Preisverleihung der Carlo-Schmid-Stiftung
03. Februar 2018, Mannheim
Rede von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck
Die Reden, die ich gehört habe, unter anderem mit zwei wirklich neuen Gedanken in Bezug auf meine Person, die ich eigentlich schon zu kennen dachte, haben mich in eine äußert schwere Versuchung gebracht. Nämlich die, einer meiner Lieblingsbeschäftigungen zu folgen, nämlich der freien Rede zu frönen. Das ist aber gefährlich, denn dann findet des Lobens und Erwägens kein Ende. Und deshalb unterziehe ich mich hier einer für mich schwierigen Aufgabe, eine vorbereite Rede zu halten.
Meine Damen und Herren,
natürlich beginne ich mit Dank. Lieber Herr Mosdorf, Ihnen und den Frauen und Männern, die sich seit vielen Jahren darüber Gedanken machen, unsere Demokratie zu stärken, danke ich dafür, dass es mich trifft, das ehrt mich. Ich bin auch dankbar Ihnen dreien, die Sie sich über unsere Demokratie, über Carlo Schmid und über Joachim Gauck Gedanken gemacht haben. Und wenn ich doch eins – bevor ich einsteige in meinen Text – aufnehmen möchte, lieber Herr Nida-Rümelin, dann ist es natürlich schön, wenn man erkannt wird und nicht nur zufällig, sondern durch eine intensive geistige Begegnung. Und in der Tat ist es so, das zu dem Herzensanliegen, mit vollster Überzeugung und nicht nur mit einem "ja, aber" zu dieser Demokratie zu stehen, noch etwas hinzukommt: einer schon demokratieerprobten Westnation noch einmal mit einem anderen Blick den Wert ihrer eigenen Werte zu erklären. Das ist einer der Gründe, warum merkwürdigerweise aus meiner Perspektive das ganze Gefüge, dessen Mängel wir so oft und häufig beschreiben, noch einmal zu leuchten beginnen kann. Und darum brauchen wir manchmal das Zurücktreten aus einer eingebundenen Situation, um uns dann noch einmal anzuschauen, wie von einem Berg, woran so viele unterschiedliche Menschen mitgewirkt haben. Und dann, wenn wir das tun, dann soll eine andere Fähigkeit des menschlichen Geistes dazu treten, das ist die des Vergleichens. Walter Rathenau hat einmal vergleichen als denken bezeichnet. Und dieser Vergleich führt uns in aller Regel zu der Wirklichkeit, in der wir leben und entfernt uns von den Höhen unserer Visionen und Träume und idealistischen Wünsche. Und indem wir das Vergleichbare mit dem Vergleichbaren vergleichen, also auch unsere Demokratie, unser Land, unsere Kultur, erkennen wir, dass eine wunderbare, ganz zauberhafte und merkwürdige, grundsätzliche Veränderung mit diesem Land geschehen ist. Von der absoluten Tiefe und moralischen Verworfenheit, zu einer Vorbildrolle für viele, sehr viele Nationen und Gesellschaften, die zeitgleich mit uns leben. Ich hätte nicht gedacht, als ich im Krieg geboren wurde und die Diktatur erlebte bis zum 50. Lebensjahr, ein Deutschland in dieser Verfasstheit zu erleben – mit Rechtsstaat, Demokratie und Kultur. Und Sie, meine Damen und Herren, Sie hier in Mannheim, haben das gemacht. Sie haben daran mitgewirkt. Und ich wünsche mir und möchte, dass uns das bewusst wird. Genauso tief bewusst, wie der tiefe Fall. Dieses wunderbare Wiedererwachen von Menschlichkeit, Humanität und Rechtlichkeit. Das ist ein Demokratiewunder. Wir sind nicht nur das Land des Wirtschaftswunders, sondern des Demokratiewunders. Und wenn wir das nicht glauben können, dann "gute Nacht Marie"!
Natürlich kehre ich zu Beginn bei Carlo Schmid ein, das gebietet schon der Respekt. Natürlich kannte ich ihn damals als junger Mensch, jedenfalls als ich anfing politisch zu denken. Ich war damals elf Jahre alt, als ich gezwungen wurde politisch zu denken. Als ich dann zur Oberschule ging, war es gang und gäbe bei uns, bei der Mehrheit der Oberschüler, dass wir den Westrundfunk verfolgten. Wir kannten in der Regel alle Namen der Bonner Kabinettsmitglieder, wir kannten selbstverständlich die Bundespräsidenten und Carlo Schmid war eine große Ehrfurcht gebietende Person, deren Bildungshorizont uns begeisterte angesichts auch der Politiker, die wir hatten. Wenn man noch mal genau sich in sein Leben vertieft, dann sind da auch manche Dinge, da muss man schmunzeln. Etwa seine Überlegungen, nach dem Ende des Krieges 1945 ein wanderndes Kabarett zu gründen. Dann aber kam die französische Militärverwaltung und hatte besseres mit ihm vor. Er trat der SPD bei und seine Rolle bei der Schaffung des Grundgesetzes ist bereits gewürdigt worden. Was mir an ihm besonders gefällt, ist das, was in meinen protestantischen Milieus, aus denen ich stamme, häufig nicht zu finden ist, dass eine intensive Verbindung von Demokratievorstellungen mit der Dimension des Rechtes erfolgt ist. Die Existenz eines unabhängigen Rechtssystems und des Rechtsstaates ist wirklich DIE GARANTIE für die Zukunft von Demokratie.
