Verleihung des Winfried-Preises
20. Juni 2018, Fulda
Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Dank an die Stadt Fulda und das Preiskuratorium der Dr.-Heinz-G.-Waider-Stiftung für die Verleihung des diesjährigen Winfriedpreis. Lieber Herr Dr. Pöttering, vielen Dank für Ihre Worte. Dank sage ich Ihnen heute aber nicht nur als Preisträger. Ich sage Ihnen Dank als Bürger. Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Rechtsordnung, Frieden, Solidarität, Subsidiarität – mit diesen Werten der EU haben sie als Mitglied des ersten direkt gewählten Europa-Parlamentes ab 1979 Europa wirklich mit gestaltet.
Sie haben unermüdlich gebaut am gemeinsamen Haus Europa, schon zu Zeiten der Teilung des Kontinents und unseres Landes. Dass Menschen wie Sie so unbeirrt gebaut haben an diesem Haus Europa, das hat die europäische Einigung ermöglicht. Die Freundschaft Deutschlands zu seinen Nachbarn. Frieden in Europa. Und auch das: Ohne diese Pionierarbeit wäre die deutsche Einheit niemals möglich geworden.
Mit unserem Ja zu Europa haben wir Ja gesagt zur Zukunft Deutschlands. Dafür stehen viele mutige Menschen – und auch Sie, Herr Pöttering. Und dafür danke ich Ihnen.
Geboren in Crediton, (Kleinstadt im Südwesten Englands); Ausbildung in Exeter und Southhampton; erste berufliche Stationen im Osten Frankreichs und im südwestlichen Friesland; ein Fortbildungsaufenthalt in Rom; später dann tätig in leitender Funktion in Mainz und Utrecht sowie Gründer mehrerer bedeutender Niederlassungen, unter anderem hier in Fulda.
Das liest sich wie ein besonders beeindruckender Lebenslauf – etwa auf Xing veröffentlicht – aus der heutigen europäischen Bildungsgeneration, die wie keine Generation zuvor profitiert hat von Freizügigkeit und offenen Grenzen in Europa. Aber… – Sie ahnen es bereits – es zählt die wichtigsten Lebensstationen von Winfried genannt Bonifatius auf, der nicht 1973, sondern im Jahr 673 geboren wurde. Also vor über 1.300 Jahren.
Auch wenn Bonifatius eine historische Ausnahmeerscheinung war und sich der kulturelle und geistige Austausch zwischen den verschiedenen europäischen Staaten auf eine äußerst kleine, zumeist kirchliche Elite beschränkte, führt uns sein Leben doch vor Augen: Die europäische Gemeinschaft ist keine ausschließliche Erfindung der Moderne und unsere gemeinsamen christlichen Wurzeln reichen weit zurück. Fulda – zum Beispiel –, wäre wohl ohne die Initiative dieses Missionars aus dem Kleinkönigtum Wessex in Südengland nicht entstanden.
Und so steht, wenn Sie hier im kommenden Jahr gleich mehrere Jubiläen feiern, an erster Stelle die Gründung des Klosters Fulda im Jahr 744 – durch Bonifatius in Auftrag gegeben und Ort seiner selbstgewählten letzten Ruhestätte. Fulda und der Heilige Bonifatius sind eng miteinander verbunden und es freut mich, dass Sie dieses Erbe damit verbinden, für den Fortbestand des europäischen und völkerverbindenden Gedankens zu werben.
Wir wissen aber leider auch: die europäische Geschichte ist nicht nur durch das Einigende, sondern auch durch das Trennende verbunden. Dies galt auch schon zu Lebzeiten von Bonifatius. Die Christianisierung des fränkischen Reiches wurde eben nicht nur durch Missionarsarbeit und die Gründung von Klöstern, sondern auch durch Gewalt und Krieg vorangetrieben. So tobten schon kurz nach der Gründung die Sachsenkriege vor den Toren des Klosters Fulda, dessen Mönche zeitweise mit den Gebeinen des Heiligen Bonifatius flohen.
