Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Rede Universität Wien

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Joachim Gauck am Rednerpult in der Aula der Universität Wien

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Rede in der Aula der Universität Wien

Teilnahme an einer Podiumsdiskussion der Universität Wien

15. Januar 2018, Wien, Österreich

"Demokratie - immer schwer, aber immer Zukunft"

 

Diesen Titel habe ich mir für meine heutige Rede ausgesucht und auch weil ich mir bewusst bin, dass zumindest der zweite Teil des Titels in augenblicklichen Zeiten umstritten ist: dass Demokratie nicht nur schwierig, kompliziert und mühsam ist, sondern auch zukunftsträchtig ist, weil – ja weil... Und das soll uns im Folgenden beschäftigen.

Der Blick auf die Realität stimmt nicht besonders optimistisch – jedenfalls jetzt. Jedenfalls, wenn ich das vergleiche mit der Zeit, als 1989/90 im Osten Deutschlands die Freiheit erkämpft wurde. Die Organisation "Freedom house", die seit 1971 jährlich den Stand politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten untersucht, sieht im elften Jahr in Folge globale Rückschritte. Anders als früher hat sich die Situation nicht nur in Autokratien oder Diktaturen verschlechtert – in Staaten wie China, Russland oder im Nahen Osten. Ein Abwärtstrend zeigt sich ebenfalls in westlich-demokratischen Ländern.

Überdies hat mich als überzeugten Transatlantiker und Bewunderer amerikanischer Freiheitstraditionen wenig so sehr irritiert wie der Ausgang der letzten Wahlen in den Vereinigten Staaten, der am Ende Donald Trump ins Weiße Haus brachte, einen Präsidenten, dem rechtsstaatliche Prinzipien offenbar nicht besonders am Herzen liegen.

Beunruhigung spüre ich aber auch beim Blick auf die Lage in der Europäischen Union. Traditionelle Volksparteien verzeichnen zum Teil einen enormen Vertrauensverlust und sie brechen bei Wahlen massiv ein. Gewinner sind Unterschiedliche. Manchmal sind es neuartige Sammlungsbewegungen wie die liberale "En Marche" in Frankreich, meistens aber Parteien mit nationalistischem oder rechts- und linkspopulistischem Profil, wie sie von Norwegen bis Italien und von den Niederlanden über Österreich bis Griechenland existieren.

Die Regierungsparteien in Ungarn und Polen propagieren sogar so etwas wie eine "illiberale Demokratie", in der Gewaltenteilung und Meinungs- und Versammlungsfreiheit in ihrer Bedeutung jedenfalls eingeschränkt werden.

Auch Deutschland blieb nicht verschont von der bedrückenden Entwicklung. In das Parlament zog eine populistische Partei ein, bei der sich Misstrauen gegen die politische Elite verbindet mit teilweise völkischen Tönen. Wenn Sie mich nun allerdings fragen, ob Deutschland, lange als Fels in der europäischen Brandung beschrieben, nun eine instabile Demokratie geworden sei, so kommt mein "Nein" so spontan wie überzeugt.

Zwar bilden die Bundestagswahl und die Formen der Auseinandersetzungen, die ihr vorausgegangen sind, eine Verschiebung der politischen Kräfte auch eine gewisse Verrohung der Auseinandersetzung in der öffentlichen Debatte, ganz besonders im Netz. Aber gleichzeitig spiegelt doch das neue Parlament die Vielzahl politischer Positionen repräsentativer wider als seine Vorgänger.
Ob es uns passt oder nicht: Deutschlands Demokratie umfasst mehr als die sozialdemokratisch-konservativ-liberale Mitte. Auch andere und neue Positionen gehören nun einmal zum politischen Spektrum.

Viele Bürger sind durch den Einzug populistischer und nationalistischer Parteien in europäische Parlamente allerdings unsanft daran erinnert worden: Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat sind in ihrem Bestand nie ein für allemal gesichert – und bauen sich mitnichten automatisch weiter aus. Alle diese Errungenschaften können sich zurückentwickeln und sie können sogar gefährdet sein – wie wir sehen, selbst in lange erprobten demokratischen Gesellschaften.