Es gefällt mir auch, dass er trotz seiner zahlreichen politischen Aufgaben, die er hatte, seine künstlerische Ader nicht aufgegeben hat. Und sich dann zwischendurch– vielleicht in Ausschusssitzungen des Bundestages –an Liebesgedichten versuchte oder die Übersetzung von Lyrik Sapphos aus der Antike ins heutige Deutsch vornahm. Das bringt uns den Menschen näher und ich habe mich gefreut, als ich das gelesen habe.
Jetzt werden Sie mir nicht übel nehmen, denn dieser Preis verbindet sich ja mit Rechtsstaats- und Demokratievorstellungen, dass ich mir Gedanken mache über den Zustand der Demokratie und darüber möchte ich mit Ihnen ein wenig nachdenken. Wir haben umfängliche Entwicklungen gehabt, Demokratie und Rechtsstaat voranzubringen. Und gleichzeitig, wenn ich jetzt geehrt wurde auch für meine Bemühungen dies zu tun, beschleicht mich fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Nicht weil ich mich – wie wahrscheinlich viele hier im Saal – nicht den liberal-demokratischen-humanistischen Idealen Carlo Schmids verpflichtet sehen würde – denen sehe ich mich natürlich verpflichtet - sondern das schlechte Gewissen könnte entstehen mit einem Blick auf das, was wir in den vergangenen Jahren in der politischen Kultur Europas erlebt haben. Dass etwa die politisch-liberale Kultur nicht nur von außen, sondern auch von Figuren innerhalb der Europäischen Union kritisch gesehen und manchmal sogar in Frage gestellt wird. Und dann muss sich jeder fragen: nehme ich den Prozess wahr und agiere ich entsprechend, wenn solche Bedrohungen auftauchen?
Was heute nahezu Jeder und Jedem klar vor Augen steht, dass die Demokratie, die Freiheit, die Liberalität von vielen Seiten in Frage gestellt wird, ja sogar bedroht wird, das hat schon eine längere Vorgeschichte. Die Organisation "Freedom House", die seit 1971 jährlich den Stand der politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten untersucht, die sagt uns, dass sie im elften Jahr nacheinander Rückschritte bei den Standards in Bezug auf die sogenannten Werte sieht. Das Neue sei nun, dass nicht nur in Autokratien und Diktaturen sich die Situation verschlechtert hätte, sondern auch in westlichen, demokratischen Ländern.
Mit Sorge und Irritation also blicken wir auf die Entwicklung in verschiedenen Staaten, insbesondere in Richtung Vereinigte Staaten, deren Freiheitstradition ich doch immer bewundert habe. Und wenn ich dann feststelle, dass im Weißen Haus gerade ein Präsident sitzt und regiert, dem die rechtsstaatlichen Prinzipien aus den Händen gleiten, dann ist das mehr als Beunruhigung, was mich umfängt.
Aber beunruhigt bin ich auch, wenn ich in einige Gebiete der Europäischen Union schaue. Traditionelle Volksparteien verzeichnen zum Teil einen enormen Vertrauensverlust. Es geht in Deutschland noch, obwohl hier auch viel geklagt wird, dass es mit der Rolle der Parteien abwärts geht. Aber wenn wir uns einmal das Schicksal der wirklich über Jahrzehnte dominierenden Sozialisten in unserem Nachbarland Frankreich anschauen, dann kann man, selbst wenn man ein Gegner von Sozialisten ist, sich nicht darüber freuen. Denn wenn eine gestaltende Kraft plötzlich zerlegt wird und das Neue nur in Ansätzen oder auch gar nicht sichtbar wird, dann ist das ein Problem für die Demokratie. Natürlich gibt es, ich habe eben Frankreich angesprochen, dann auch neue Sammlungsbewegungen, die uns erfreuen. Wenn "En Marche" es zum Beispiel plötzlich schafft zu einer gestaltenden politischen Kraft zu werden, die die Probleme klar darstellt – im Gegensatz zu manchen anderen Ad-hoc-Gruppierungen, die hier und da mal wieder entstehen und mehr Wut auf die Tagesordnung bringen als Programmatik. Dann ist das etwas, was man nicht gleich fürchten muss. Aber es steht noch in den Sternen, was passiert, wenn sich der Erosionsprozess der tradierten Parteien weiter fortsetzen sollte. Das können wir uns nicht wünschen.