Es folgten, um nur einige Schlaglichter zu nennen:
- Auf- und Niedergang des Fränkischen Reiches; der Zerfall in Klein- und Kleinstreiche; die Spaltung der Kirche im Zuge der Reformation, Tod und Verderben im Dreißigjährigen Krieg, beendet durch den Westfälischen Frieden; die Französische Revolution und die folgenden Koalitionskriege in ganz Europa;
- das Auferstehen der Nationen bis zur Hybris.
- Der erste Weltkrieg mit seinen Verheerungen.
- Die Nazi-Herrschaft mit dem Menschheitsverbrechen des Holocaust. Der von Deutschland entfesselte zweite Weltkrieg mit unvorstellbaren Leid, Tod und Verderben auf dem gesamten europäischen Kontinent und weit darüber hinaus.
- Die Spaltung Europas und das Zusammenwachsen Europas in nur einem Menschenleben.
Die europäische Geschichte war viel zu oft geprägt von Gewalt und Krieg. Umso mehr Grund haben wir, dankbar auf 70 Jahre Frieden zu blicken, den wir in Europa erleben – wohl erstmals seit Menschengedenken. Wenn wir uns heute unserer gemeinsamen europäischen und christlichen Wurzeln vergewissern, dann gehört für mich an erste Stelle immer noch die Folgerung aus den Schattenseiten unserer Geschichte: nie wieder Krieg in Europa!
Aus dieser Konsequenz haben die Generationen vor uns Ja gesagt zu Europa.
Aber trägt diese friedensstiftende Erkenntnis heute und in Zukunft noch? Europa, ja der gesamte demokratische Westen scheint an Strahlkraft verloren zu haben. In manchen Staaten müssen wir gar den Verlust der Rechtsstaatlichkeit fürchten. Ein Land wird die EU verlassen.
Mit dem Einzug populistischer und nationalistischer Parteien in europäische Parlamente sind wir nun unsanft daran erinnert worden: Die Idee Europas, auch Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat sind in ihrem Bestand nie "für immer" gesichert und bauen sich mitnichten automatisch weiter aus. All diese Errungenschaften können sich zurückentwickeln. Sie können sogar gefährdet sein – wie wir sehen, selbst in lange erprobten demokratischen Gesellschaften.
Karl Popper rühmte einst die Demokratie, weil sie im Unterschied zu Diktaturen und Autokratien den großen Vorteil hat, dass Regierungen gewaltfrei abgesetzt werden können. Heute müssen wir hinzufügen, dass die Demokratie auch den großen Nachteil hat, dass sie sich unter Umständen selbst gewaltfrei abschaffen kann.
Ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich sage: Freiheit und Demokratie sind Sehnsuchtsziele für Menschen in Unfreiheit und Unterdrückung. Und ich spreche ebenfalls aus eigener Erfahrung, wenn ich hinzufüge: Aber die Freiheit der Moderne, die den Menschen aus seiner fest umrissenen Rolle in der alten Gesellschaft löst, schenkt ihm nicht allein Freiheit und Unabhängigkeit, sie nimmt ihm auch Vertrautheit und damit Halt und Eingebundensein. Für manchen kann so der Sehnsuchtsort zu einem abschreckenden Ort werden, und tröstlich erscheinen ihm dann populistische Versprechungen, die Ängste bedienen.
Demokraten sollten nicht der Versuchung erliegen, ihrerseits Angst als Mittel der Auseinandersetzung zu nutzen, aber sie sollten sich der Wirkung der Angst und der Ängste bewusst sein. Was hat denn so viel Verunsicherung ausgelöst? Da ist zunächst das Zusammenspiel der Akteure, das sich in unserer Demokratie gravierend verändert hat. Vertraute Vermittler zwischen Bürgern und Regierung wie Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbände und Vereine haben an Bedeutung verloren. Medien, soziale Netzwerke und neue Vermittler wie NGOs hingegen, haben dazugewonnen an Bedeutung.