Wenn Karl Popper einst die Demokratie rühmte, weil sie im Unterschied zu Diktaturen und Autokratien den großen Vorteil hat, dass Regierungen gewaltfrei abgesetzt werden können, so müssen wir heute hinzufügen, dass die Demokratie auch den großen Nachteil hat, dass sie sich unter Umständen selbst gewaltfrei abschaffen kann. Mir ist noch in den Ohren, was Richard Holbrooke, der damalige US-Sondergesandter für den Balkan, vor den Wahlen 1996 in Bosnien-Herzegowina sagte, als nach Krieg und Gewalt wieder Frieden und Demokratie ins Land einziehen sollten: "Unterstellen wir", - sagte Holbrooke – "die Wahlen wären frei und fair. Doch die, die gewählt würden, wären Rassisten, Faschisten und Separatisten. Das ist das Dilemma."

Ja, das ist tatsächlich ein Dilemma, wenn undemokratische Politiker in freien Wahlen Mehrheiten erlangen – und aus neuerer Zeit könnte ich beispielsweise auf die Wahl der Muslimbrüder damals in Ägypten verweisen. Ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich sage: Freiheit und Demokratie sind Sehnsuchtsziele für Menschen in Unfreiheit und Unterdrückung. Und ich spreche ebenfalls aus eigener Erfahrung, wenn ich hinzufüge: Aber die Freiheit der Moderne, die den Menschen aus seiner fest umrissenen Rolle in der alten Gesellschaft löst, schenkt ihm nicht allein Freiheit und Unabhängigkeit, sie nimmt ihm auch Vertrautheit und damit Halt und Eingebundensein.

So wollten die Bürger in den kommunistischen Ländern Mittel- und Ostmitteleuropas das westliche, das demokratische, das freiheitliche Modell. Dieses Europa, das wollten sie. Sie gingen dafür auf die Straße und manche riskierten dafür sogar Gefängnis. Ich kann mich ganz genau daran erinnern, ich war unter diesen Menschen 1989 in meiner Heimatstadt Rostock. Doch dann kam sie, die heiß ersehnte Freiheit, und die Menschen kamen in der Demokratie an, aber dann fühlten sich nicht wenige überfordert oder gar einsam. Auch Václav Havel hat damals darauf hingewiesen und hat gesagt, das ist so als wenn Menschen, die lange im Gefängnis waren, plötzlich rauskommen. Dann sind sie auf der Straße, sie sind jetzt frei, aber keiner hat ihnen das Mittagessen hingestellt und keiner sagt, wie der Tagesablauf ist – und ja, was ist dann? Ja, dann ist die Freiheit da, aber auch Rat- und Hilflosigkeit. Eine Fülle von Möglichkeiten. Und man fürchtet sich vor der Verantwortung.

In diesem Zusammenhang habe ich schon oft auf Erich Fromm verwiesen, den Philosophen und Psychoanalytiker, aus Deutschland geflohen, der diese Phänomene bereits vor 75 Jahren zusammenfasste in dem Buch "Furcht vor der Freiheit". So heißt es jedenfalls in der deutschen Übersetzung. Er entdeckt diese Furcht vor der Freiheit als ein anthropologisches Kontinuum. Es wird immer da sein, und es ist nicht selbstverständlich zu löschen. Für manchen kann also der Sehnsuchtsort zu einem abschreckenden Ort werden, und tröstlich erscheinen ihm dann populistische Versprechungen, die ungefähr so lauten: "Fürchte dich nicht, es wird alles wie früher, wenn du uns folgst. Es wird überschaubar sein und vertraut – du musst auch nicht länger über Gebühr Verantwortung tragen und dein Leben nicht länger als gefahrvoll und unsicher in der Freiheit selbst gestalten." Tja, so kann die Verlockung, zurückzugehen in einen früheren Zeitraum, für die Psyche von Menschen, die sich fürchten vor der Freiheit, sogar etwas Tröstliches haben. In der Politik spielen nicht nur die politischen Kategorien eine Rolle, sondern eben auch immer die psychische Verfasstheit von Menschen. Und das bedenken wir oft nicht, wenn wir uns nur mit Themen und Thesen auseinandersetzen. Also, Demokraten sollten nicht der Versuchung erliegen, ihrerseits Angst als Mittel der Auseinandersetzung zu nutzen, aber sie sollten sich der Wirkung der Angst und der Ängste bewusst sein.

