin ich bei der Haltung angelangt, die sich meines Erachtens durch alle Ihre Texte zieht, unabhängig davon, ob Sie über den Koran schreiben, über Herder und Hebbel, ein Bild von Caravaggio oder über die besetzte Krim: Sie lassen sich ein. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Sie setzen sich aus.

Sie setzten sich aus, als Sie sich im italienischen Lucina in das Kreuzigungsbild von Guido Reni vertieften, obwohl Sie – wie Sie offen bekannten – Kreuzen gegenüber prinzipiell negativ eingestellt sind. Und sie riskierten damit, dass das Bild eine so berückende Ausstrahlung auf Sie gewann, dass Sie dachten – damals erstmals dachten – Sie könnten an ein Kreuz glauben.

Sie setzten sich aus, als Sie mit polnischen und weißrussischen Intellektuellen Gespräche über den Nationalstaat führten. Denn Sie, der linksliberale Westler, der im Nationalismus eine große Bedrohung für westliche Demokratien sieht, riskierten damit, Verständnis für Menschen zu entwickeln, die nach der sozialistischen Gleichmacherei ein Bedürfnis nach nationaler Selbstfindung, der Entwicklung nationalen Selbstbewusstseins und – nach Grenzen verspüren.

Sie setzten sich schließlich auch aus, als Sie das Konzentrationslager Auschwitz in einer deutschsprachigen Gruppe besuchten, obwohl Sie aus einer Einwandererfamilie stammen. Und Sie riskierten damit, dass Sie sich – ausgerechnet in Auschwitz – zugehörig zu Deutschland empfanden – nicht, so schrieben Sie, "durch Herkunft, durch blonde Haare, arisches Blut oder so einen Mist, sondern schlicht durch Sprache, damit durch die Kultur". Zugehörig fühlten Sie sich – auch das schrieben Sie – mehr zu den Tätern als zu den Opfern, da Sie sich in der deutschen Sprache beheimatet haben.

Ich gestehe: Ich habe selten ein ebenso eigenwilliges wie berührendes Bekenntnis zu unserem Land gehört.

Lieber Navid Kermani,

selbst wenn ich jeden Ihrer Texte und jedes Interview lesen würde, könnte ich mich Ihren Erfahrungen und Prägungen im besten Fall annähern: den Prägungen eines muslimischen Iraners, der sich in deutscher Kultur und Sprache beheimatet fühlt. Umgekehrt dürften Ihnen meine Erfahrungen und Prägungen auch nur begrenzt nachvollziehbar sein: die Prägungen eines protestantischen Deutschen, der den größten Teil seines Lebens in einer Diktatur verbracht hat. Und dennoch gibt es Dinge, die uns verbinden. Das dürfte nicht nur der Fußball sein, wo wir beide mit abgestiegenen Mannschaften leiden – Sie mit dem 1.FC Köln und ich mit Hansa Rostock. Ich denke, was uns eint, ist auch die Sorge um diese unsere Gesellschaft, die des Interesses und des Einsatzes ihrer Bürger bedarf, um plural und demokratisch zu bleiben.

Wir sind eine multiethnische Gesellschaft geworden, eine Gesellschaft, in der Menschen, die nicht gleich sind, die gleichen Rechte haben. Aber aus gleichen Rechten ergibt sich nicht automatisch das gleiche Gefühl von Zugehörigkeit und Loyalität gegenüber diesem unserem Land. Es gibt einige, die sich gar nicht zugehörig fühlen wollen, und es gibt andere, die für Fremde nicht offen sein wollen. Aber an Tagen wie diesen, an denen Menschen polnischer, iranischer und deutscher Herkunft zusammenfinden, um zu loben, was schon gelungen ist – an solchen Tagen will ich daran glauben, dass uns die Gemeinschaft der Verschiedenen gelingt!

Und Sie, lieber Navid Kermani, sind einer, der all seine Kräfte einsetzt, damit es gelingt. Ich sehe Sie wie einen Boten unter uns, der uns ein Angebot macht: Schaut auf euch mit meinen Augen und meinen Erfahrungen – und ihr werdet euch selbst neu sehen, und vielleicht neu verstehen lernen.

Und: Schaut mit meinen Augen und mit meinen Erfahrungen auf das, was euch fremd ist – und ihr werdet es neu sehen und vielleicht neu verstehen lernen.

Dafür sagen wir Ihnen heute von ganzem Herzen Dank.