Durch das Internet hat sich die Spannbreite politischer Stellungnahmen zwar verbreitert. Da viele Nutzer allerdings in ihren Echokammern verbleiben, haben Dialogbereitschaft und -fähigkeit gleichzeitig nachgelassen. Wie können nun diese, oft disparaten Stimmen zusammengeführt und systematisch in den politischen Willensbildungsprozess eingespeist werden? Das muss ja das Ziel sein in einer lebendigen Demokratie.
In allen Teilen Europas stellt sich die Frage: Gelingt es der Politik, die verschiedenen Teile der Bevölkerung im Blick zu behalten und ihre unterschiedlichen sozialen und kulturellen Interessen zu berücksichtigen? Oder nimmt das Gefühl der Bürger zu, ignoriert oder gar abgespeist zu werden?
Vernachlässigt fühlen sich Menschen beispielsweise in manchen Regionen, weil Fabriken in der Umgebung dicht gemacht haben, das letzte Geschäft und die letzte Gaststätte geschlossen wurden, kaum Busverbindungen die Kreisstadt existieren und der nächste Arzt viele Kilometer entfernt ist. Der Unterschied zwischen manchen urbanen und ländlichen Regionen hat sich vertieft, mancherorts ist es schon zu einem breiten Graben gekommen. Das ist ein konkretes Problem, auf das konkrete Antworten der Demokratie möglich sind.
Es zeigt aber auch, dass wir uns die Frage stellen müssen: Haben wir, die liberalen Demokraten, uns ausreichend darum bemüht, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht einfach nebeneinander und schon gar nicht gegeneinander, sondern miteinander leben zu lassen? Tun wir, die Demokraten, genug, um die unerlässliche Voraussetzung dafür zu schaffen, dass wir von einem Gemeinwesen reden dürfen? Denn ohne Solidarität unter den Bürgern gibt es dieses Gemeinwesen nicht wirklich. Eine Tatsache übrigens, die in Europa aufgrund der starken Zuwanderung und drohender Parallelgesellschaften noch an Gewicht gewonnen hat. Da stehen wir vor einer Selbstüberprüfung. Die scheint mir auch angebracht was die Haltung angeht, mit der wir die Debatten führen.
Ich empfehle uns – es mag etwas paradox klingen – mehr Toleranz und Offenheit und zugleich auch mehr Intoleranz. Mehr Toleranz erscheint mir da sinnvoll, wo wir einfach feststellen: Die Menschen in unseren freien Gesellschaften sind verschieden und werden es bleiben. Sie müssen nicht alle dasselbe denken, nicht alle an denselben Gott glauben oder überhaupt glauben, nicht über dieselben Witze lachen.
Unsere Demokratie ist ein großes Zelt. Wir halten die Unterschiede, auch kontroverse Meinungen, aus. Denn über die kann man streiten – wenn nötig, auch robust. Die Voraussetzung für ein gutes Miteinander ist schlicht Respekt für den anderen und Toleranz. Zugleich brauchen die Gesellschaften mehr Intoleranz, was die Grenzen der Auseinandersetzung und die Grenzen der Toleranz angeht.
Die Grundwerte des demokratischen und liberalen Rechtsstaats stehen nicht zur Debatte, und zwar für niemanden. Punkt. Wer andere Menschen beleidigt, diskriminiert oder gar attackiert, braucht künftig ein klareres Stoppsignal als bisher. Anschläge auf Flüchtlingsheime oder Diskriminierungen von Muslimen sind genauso untragbar wie Gewalt und Beleidigungen gegen Juden – gleichgültig, von Angehörigen welcher Ethnie, welchen Geschlechts oder welcher Religion sie ausgehen.
Mehr Toleranz bei unterschiedlichen Meinungen und mehr Intoleranz bei Grundsatzfragen – das erscheint mir nicht nur eine gute Richtschnur für Debatten innerhalb der jeweiligen Nation zu sein, sondern auch für das demokratische Miteinander zwischen den verschiedenen europäischen Mitgliedsstaaten.