Wenn eine Gesellschaft schöpferisch und produktiv bleiben soll, ist Wandel unerlässlich. Um sich mit dem Wandel jedoch anzufreunden – sei er technologischer, wirtschaftlicher, kultureller oder politischer Art –, brauchen Menschen Zeit und Möglichkeiten der Einübung, um ihn, diesen Wandel, in ihr persönliches Leben zu integrieren. Veränderungen, die sich in einem ungesteuerten Prozess durchsetzen oder von außen aufgezwungen werden, können leicht zu Ohnmacht und Resignation, aber eben auch zu Wut und Aggression führen. Und dies geschieht besonders dann, wenn sich so vieles ändert und wenn es sich so schnell ändert wie heute.

Wir denken immer, mit diesen enormen Veränderungen, vor denen wir stehen etwa technologischer Art, mit den Herausforderungen, die die IT-Technik überhaupt für die Menschheit bringen wird, kommt ein Wandel des Menschenbildes auf uns zu. Wir denken, das sei eine völlig neue Erfahrung. Tatsächlich aber hat jede große technologische Innovation – oder jede große politische Umwälzung der Verhältnisse – ähnliche Sehnsüchte nach dem "Früher" ausgelöst und ähnliche Ängste vor dem "Jetzt" und vor der Zukunft. Aber wir leben jetzt und es erscheint uns als wären wir diejenigen, die zum ersten Mal in einer solchen Verunsicherung des eigenen Daseins stehen. Das ist ein Irrtum – aber es ist politisch wirksam, dieses Gefühl. Und das spüren wir überall. Und wir spüren es eben nicht nur in Europa, sondern wir spüren es in der ganzen Welt. Und nicht ohne Grund habe ich hier – es sollte keine persönliche Sottise sein – auf die Entwicklung in den vereinigten Staaten hingewiesen. Das ist doch wirklich etwas, was uns noch Jahrzehnte Grund zum Nachdenken liefern wird.

Ernüchterung über unsere liberale Demokratie hat sich in Teilen unserer Bevölkerung breitgemacht, Misstrauen auch gegenüber Regierungen und traditionellen Parteien, von denen sich viele Bürger nicht mehr vertreten sehen; Enttäuschung über ein System, das Bürgern weniger Einfluss einräumt, als diese erhofften und erwarteten.

Noch handelt es sich bei den meisten um Unzufriedene, um, so könnten wir sagen, "enttäuschte Demokraten" und nicht um "Feinde der Demokratie". So jedenfalls eine Studie der Bertelsmann-Stiftung von Mitte letzten Jahres in Deutschland. Die Chancen, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, stehen damit gar nicht schlecht.

Warum also fühlen sich Bürger bei der Vertretung ihrer Interessen, ihrer sozialen Sicherheit, ihrer kulturellen Beheimatung nur noch begrenzt oder einige auch gar nicht mehr in den bisherigen Strukturen und bei den bisherigen Politikern aufgehoben? Was hat denn so viel Verunsicherung ausgelöst? Ich denke, wer politisch aktiv ist und Verantwortung trägt, kommt um eine ernsthafte Selbstprüfung nicht herum.

Da ist zunächst das Zusammenspiel der Akteure, das sich in unserer Demokratie gravierend verändert hat. Vertraute Vermittler zwischen Bürgern und Regierung wie Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbände und Vereine haben an Bedeutung verloren. Medien, soziale Netzwerke und neue Vermittler wie NGOs hingegen, sie haben dazugewonnen an Bedeutung.

Durch das Internet hat sich die Spannbreite politischer Stellungnahmen zwar verbreitert. Da viele Nutzer allerdings in ihren Echokammern verbleiben, haben Dialogbereitschaft und -fähigkeit gleichzeitig nachgelassen.

Wie können nun diese, oft disparaten Stimmen zusammengeführt und systematisch in den politischen Willensbildungsprozess eingespeist werden? Zumal das Parlament, das traditionelle Organ der Volksvertretung in den demokratischen Nationalstaaten, als Diskussionsforum wie als Initiator wichtiger Projekte offenkundig an Einfluss eingebüßt hat.