Wir sehen nun daneben, dass es auch Parteien gibt, nämlich mit linksextremistischen oder rechtsextremistischen oder linkspopulistischem und rechtspopulistischem Profil. Oder wir blicken in Länder, deren Freiheitskampf wir begeistert verfolgt haben: Ungarn und Polen. Dann hören wir von maßgeblichen Politikern dort, dass es darum ginge eine "illiberale Demokratie" hervorzurufen, die etwas leichter und besser funktionieren würde als unsere liberale Demokratie. Und wenn wir uns anschauen, wie sie das machen, dann spüren wir, dass bei der Gewaltenteilung, bei der Rolle des Rechtsstaats oder bei der Sicherung von Grundrechten, wie Meinungs- und Pressefreiheit, erste Abbrüche und Eingriffe erfolgen. Und die kann Europa nicht einfach übersehen, sondern da müssen wir hinschauen.
Bei uns in Deutschland haben wir nun etwas nachgeholt, was überall, sogar in absoluten Musterdemokratien wie der Schweiz oder in Skandinavien seit langem passiert ist. Es gibt politische Eliten, die sich mit nationalen aber auch nationalistischen, populistischen, völkischen Tönen hervorwagen. Das ist für uns Deutsche gewöhnungsbedürftig. Wir sollten nicht gleich die Zustände der Weimarer Republik an die Wand malen; die haben wir nicht, denn wir haben viel mehr Demokraten, viel sicherere Institutionen. Aber wir fürchten natürlich eine Entwicklung in der die bisherige Sicherheit, das "JA" großer Mehrheiten zu dieser liberalen Demokratie feststand, dass diese Sicherheit uns abhandenkommt. Und dann entstehen Angstprozesse und Angstströmungen in der Gesellschaft, die selten Gutes bewirken. Eine Politik, die sich nur auf Ängste stützt und angstgetrieben ist, ist keine aufklärerische Politik. Und das muss uns wiederum Angst machen. Wir sind unsanft erinnert worden daran, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat in ihrem Bestand eben nie ein- für allemal gesichert sind. Und dass sie nicht automatisch zu immer höherer Blüte gelangen. All diese Errungenschaften, sie können sich auch zurückentwickeln.
Wenn Karl Popper einst die Demokratie deshalb rühmte, weil sie im Unterschied zu Diktaturen und Autokratien den großen Vorteil habe, dass man die Regierungen völlig gewaltfrei absetzen könne, so müssen wir ehrlicherweise heute hinzufügen, dass die Demokratien auch den Nachteil haben, dass sie sich eigenhändig und eigenständig ganz selbstständig ohne Gewalt auch abschaffen können.
Und da sprechen die älteren Deutschen aus eigener Erfahrung. Ich aus einer sehr speziellen: Freiheit und Demokratie waren einst Sehnsuchtsziele für alle Menschen die in Unfreiheit und Unterdrückung lebten. Und ich spreche ebenfalls aus eigener Erfahrung, wenn ich hinzufüge: Aber die Freiheit der Moderne, die den Menschen aus seiner fest umrissenen Rolle in alten Gesellschaften löst, schenkt ihm nicht allein Freiheit und Unabhängigkeit, wovon er geträumt hat, sondern sie beraubt ihn auch einer Vertrautheit, einer Lebenssituation der Eingebundenheit, die ihm irgendwie Form gab; die vielen Halt, manchen Gegnerschaft bot, aber dadurch auch klare Definition. Es war ein Dasein in Eingebundenheit. Und die politische Moderne mutet dem Bürger nun einiges zu. In der Unterdrückung leuchtete für die Osteuropäer in der kommunistischen Diktatur diese offene Gesellschaft der Freiheit, der gleichen Rechte aller. Das wollten wir auch. Und deshalb wollten wir Europa. Und dann gingen wir auf die Straße, weil wir dies wollten. Ich kann mich noch genau erinnern, weil ich unter ihnen war in meiner Heimatstadt Rostock, wo ich Sprecher der Bürgerbewegung war. Und schneller als wir erhoffen und als wir erwarten konnten, kam sie dann, die ersehnte Freiheit. Und als sie kam – ich bin jetzt mal ganz grob –, war die eine Hälfte völlig begeistert und so motiviert, dass sie sofort Abgeordnete im Gemeinderat, im Landtag, im Parlament wurden, dass sie Bürgermeister wurden, dass sie kleine Geschäfte aufmachten, dass sie neue Publikationen eröffneten. Dass sie sofort in die Aktivität gingen. Aber dann gab es noch eine andere Hälfte. Und diese andere Hälfte fand sich in der Freiheit wieder, aber nicht an einem Sehnsuchtsort angekommen, sondern an einer Stelle, an einem Ort, die irgendwie Angst machte, abschreckte; "Jetzt müssen wir ja für uns selber sorgen."
Václav Havel hat diese Situation in einer berühmten Rede mit folgender Situation verglichen: Eines Tages werden die Insassen eines Gefängnisses alle befreit. Endlich sind sie frei, sie laufen auf die Straße, jubeln, heben einen und fühlen sich wohl. Aber am nächsten Tage fragen sie sich, wer jetzt das Essen besorgt und wie sie zu ihren Lebensmitteln gelangen sollen, ob sie Arbeit haben oder nicht. Und dann fangen sie an: Im Gefängnis war es ja nicht schön, aber es ging ordentlich zu und wir kannten den Platz, an den wir hingehörten. Ich weiß nicht, ob alle Leute, ob alle seine tschechischen Landsleute diese Rede gerne gehört haben. Aber es war mit Händen zu greifen, diese Sorge davor – philosophisch gesprochen: sind wir dazu Imstande, das zu leben, was in uns hineingelegt worden ist.