Die Freude über die Osterweiterung der EU war aufrichtig und groß, im Osten wie im Westen des Kontinents. Doch auch wenn sich die neuen Länder zu den Grundsätzen der Europäischen Union bekannt haben, so stehen nationale Prägungen und historische Erfahrungen einer demokratischen und liberalen Kultur oftmals noch im Wege. Westeuropäische Gesellschaften hatten seit Ende des Zweiten Weltkriegs schon viele Jahrzehnte Zeit, in denen sie die liberale Demokratie Schritt für Schritt aufbauen, leben und weiter entwickeln konnten. Die mittelosteuropäischen Gesellschaften konnten dies erst seit 1990.
Demokratie als Aushandelsgesellschaft ist deshalb in Ostmitteleuropa für Teile der Gesellschaft noch keineswegs selbstverständlich geworden, der Kompromiss für viele ein Zeichen von Schwäche. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf zu verweisen, wie langsam der Wandel von Mentalitäten in aller Regel erfolgt. Und was im Westen Europas für viele Menschen unstrittig ist, politisch Verfolgten und Bürgerkriegsflüchtlingen Schutz zu gewähren, erscheint in mitteleuropäischen Gesellschaften wie eine Bedrohung ihrer gerade erst wieder errungenen nationalen Souveränität.
So wird zumindest nachvollziehbar, dass mit moralischer Empörung oder mit Sanktionen in den neuen Demokratien kurzfristig kein Umdenken zu erreichen ist. Als liberale Demokraten sollten wir aber auch eine gewisse Gelassenheit entwickeln: Die Europäische Union ist ein großes Zelt, das durchaus noch mehr Debatten – ernsthafte und ausdauernde Debatten – aushalten kann. Sie muss nicht gleich auseinanderbrechen während solcher Auseinandersetzungen. Denn es gibt auch Grund zu neuem Optimismus:
Mehr als zwei Drittel – in Deutschland sogar drei Viertel der Menschen – in der Europäischen Union nehmen wahr, dass ihr Land von der EU profitiert. So positiv war die Einschätzung seit 35 Jahren nicht mehr! Optimistisch stimmt mich auch, dass viele Menschen in der Stunde neuer Verunsicherung nicht vor der europäischen Idee davonlaufen, sondern Europa als Teil der Lösung erkennen. Die meisten Bürger Europas wollen Veränderung. Und damit meinen sie nicht: kein Europa, sondern sie meinen: ein anderes, ein besseres Europa.
Und es ist gut, dass Frankreich und Deutschland zu ihrer Verantwortung für ein starkes Europa stehen und gemeinsam Ideen für ein demokratisches, wirtschaftlich starkes und sozial ausgewogenes Europa entwickeln wollen. Nutzen wir die Gunst der Stunde! Die Skeptiker und Gegner der EU sind nicht verschwunden, aber die Befürworter der EU haben sich mit neuem Elan daran gemacht, der Union ein Profil zu geben, das zur neuen Zeit passt.
Vergessen wir nicht: Um Europa zukunftsfest zu machen, langt es nicht, auf die Erfolge der Vergangenheit zu verweisen. Vielmehr gilt es den ganz konkreten Nachweis zu führen, dass die Europäische Union auch unter veränderten europäischen und weltpolitischen Konstellationen von Vorteil für die EU-Bürger sein wird. Das können wir mit guten Argumenten beweisen!
Die Gegner der europäischen Idee beeindrucken nur kurzzeitig mit ihren Ideen aus der Mottenkiste. Seien wir also nicht verzagt. Es gilt zu demonstrieren, dass die Fürsprecher der EU nicht einem idealisierten Konstrukt anhängen, sondern über ein erfolgversprechendes politisches Projekt verfügen – wenn Sie so wollen: über eine erfolgversprechende politische Vision im Geiste Bonifatius.
Mit großer Dankbarkeit nehme ich den Winfried-Preis der Stadt Fulda entgegen und fühle mich nun noch ein wenig mehr der europäischen Einigung verpflichtet.