Ich sage mal ein Beispiel dafür: da holte sich die Regierung das Parlamentsvotum zu wichtigen Beschlüssen wie der Abschaffung der Wehrpflicht, dem Atomausstieg oder der Aufnahme von Flüchtlingen erst post factum ein bzw. setzte die mehrheitliche Zustimmung der Abgeordneten stillschweigend voraus. Das kann sie ja tun, wenn sie weiß, wie die Mehrheitsverhältnisse sind, trotzdem ist es ein Symbol und wir sollten es betrachten. Lassen Sie mich bei der Selbstprüfung auch noch ein Phänomen ansprechen, das den meisten von uns in seiner ganzen Tragweite erst so recht nach den Präsidentenwahlen in den USA klar wurde.

Zwei Drittel der weißen Arbeiter und vier Fünftel der weißen Evangelikalen haben für Trump gestimmt: Weil die Themen, die die urbanen demokratischen Eliten gesetzt hatten, diesen Menschen unerheblich, befremdlich oder sogar bedrohlich erschienen sind. Ökologie, Klimawandel, die Interessen sexueller Identitäten und Minderheiten und politische Korrektheit, all dies spielte keine oder nur eine sehr geringe Rolle für denjenigen, der nach Auflösung ganzer Industriezweige am existentiellen Rand lebt, der über keine Zukunftsperspektive verfügt oder in traditionellen Wertvorstellungen verhaftet war.

Joachim Gauck spricht am Rednerpult vor Publikum an der Universität Wien

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In Europa mag das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Schichten zwar weniger ausgeprägt sein als in den Vereinigten Staaten. Jedenfalls ist das in unseren Regionen, den deutschsprachigen und skandinavischen Ländern ganz dezidiert so, aber auch in Europa stellt sich die Frage: Gelingt es der Politik, die verschiedenen Teile der Bevölkerung im Blick zu behalten und ihre unterschiedlichen sozialen und kulturellen Interessen zu berücksichtigen? Oder nimmt das Gefühl der Bürger – oder sagen wir mal von Teilen der Bürger - zu, ignoriert oder gering geschätzt oder gar abgespeist zu werden? Vernachlässigt fühlen sich beispielsweise in so manchen deutschen, besonders ostdeutschen Gemeinden die Einwohner, weil Fabriken in der Umgebung dicht gemacht haben, das letzte Geschäft und die letzte Gaststätte geschlossen wurden, kaum Busverbindungen in die Kreisstadt existieren und der nächste Arzt viele Kilometer entfernt ist. Der Unterschied zwischen manchen urbanen und ländlichen Regionen hat sich in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Demokratien vertieft, mancherorts ist es schon zu einem breiten Graben gekommen.

Schon traditionell von der Politik allein gelassen fühlen sich oftmals auch sozial schwächere Gruppen, deren Netzwerke eben nicht bis in Medien und Politik reichen und die über keine oder nur schwache Pressuregroups verfügen. Beispielsweise hören wir im Gesundheitswesen weit mehr von den Vorstellungen und Forderungen der deutschen Ärztekammern als von den Sorgen der Beschäftigten in den Krankenhäusern und in den Heimen – und das, obwohl Kranken- und Altenpflege in unserer immer älter werdenden Gesellschaft eine immer größere Rolle für immer mehr Menschen spielt.

Und wenn es stimmt, was von einigen Soziologen prognostiziert wird und sich bereits massiv andeutet, dann steuern wir auf eine weitere Form von Klassengesellschaft zu. Auf der einen Seite konstituiert sich gerade eine neue Mittelschicht aus hochqualifizierten, international vernetzten und polyglotten Menschen im Wissens- und Kulturbereich, deren Ziel eine individualistische, auf Selbstverwirklichung ausgerichtete Lebensführung ist, die sie in jedem beliebigen Land ihrer Wahl realisieren können.