Die Freiheit als Sehnsuchtsort ist etwas anderes, als die Freiheit, in der wir uns in der Form der Freiheit zu etwas und für etwas zu bewähren haben.
Und das ist nun dieses Dilemma, das alle Gesellschaften vorfinden, die sich in einem Transformationsprozess befinden. Das hat gar nichts mit Kommunismus zu tun, sondern jede Art von totalitäre, autoritäre Herrschaft evoziert ein angepasstes Verhalten der Mehrheit der jeweiligen Gesellschaft. Wenn du in einer Gesellschaft dafür belohnt wirst, dass du dich fürchtest und ganz schnell anpasst, dann wirst du eine Gesellschaft haben nach ein bis zwei Generationen, in der es ganz uralte Verhaltensmuster des Gehorsams gibt. Und darum haben viele dieser Transformationsgesellschaften dieses Gefühl, die Welt sei dann in Ordnung, wenn Ordnung herrsche, wenn es ein klares Oben und Unten gibt, klare Ansagen gemacht werden und ich weiß, wofür ich vorgesehen bin. Dann darf ich auch ruhig mal opponieren, aber es muss alles seine Ordnung haben. Und diese Ordnung enthält nicht immer für einen Teil der Bevölkerung dieses "Ja" zur Autonomie, die wir heute in der Laudatio gehört haben, die in uns Menschen als Möglichkeit hineingelegt worden ist. Wir fürchten uns - so gesehen - vor einem wesentlichen und wunderbaren Teil der in uns lebt. Psychologen wissen darüber mehr als Soziologen und Politologen.
Und in diesem Zusammenhang erwähne ich Erich Fromm, der in seinem berühmten Buch nach dem Kriege über die "Furcht vor der Freiheit" und die "Flucht aus der Freiheit" geschrieben hat, als eine anthropologische Konstante. Wenn wir uns jetzt einmal diese Grundlagen der menschlichen Psyche anschauen, mit diesen Gesellschaftssituationen der Transformation, die in vielen neuen Nationen Mittel- und Osteuropas seit 20 Jahren zu erfolgen hat, dann können wir uns eigentlich nicht wundern, dass auf die Angstreaktion derer, die sich vor der Freiheit fürchten, populistische Verführer antworten, die sagen: "na, haben wir euch doch immer gesagt, diese Moderne, sie taugt nichts! Das sind ja ganz merkwürdige Werte. Was kommt da auf uns zu aus dem Westen? Also die Partikularinteressen von gewissen Minderheiten, sexueller Orientierungen oder was weiß ich, sind plötzlich ganz wichtig. Oder sollen wir uns jetzt dauernd mit dem Klima beschäftigen? Was ist denn mit unseren Betrieben?" Und dann entsteht diese Unsicherheit. Die Menschen fragen sich: "Ist das denn richtig? Haben wir uns nach der falschen Sache gesehnt?" Die Populisten sagen dann: "Nein, es ist alles falsch. Es ist alles viel zu entgrenzt." Sie tun so, als könnte man die Globalisierung zurückdrängen, als könnte man die Mobilität stoppen, als könnte man den freien Fluss des Geistes international eingrenzen. Und sagen: na dann schauen wir mal auf die Form, die es immer gegeben hat, die Nation. Sie behaupten es habe die Nation immer gegeben und trösten damit die Menschen. Sie sagen: "Kommt her, wir sagen euch wie es ist, früher war es überschaubarer und schöner, früher waren wir beheimatet." Es kann sein, dass in alten oder vormodernen Zeiten es Beheimatungsgefühle gegeben hat, die will ich jetzt nicht im Einzelnen aufzählen, die wir heute vermissen. Daher gehört es zu den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft, nicht den populistischen Verführern nachzulaufen, sondern eine Beheimatungsstrategie zu entwickeln, die zu unserer politischen Moderne passt. Auch die Aufgeklärten dürfen Beheimatung wollen und müssen nicht von einer Idealvorstellung ausgehen, dass die Menschheit erst dann gerettet ist, wenn alle Bewohner unterschiedlicher Kulturkreise miteinander das Ideal haben, kosmopolitische Weltbürger zu sein, die mit den basalen Menschen- und Bürgerrechten zufrieden sind. Und die nichts weiter bedürfen.