Auf der anderen Seite bleibt eine neue Unterschicht aus gering oder gar nicht qualifizierten Menschen zurück, die im Bereich einfacher Dienstleistungen arbeiten, die arbeitslos sind oder Sozialhilfe empfangen, die an einen Ort gebunden sind bzw. sich an ihn gebunden fühlen und die nur selten mit Anerkennung rechnen können.

Noch wissen wir nicht, wie schnell und wie durchgängig eine derartige Struktur unsere Gesellschaften prägen kann und wird. Aber ein tiefgreifender Strukturwandel im digitalen Zeitalter, der ist doch inzwischen unumstritten.

Ich wiederhole also meine Frage: Ist die Politik, sind die liberalen Demokraten ausreichend darum bemüht, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht einfach nebeneinander und schon gar nicht gegeneinander, sondern miteinander leben zu lassen? Tut die Politik genug, tun die Demokraten der offenen Gesellschaft genug, um einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen zu schaffen und das große Ganze, das allen Gemeinsame, im Blick zu behalten? Und, das sei nur kurz angedeutet, benutzt sie denn überhaupt eine Sprache, die dort verstanden wird, wo die Menschen in prekären Verhältnissen leben? Ich habe in diesem Zusammenhang oftmals, jedenfalls in der letzten Zeit meiner Tätigkeit als Präsident eingefordert, müssten nicht die aufgeklärten Demokraten auch den Mut zu einer erhellenden Vereinfachung haben, um sich dort Gehör zu verschaffen, wo bisher keine Diskurslandschaft besteht? Müssen wir Vereinfachung immer als unseriöses und verlogenes Gebaren darstellen? Es ist möglich auch hochkomplexe Dinge so darzustellen, dass sie in die Köpfe derer gelangen, die nicht so intellektuell und so hochkomplex veranlagt sind. Das kann ich jetzt leider nicht vertiefen. Aber das Stichwort lautet "erhellende Vereinfachung".

Also: Tun wir, die Demokraten, genug, um die unerlässliche Voraussetzung dafür zu schaffen, dass wir von einem Gemeinwesen reden dürfen? Denn ohne Solidarität unter den Bürgern gibt es dieses Gemeinwesen nicht wirklich. Eine Tatsache übrigens, die in Europa aufgrund der starken Zuwanderung und drohender Parallelgesellschaften noch an Gewicht gewonnen hat.

Selbstüberprüfung scheint mir auch angebracht, was die Haltung angeht, mit der wir die Debatten führen. Ich empfehle uns – es mag etwas paradox klingen – mehr Toleranz und Offenheit und zugleich mehr Entschiedenheit. Vielleicht haben viele von uns in den letzten Jahren zu schnell manche Debatten beenden wollen, die noch nicht für Alle abgeschlossen waren. Vielleicht haben wir Positionen aus den Debatten hinausgedrängt, die uns inakzeptabel erschienen. Oder vielleicht haben wir umgekehrt zu viel Infragestellung von Grundsätzlichem geduldet, wo mehr Klarheit nötig gewesen wäre.

Mehr Toleranz erscheint mir da sinnvoll, wo wir einfach feststellen: Die Menschen in unseren freien Gesellschaften sind verschieden und werden es bleiben. Sie müssen nicht alle dasselbe denken, nicht alle an denselben Gott glauben oder überhaupt glauben, nicht über dieselben Witze lachen oder das gleiche Verständnis für Genderfragen aufbringen. Unsere Demokratie ist ein großes Zelt. Wir halten die Unterschiede, auch kontroverse Meinungen, aus. Denn über die kann man streiten – wenn nötig, auch robust. Die Voraussetzung für ein gutes Miteinander ist schlicht Respekt für den anderen und Toleranz.

Zugleich brauchen die Gesellschaften mehr Entschiedenheit, was die Grenzen der Auseinandersetzung und die Grenzen der Toleranz angeht. Aus liberaler – wenn ich hier liberal sage, sind nie bestimmte Parteigruppierungen gemeint, sondern es ist ein Kürzel für die Menschen, die Demokraten einer offenen Gesellschaft sind –, aus liberaler Sicht gesprochen: Die Grundwerte des demokratischen und liberalen Rechtsstaats stehen nicht zur Debatte, und zwar für niemanden. Punkt.

Wer andere Menschen beleidigt, diskriminiert oder gar attackiert, braucht künftig ein klareres Stoppsignal als bisher. Der Ausschluss von Roma von Bildung und Arbeit, Anschläge auf Flüchtlingsheime oder Diskriminierungen von Muslimen sind genauso untragbar wie Gewalt und Beleidigungen gegen Juden – gleichgültig, von Angehörigen welcher Ethnie, welchen Geschlechts oder welcher Religion sie ausgehen.

Aus Angst vor dem Vorwurf des Rassismus darf jedenfalls die Verletzung von Menschenwürde und Menschenrechten nicht verschwiegen werden, wenn sie etwa von Migranten ausgeht.
Mehr Toleranz bei unterschiedlichen Meinungen und mehr Entschiedenheit bei Grundsatzfragen – das erscheint mir nicht nur eine gute Richtschnur für Debatten innerhalb der jeweiligen Nation zu sein, sondern auch für das demokratische Miteinander zwischen den verschiedenen europäischen Mitgliedsstaaten. Die Freude über die Osterweiterung der EU war aufrichtig und groß, im Osten wie im Westen des Kontinents. Doch auch wenn sich die neuen Länder zu den Grundsätzen der Europäischen Union bekannt haben, so stehen nationale Prägungen und historische Erfahrungen einer demokratischen und liberalen Kultur oftmals noch im Wege.

Westeuropäische Gesellschaften hatten seit Ende des Zweiten Weltkriegs schon viele Jahrzehnte Zeit, in denen sie die liberale Demokratie Schritt für Schritt aufbauen, leben und weiter entwickeln konnten. Die mittelosteuropäischen Gesellschaften konnten dies erst seit 1990. Demokratie als Aushandelsgesellschaft ist deshalb in Ostmitteleuropa für Teile der Gesellschaft noch keineswegs selbstverständlich geworden, der Kompromiss für viele ein Zeichen von Schwäche. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf zu verweisen, wie langsam der Wandel von Mentalitäten in aller Regel erfolgt.

Wissen Sie, ich weiß das genau. Ich komme nämlich aus dem Osten, auch wenn ich aus Deutschland komme. Ich komme aus Mecklenburg, das liegt im Nordosten Deutschlands; traditionell langsam. Bismarck wollte schon da hingehen, wenn die Welt untergeht, weil: "da passiert alles fünfzig Jahre später". Fast drei Generationen haben Diktaturerfahrung, in denen Angst und Anpassung eingeübt wird als Erfolgshaltung. Das hat man dann so lange Jahre internalisiert; und dann soll man auf Knopfdruck ein Citoyen sein? Das möchte ich mal sehen, wie andere das machen. Und wenn wir uns das einen Augenblick vor Augen führen, können wir verstehen, dass es wohl nicht unbedingt eine Charaktermauer sein muss, die die Menschen in Osteuropa und Westeuropa voneinander trennt. Sondern es sind die unterschiedlichen Spielfelder, auf denen die Gesellschaften jedenfalls trainieren konnten. Einmal ein Mensch mit Verantwortungsfähigkeit zu sein – wo das auch gewollt ist, mit Eigeninitiative und Verantwortung. Und zum anderen ein gegenläufiges Modell, das die Autonomie des Einzelnen im Grunde negiert. Sie ist nicht erforderlich. Anpassungsbereitschaft ja – aber Autonomie nein.

Während es im Westen Europas beispielsweise weitgehend unstrittig ist, politisch Verfolgten und Bürgerkriegsflüchtlingen Schutz zu bieten, gibt es in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei selbst für humanitären Schutz kein Verständnis – nicht allein bei den Regierungen, sondern auch bei einem großen Teil der Gesellschaft.

Die kosmopolitische, supranationale und menschenrechtliche Sichtweise, die für viele in Westeuropa den Kern der neuen europäischen Identität ausmacht, erscheint größtenteils in diesen Gesellschaften wie eine Bedrohung ihrer gerade erst wieder errungenen nationalen Souveränität.