Ich möchte also, dass diejenigen, die politisch aktiv sind und die Verantwortung tragen, sich auch manchmal einer ernsten Selbstprüfung unterziehen. Und das betrifft auch uns, die wir im Grunde in einer modernen liberalen Form von Demokratie à la Carlo Schmid gearbeitet haben und arbeiten. Wir dürfen uns auch manchmal selbst befragen, ob die Art und Weise, wie wir unsere Demokratie zu sichern trachten, immer hilfreich und nützlich war. Wir brauchen also das Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure in der Zivilgesellschaft, seien es die Parteien und die politisch Verantwortlichen, aber auch die Gewerkschaften, andere Gruppen, Mediennetzwerke und NGOs, die in der ganzen Bandbreite beteiligt werden müssen an dieser Beheimatungsstrategie in der politischen Moderne. Wir brauchen nicht das Verbleiben in unseren jeweiligen Echokammern, sondern wir brauchen eine Erweiterung unserer Dialogfähigkeit. Und vor allen Dingen brauchen wir Mut, dass wir nicht dann, wenn wir neue Begriffe im politischen Diskurs hören oder einer neuen Aggressivität begegnen, gleich denken, wir hätten schon verloren. Denn da sollten wir uns einmal anschauen mit welchen Argumenten, mit welchen Zielvorstellungen populistische Akteure auf den Plan treten. Wo sind denn die Ziele für die Generationen unserer Enkel und Urenkel? Wo sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie imstande wären umzusetzen? Wenn Sie etwas den europäischen Einigungsprozess zurückführen wollen oder wenn Sie den globalen Handel oder den Austausch der Wissenschaftler, das Miteinander unterschiedlicher Kulturen unterbinden wollen.
Und ich möchte, dass wir bei dieser Selbstprüfung auch noch ein Phänomen ansprechen, das die meisten von uns in der ganzen Tragweite vielleicht erst nach den Präsidentenwahlen in den USA bemerkt haben.
Wenn wir die Analysen lesen nach der Trump-Wahl:
Zwei Drittel der weißen Arbeiter und vier Fünftel der weißen Evangelikalen haben für Trump gestimmt. Und zwar, weil die Themen, die die urbanen demokratischen Eliten gesetzt hatten, Etwa Ökologie, Klimawandel, die Interessen sexueller Identitäten oder was sie an den Ostküsten-Unis für politische Korrektheit halten, all dies empfanden diese als unerheblich oder sogar als bedrohlich. Es spielte keine oder nur eine äußerst geringe Rolle, denn wir haben es gelesen, im sogenannten Rust Belt waren ganze Industriezweige verkommen und es gab Menschen, die am existentiellen Abgrund standen, die keinerlei Zukunftsperspektive hatten und die vielleicht auch recht traditionellen Wertvorstellungen verhaftet waren.
Bei uns in Europa mag das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Schichten zwar weniger ausgeprägt sein als in den Vereinigten Staaten. Ab und zu muss man sich dann, auch wenn man ein Liberaler ist, auf dieses Grundmodell des Sozialstaates einlassen, übrigens auch verankert in unserem Grundgesetz. Wenn wir Amerika anschauen oder auch Südamerika oder China oder Afrika, dann weiß man erst, was für ein Schatz das gewesen ist, als die politisch gestaltenden Kräfte hier die Soziale Marktwirtschaft, wie auch in Skandinavien, den Niederlanden, Österreich oder der Schweiz geschaffen haben. Das ist nicht nur ein ökonomisches Modell, das ist ein Modell der politischen Kultur und wir könnten jetzt einmal sehen, was unsere Vorgänger geschaffen hatten als sie dieses Modell ins Leben gerufen und gesichert haben. Wir sehen das jedenfalls ganz deutlich, wenn wir uns mit Amerika und der dortigen Wählerschaft vergleichen. Aber, was mir dabei aufgefallen ist, ist das uns auch ein Thema gesetzt ist mit der Trump-Wahl. Es ist wichtig, dass wir neu begreifen, dass wir die gesamte Wählerschaft in den Blick nehmen müssen und dass wir die sozialen und kulturellen Interessen derer mit im Kopf, mit im Blick haben müssen, die nicht mit uns diskutieren. Nimmt das Gefühl der Bürger – oder sagen wir mal von Teilen der Bürger - zu, ignoriert zu sein oder gering geschätzt oder gar abgespeist zu werden – wenn das so ist, dass die das so fühlen, dann müssen wir etwas daran ändern. Vernachlässigt fühlen sich beispielsweise in so manchen Gemeinden die Einwohner, weil Fabriken in der Umgebung dicht gemacht haben, das letzte Geschäft ist geschlossen, vielfach auf dem Lande. Ich komme aus dem Nordosten Deutschlands und die Busverbindungen in die nächste Kreisstadt existieren dann nicht mehr und der nächste Arzt ist viele Kilometer entfernt. Das sind ganz handgreifliche Gründe, an denen man arbeiten kann. Es ist darauf zu achten, dass der Unterschied zwischen urbanen und ländlichen Räumen nicht zu groß wird.
Aber es gibt auch noch andere Dinge: Haben wir liberale Demokraten – ich meine liberal jetzt nicht im Sinne von Parteien sondern im Sinne von Carlo Schmid – uns ausreichend darum bemüht, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht einfach nebeneinander und schon gar nicht gegeneinander, sondern miteinander leben zu lassen? Tun die Befürworter der offenen Gesellschaft genug, um einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen zu schaffen, um so etwas wie ein Gefühl für das große Ganze bei allen im Blick zu behalten? Nun kommen wir zu etwas, das Unerlässlich ist, um das Ganze anzusprechen: man muss eine Sprache zur Verfügung haben, die alle verstehen können, die alle hören können. Wird denn überhaupt verstanden, was wir untereinander reden?
Wir müssen uns mal vorstellen, es gebe nicht eine im traditionellen Sinne bestehende Klassengesellschaft, sondern wir könnten uns einmal fragen, wenn wir über das Sich-Verständigen sprechen, wer nimmt daran teil? Natürlich wir, die wir wählen gehen, die in politischen Parteien sind, die ein politisches Amt haben, dann unsere Medien, die aufgeklärte Wissenschaft, Verbände, Vereine, organisierte Zivilgesellschaft – wunderbar, das funktioniert. Wir haben eine Sprache gefunden, mit der wir uns verständigen können. Aber dann gibt es Bereiche in der Gesellschaft, die diese Sprache gar nicht verstehen, die, wenn sie hier sitzen würden, denken würden: bin ich auf einem Mediziner-Kongress? Wo die Ärzte sich untereinander glänzend verstehen, nur wir Laien verstehen Bahnhof. Und da bin ich darauf gekommen, dass die Sprache der Politik oft so ist, dass wir so tun, als gebe es die gar nicht. Es gibt eine Personengruppe unter Journalisten, die schreiben Theaterkritiken, oder was in der Oper so läuft, wenn man das liest, weiß man genau: die schreiben dass, damit die Kollegen in den anderen Zeitungen sie gut verstehen und das toll finden. Ob das normale Publikum sie versteht, das ist zweitrangig. Aber sie selber machen sich dann einen Namen, wenn es besonders kompliziert ist und besonders tolle verstiegene Ideen dabei auf den Markt kommen.
Da habe ich mir gedacht: Politisch geht das aber nicht. Es kann ja sein, dass es für den einen oder anderen Politikwissenschaftler nützlich ist, so wunderbar "sophisticated" über sein Fach zu sprechen, dass er auffällt und möglicherweise einen Ruf an eine berühmte Uni bekommt. Das ist auch ok. Aber wollen wir, wenn es darum geht, uns miteinander über Grundlagen unseres politischen Lebens zu verständigen, auch so tun, als wollten wir alle berufen werden auf einen berühmten Lehrstuhl? Oder wollen wir mal so tun, als ob die Kneipe, in die wir nicht mehr gehen seit wir Akademiker sind, auch noch ein Ort wäre, wo wir einkehren könnten und wo wir uns verständlich machen könnten. Hätten wir nicht, wenn wir alle meinten und ein bindendes Band zwischen allen schaffen wollten, die Verpflichtung zu so etwas wie einer "erhellenden Vereinfachung"? Einer erschließenden, erhellenden Vereinfachung in unserer Sprache?
Nun denken Sie: Was ist jetzt mit ihm los? Er driftet ab, er wird Populist. Aber warum gehören die einfachen Worte und die einfache Sprache den Verführern? Denken Sie einmal an Ihre Universitätszeit, an Ihre Schulzeit, wenn Sie einem Künstler begegnet sind, der es verstanden hat, Sie als künstlerischen Laien so anzuziehen, so zu überzeugen, das Sie gesagt haben: Wow! Er hat Recht, wie schön! Und es gibt an jeder Uni, neben den unendlich vielen Forschern und Gelehrten, die in die Geheimnisse des Seins eindringen, sein sie mathematischer oder philosophischer Natur, immer Menschen, die können die hochkomplexen Dinge so sagen, dass wir als Laien erstens zuhören, zweitens gefangen genommen werden, von dem was sie sagen, weil unser Intellekt wie unser Herz angesprochen wird, und dann können wir zustimmen. Oder uns ermutigen lassen, uns einbinden und zusammenbringen lassen. Warum wollen wir diese kostbare Gabe, die Fähigkeit mit einfachen Worten Dinge zu erklären, warum wollen wir die vergeuden und rechts- oder linksaußen liegen lassen? Das gehört sich nicht. Wir brauchen nämlich alle Bürger. Natürlich gibt es immer welche, die wir nie erreichen werden. Keine Gesellschaft wird je perfekt sein. Aber wir müssen uns doch bemühen, möglichst viele einzubeziehen. Und deshalb gehört für mich, bei der Überprüfung unserer politischen Ziele auch die Überprüfung der Art und Weise, wie wir über unsere politischen Ziele sprechen, dazu.