Der Westen Europas sollte sich daher bewusst machen: Mit moralischer Empörung oder mit Sanktionen dürfte in den neuen Demokratien kurzfristig kaum ein Umdenken zu erreichen sein. Der Westen sollte aber auch eine gewisse Gelassenheit entwickeln: Auch die Europäische Union ist ein großes Zelt, das durchaus noch mehr Debatten – ernsthafte und ausdauernde Debatten – aushalten kann. Sie muss nicht gleich auseinanderbrechen während solcher Auseinandersetzungen.

Da fragt man sich allerdings, was geschehen würde, wenn mittelosteuropäische Länder weiter an den Grundfesten des liberal-demokratischen Staates rütteln. Wenn etwa die Unabhängigkeit der Justiz weiter ausgehöhlt würde, die Gewaltenteilung weiter eingeschränkt oder wenn Verwaltung und Medien weiter dem Zugriff der Regierung unterstellt werden nach dem Motto: The winner takes it all!
Ist es dann für die EU wichtiger, dass etwa Polen in der EU bleibt oder dass die EU ihren Grundprinzipien treu bleibt?

Die Antwort auf diese Frage möchte ich nicht geben. Jedenfalls fällt sie mir enorm schwer. Ich weiß, dass die Polen gar nicht aus der EU heraus wollen. Aber wir müssen uns die Frage stellen, was geschieht, wenn die vertraglich akzeptierten Grundnormen von Ländern, die dies beim Eintritt in die EU voll unterschrieben haben, nicht mehr ernst genommen werden.

Ich denke, dass die EU nicht nur unglaubwürdig, sondern auch erpressbar und reformunfähig wird, wenn es ihr allein um den Zusammenhalt in der EU, nicht aber um die Geltung der gemeinsam beschlossenen Wertebasis geht. Ohne Demokratie in allen EU-Staaten kann die EU jedenfalls in ihrer bisherigen Form nicht weiter existieren. Insofern ist das Schicksal der Europäischen Union an das Schicksal der Demokratie in ihren Mitgliedsländern gebunden.

Ja, es gibt Gründe, sich um die Demokratie in den demokratischen Staaten zu sorgen. Aber ganz gewiss gibt es mehr und bessere Gründe zu rationaler Zuversicht. Ich bleibe dabei: Die Demokratie hat Zukunft.

Der Hauptgrund für mich ist das Wissen: Selbst in unserer schwierigen Demokratie haben wir den Menschen mehr anzubieten als jene, die die Demokratie verachten.
Sehen wir denn irgendein Gesellschaftsmodell außerhalb der Demokratien, das seinen Bürgern so viel Freiheits- und Menschenrechte bietet? Das ihnen auch nur annähernd den Grad an sozialer Sicherheit, Beteiligung oder eigener Entfaltung bietet? Sehen wir irgendeinen nicht-demokratischen Staat, der ein Wirtschaftskonzept vorlegen könnte, das nicht auf Ausbeutung von Mensch und Natur beruht? Sehen wir einen autoritären Staat mit einer kulturellen Kreativität? Steht uns ein nichtdemokratisches Land vor Augen, in das wir gerne aufbrechen würden, um uns dort lieber als Bürger zu beheimaten als hier, in unseren unvollkommenen westlichen Demokratien?

Ja, ich bin tatsächlich in letzter Zeit nicht selten mit der Auffassung konfrontiert, dass autoritäre Regime gegenüber der Demokratie auch Vorteile haben: So können Entscheidungen unter Umständen wesentlich schneller gefällt und durchgesetzt werden. Da wird immer das Beispiel Chinas genannt, das dortige Regime ist eben ökonomisch enorm erfolgreich – jedenfalls in überschaubarem Zeitraum.
Schnelles und autoritäres Handeln verhindert, dass die jeweiligen Vor- und Nachteile von Entscheidungen offen diskutiert und gegeneinander abgewogen werden können. Autoritäre Herrschaft neigt zudem zur Behinderung von Innovation, durch Reglementierung der Wirtschaft ebenso wie durch Unterdrückung des kritischen Denkens.