Ich möchte, dass wir in unserer gegenwärtigen Debatte den Mut haben zu A: mehr Toleranz und B: zu mehr Offenheit und Deutlichkeit. Eine Gesellschaft, die gezeigt hat, dass ihre Rechtsordnung und die sie tragenden politischen Kräfte tolerant und human sind, die sich bereit erklärt hat Not abzuwenden, muss sich nicht fürchten, wenn über das Für und Wider bestimmter Politikansätze heftig debattiert wird. Wenn ich also auf der einen Seite ein Land erlebe, das geprägt ist von Humanität und Toleranz, muss dieses Land auf der anderen Seite nicht übertrieben ängstlich sein, wenn es heftige Worte, heftige politische Attacken hört. Die Tatsache, dass uns verschiedene Sorten von Populisten erschrecken, darf doch nicht dazu führen, dass wir mit einem sehr gesunden politischen, ökonomischen, rechtlichen Fundament aus lauter Schreck einfach davon laufen oder die Waffen strecken oder nicht mehr argumentieren. Ich verstehe es nicht: was haben denn diese unterschiedlichen Sorten von Verführern anzubieten gegenüber der Geschichte unseres demokratischen Rechtstaates, unseres Wohlfahrtstaates? Da geht es mir ähnlich, wie es früher mir bei den Kommunisten ging. Die Leute haben damals gemerkt, wenn man sich rechtzeitig fürchtet und den Kopf einzieht, dann kann man keinen auf den Deckel kriegen. Es war für mich, der ich immer mit Jugendlichen gearbeitet habe, ein einfaches Erziehungsziel, zunächst einmal zu sagen: Angst ist menschlich, kann ich verstehen aber schau doch erst mal aus der Haustür, ob da einer ist, der dir Angst macht. Schau doch erstmal, ob du wirkliche Gründe für Angst hast, bevor du deinen Angstmechanismus in den Gang setzt. Aber für viele von uns, das hängt auch mit den Prägungen aus der Kindheit zusammen, ist das frühzeitige und rechtzeitige und deutliche Benennen von Angst eine Form der Kultur. Und das halte ich für äußerst schlimm. Ich habe das daran gemerkt, dass das Gegenteil von Angst, nämlich Gewissheit, Freude, Gestaltungskraft in den intellektuellen Zirkeln, in denen ich verkehrte, eher negativ konnotiert war. Wenn du als dankbarer Zeitgenosse dich als Freund der Demokratie geoutet hast, galtst du vielen als leicht behämmert. "Er kann es ja nicht besser wissen, er kommt aus dem Osten, er weiß nicht, wie es in Wirklichkeit ist. In Wirklichkeit müssten wir vielmehr Angst haben, vielmehr besorgt sein." Das ist doch alles lächerlich, hat doch überhaupt keine realistische Grundlage. Sie, die Sie über Jahrzehnten dieses Land so sicher und rechtsstaatlich und sozial abgesichert haben, wie es noch niemals in der Deutschen Geschichte gewesen ist, Sie wollen sich Angst machen lassen von Leuten, die in ihrer ganzen politischen Geschichte weder links- noch rechtsaußen jemals irgendetwas hingestellt haben? Na soweit kann es ja wohl nicht gehen.
Meine Damen und Herren,
ich habe vorhin gesagt, wir müssen heftiger miteinander debattieren, davon geht die Welt nicht unter. Ein guter Bekannter von manchen hier, der britische Professor Timothy Garton Ash, hat mal gesagt: Wir brauchen einen robuste Zivilität. Wir sind ja so ein bisschen sorgfältig geworden mit unserer politischen Korrektheit. Das ist für mich jetzt nicht ganz einfach, denn der Bundespräsident ist ja die Inkarnation der politischen Gerechtigkeit – das soll er auch bleiben. Aber gleichzeitig soll er auch ein Antihysterikum sein und dazwischen bewegt sich einiges. Ich muss vielleicht nicht vor lauter Angst eine bestimmte Form der Vorstellung von Frauen und Männern soweit umsetzen, dass ich Gedichte von Wänden abkratze. Wer tolerant ist, muss sich nicht gleich fürchten, wenn es eine etwas deutlichere als die übliche Form der Auseinandersetzung gibt. Das schadet uns nicht. Denn wenn wir aus der Mitte der Gesellschaft Deutlichkeiten meiden, wird es ein Bonus für die, die Deutlichkeit benutzen in verführerischer Absicht. Haben wir das nötig? Natürlich nicht.
Und das gilt auch für Europa, wenn wir uns phasenweise mal nicht einig sind, weil wir unterschiedliche Entwicklungsepochen haben in der Mentalität der Westländer in Europa, die 60 Jahre lang Demokratie entwickelt haben und der Osteuropäer, die das gerade mal 25 Jahre lang getan haben. Da muss man nicht gleich aus den Latschen kippen, wenn die nicht dieselben Empfindungsmuster haben wie wir, wenn es um bestimmte auch humanitäre Ziele geht. Das ist unangenehm, weil sie unsere Werte mit unterschrieben haben beim Eintritt in die Europäische Union. Aber wir könnten auch den Faktor der Langsamkeit des Mentalitätswandels in Rechnung stellen, uns daran erinnern wie lange wir als Deutsche brauchten, um nach dem Krieg zu erkennen, dass wir nicht genauso sind wie die anderen, sondern das da ein riesen Problem von Schuld auf unserer Seele lastet und in unserer Geschichte lagert. Dass man dann irgendwie doch nach etwa einer Generation jedenfalls massenwirksam anfing das zu bearbeiten, obwohl Minderheiten das schon lange gesagt hatten.