Kreativität und Innovationsfreude sind aber langfristig eine Bedingung für jeden Erfolg. Es bedarf geistiger Freiräume um beides wachsen zu lassen. Außerdem: Demokratie schafft Transparenz bei der Entscheidungsfindung, was ein Mittel gegen Korruption darstellt. Demokratie schafft Bürgerbeteiligung, was die Akzeptanz erhöht. Und ganz entscheidend: Alle Macht geht vom Volk aus, das ist ein Axiom der Demokratie. Die Bürger wollen sich die Rechte, die ihnen zustehen, nicht nehmen lassen, auch wenn sie diese weitgehend delegieren. Sie wollen nicht entmündigt oder depotenziert werden, indem sie eigene Rechte preisgeben und andere, die sie nicht gewählt haben, für sich Entscheidungen fällen lassen.

Die Langsamkeit der Demokratie mag störend und nachteilig sein, aber sie lässt dem Bürger seine Rolle als Subjekt bei der Gestaltung des eigenen Gemeinwesens. Denn: Unsere Demokratie ist eine Staatsform, die im positiven Verständnis flexibel ist. Nur sie sucht den Ausgleich durch Kompromiss. Sie ist darauf ausgerichtet, Lösungsansätze im Dialog zu erproben und sie im Dialog zu verwerfen, wenn sie sich nicht bewähren.

Demokratie lebt davon, Macht auf Zeit zu verleihen und sie friedlich wieder zu entziehen, wenn der Souverän, der Bürger, dem Gewählten sein Vertrauen entzieht. Sie setzt nicht einen angeblichen Volkswillen um, der keine Pluralität kennt und sie setzt die Wünsche einer Mehrheit niemals absolut, sondern garantiert gerade den Minderheiten unveräußerliche Rechte – nicht zuletzt das Bestreben, von der Minderheit selber zur Mehrheit zu gelangen.

Das alles macht die Demokratie kompliziert, aber auch zu der Staatsform, die unserem Menschsein – in Verschiedenheit – am ehesten gerecht wird. Die liberale Demokratie, wie sie sich als Modell des Westens entwickelt hat, meint nicht nur faire und freie Wahlen. Sie meint auch die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, die Verteidigung grundlegender Menschenrechte wie der Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit.

Wahlen sind zwar das sine qua non einer Demokratie, aber selbst eine frei gewählte Regierung kann korrupt, unverantwortlich und diktatorisch sein. Das wissen zum Beispiel die Menschen, die aus einigen afrikanischen oder nordafrikanischen Staaten, aus dem Nahen Osten oder auch aus Russland zu uns kommen. Der Liberalismus erscheint mir sogar wichtiger als die Demokratie. Ich musste lange leben und politische Erfahrungen sammeln, um so einen Satz mal zu formulieren: Demokratie schließt – wir erleben es gerade schmerzhaft – die Rückkehr zu Illiberalität nicht aus. Umgekehrt aber stützt eine liberale Ordnung die Demokratie. Sie tut es immer. An dieser Erkenntnis sollten wir festhalten, wenn wir nach neuen Formen suchen, um die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten zu verbessern.

Werfen wir uns also in die Debatte, trauen wir uns zu, die Prinzipien unserer liberalen Demokratie in unseren eigenen Nationen, aber auch in den europäischen Nachbarländern mit rationalen Argumenten und emotionaler Überzeugtheit zu verteidigen. Und bleiben wir dabei offen für solche Veränderungen, die diese Prinzipien in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung in adäquatere Formen zu gießen imstande sind.

Meine Damen und Herren, seien Sie versichert:

Das was Sie hier hören, ist kein Pflichtprogramm für einen aus dem Amt geschiedenen Präsidenten. Ich bin vielmehr nach langen Jahren meines Lebens in unterschiedlichen Gesellschaften, ganz tief davon überzeugt: Wir leben ein Gesellschaftsmodell, das keinen Vergleich zu scheuen braucht und das für Menschen in vielen Teilen der Welt ein Sehnsuchtsziel geworden ist. Und obwohl wir wissen, dass es keineswegs perfekt ist und Selbstkritik eine Bürgerpflicht bleibt, stehen wir zu diesem Gesellschaftsmodell und zu dieser Lebensform, weil sie beständig Zukunft eröffnen. Und wir stehen dazu weder kleinmütig und notgedrungen, sondern selbstbewusst und furchtlos.