Ich will nicht jede Form der wenig solidarischen Haltung einiger Mittelosteuropäischer Länder hier rechtfertigen. Aber ich will doch zu einer gewissen Gelassenheit aufrufen, die sich daraus speist, dass ich meine, dass die Debatten in 10, 20 Jahren in diesen Transformationsgesellschaften deutlich anders aussehen werden als heute. Und dass es klug wäre, sich auf solche unterschiedlichen Gegebenheiten auch politisch einzustellen.
Ich sagte eben, wir sollten so etwas wie eine robuste Zivilität nicht scheuen und uns auch vor einer gewissen Deutlichkeit der Sprache nicht fürchten, dass wir eine gewisse Gelassenheit entwickeln dürfen. Und: Die Europäische Union ist auch ein großes Zelt. Sie ist noch keine Einheitsgesellschaft, in der wir alle dieselben Gefühle haben oder dieselben Bedürfnisse, was Regelungsdichte betrifft.
Es gibt auch etwas, was mich in dieser Situation, in der nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in wunderbar vorbildlichen Ländern in Skandinavien, rechtspopulistische Parteien reüssieren – lange vor uns, stärker als bei uns – nicht wirklich Angst oder Sorge um die Entwicklung der Demokratie haben lässt. Das ist die Tatsache, dass viele Menschen trotz neuer Verunsicherung nicht einfach davonlaufen und die europäische Idee preisgeben. Sie denken über Europa nach, indem sie die europäische Einigungsidee aufrechterhalten. Vielleicht muss man die Einigung nicht forcieren. Man muss vielleicht nicht wie vor 10, 20 Jahren meinen, demnächst stünden die vereinigten Staaten Europas vor der Tür. Das können wir Weltbürger uns ja wünschen, aber das bekommen wir doch nicht hin ohne die Massen unserer Wahl-Bevölkerung. Und deshalb ist es ein Gebot der Vernunft, das Maß, das Tempo dieser europäischen Vereinigung gelegentlich einer Prüfung zu unterziehen. Es ist sehr schön, dass wir Bewegung erlebt haben, die neu zu Europa steht. Es hat uns auch hier in Deutschland unheimlich ermutigt, dass in Frankreich unter Präsident Macron das deutliche Ja zu Europa wieder hoch kam. Viele von uns haben ja nur auf den rechten Rand geschaut, auf Madame Le Pen und ihre Wählerschaften, die ja zum großen Teil Wählerschaften der alten Sozialdemokratie waren. Aber wir werden Europa nicht preisgeben, wir wollen das auch nicht, weil es unseren politischen Wünschen entgegengesetzt wäre sondern weil es auch ökonomisch unvernünftig wäre. Europa hat tatsächlich weit zügiger als bisher umzusetzen, was nur auf europäischer Ebene geregelt werden kann und es hat deutlicher Dinge zurückzugeben, die national in den Mitgliedstaaten effektiv geregelt werden können.
Und jetzt sind wir gerade in einer Situation, in der wir realistisch über Europa reden können. Zu Beginn meiner Amtszeit als Bundespräsident habe ich meine erste Europarede gehalten und habe gesagt: "Wir brauchen keine Bedenkenträger, wir brauchen Bannerträger!" Und wenn sie mich noch ein bisschen gelassen hätten, hätte ich aus dem Stand weg die Vereinigten Staaten von Europa gefordert, einfach weil ich so begeistert bin von der europäischen Idee. In meinem Klüngel, in meinen aufgeklärten Gesprächspartnerkreisen da hätte ich Beifall bekommen und gleichzeitig hätte ich nicht gemerkt, wie ein großer Teil meiner Gemeinde – ich war früher evangelischer Pastor – mir abhandengekommen wäre, denn soweit wollen sie dann doch nicht gehen.
Jetzt hören wir zu. Man kann zwar, wenn es um Demokratie geht mit Carlo Schmid sagen: "Wenn Europa werden soll, dann muss man aufs Ganze gehen."
Und dieses Ganze zu bewahren heißt, mit Augenmaß die Probleme und die Lösungsaufgaben, die wir haben, zu benennen, ein Problem ein Problem zu nennen und dann nach neuen Bündnissen zu suchen, um diese Probleme zu lösen.
In alledem wollen wir uns gegenseitig beistehen, ich nehme heute diese Auszeichnung als eine Ermutigung an, weiter das zu betreiben, was vielleicht langsamer als von mir erwünscht kommen wird, dieses in Freiheit und Einheit und Rechtsgleichheit verbundene gemeinsame Europa in einer Form von einer ganz liberalen Carlo Schmid’schen Freiheitlichkeit. Und bleibe dabei, wenn wir Freiheit verstehen als Verantwortung und wenn wir uns bewusst machen, dass der Name von Freiheit für Erwachsene Verantwortung lautet, dann haben wir diejenige Haltung, die uns jede Furcht nimmt und jedes Zutrauen, sollten wir es verloren haben, zurückgibt.
Ich danke Ihnen.