Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede an der Universität von Łódź

©University of Łódź

Rede zum Doctor Honoris Causa der University of Łódź

Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Łódź

24. Mai 2019, Łódź, Polen

Haben Sie vielen Dank für die freundliche Begrüßung und die überaus freundlichen Worte, die Sie für mein Wirken gefunden haben. Ich nehme die Ehrenpromotion mit Dank und großer Freude an. Ich freue mich auch darüber, dass ich in der Urkunde für die Ehrenpromotion nicht nur verbunden werde mit den Werten der Freiheit, der Bürgerrechte und der europäischen Integration, sondern auch das genannt werde, als das ich mich fühle: "ein Freund Polens".  

Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Gerade weil ich mich als ein Freund eines freien und starken Polens fühle, sage ich Ja zu Freiheit, Bürgerrechten und der Einigung Europas. Ich möchte heute über ein Thema sprechen, das in den letzten Jahren an großer Bedeutung gewonnen hat - kein direkt politisches Thema, aber ein Thema, das für die Politik eine eminente Bedeutung besitzt.  

Ich meine die Toleranz. Es gibt wohl keine Kultur auf der Welt, die Toleranz nicht als eine Tugend rühmt. Und das zu recht, denn sie dient dem friedlichen Zusammenleben der Menschen, im privaten wie im gesellschaftlichen.  

Ihre für eine Demokratie konstitutionelle Bedeutung begann die Toleranz allerdings erst im 16. Jahrhundert zu gewinnen, als die mittelalterliche Weltordnung zerbrach, und sich nach Renaissance und Reformation weltliche und geistliche Macht trennten und statt der einen, allein selig machenden Religion verschiedene Glaubensbekenntnisse anerkannt werden mussten. Seitdem gehören Pluralität und Toleranz unauflöslich zusammen, denn ohne Toleranz kann es keine Pluralität geben. Oder in den Worten des Philosophen Michael Walzer: "Toleranz macht Differenz möglich, Differenz macht Toleranz notwendig." 

Toleranz war aber nur äußerst schwierig und gegen große Widerstände durchzusetzen, denn sie beschränkte die Macht der Herrschenden und zwang sie zur Berücksichtigung von Glaubensauffassungen, die sie für reine Häresie hielten. Erst als Kaiser und Papst der Häresie auch militärisch nicht mehr Einhalt zu gebieten vermochten, kam es zu einem Kompromissvertrag: dem Augsburger Reichs- und Religionsfrieden von 1555. Der Kaiser gewährte den Lutheranern freie Religionsausübung. Allerdings galt weiter das obrigkeitsstaatliche Prinzip: Cuius regio, eius religio – wer das Land regierte, sollte den Glauben bestimmen.  

Die Bevölkerung blieb so von der Religion des Regenten abhängig. Erst nach weiteren dreißig Jahren Krieg in Deutschland und nach achtzig Jahren – auch konfessionell motiviertem – Unabhängigkeitskrieg in den Niederlanden gelang es, mit dem Westfälischen Frieden von 1648 eine neue stabile Friedensordnung in Mitteleuropa zu schaffen. Neben der katholischen und lutherischen wurde nun auch die reformierte Glaubensrichtung gleichgestellt. Mit dieser Anerkennung von "Gleichwertigkeit, Gleichrang und Gleichbehandlung verschiedener Bekenntnisse oder Bekenntnisorganisationen" aber hatte im Heiligen Römischen Reich eine Pluralität Einzug gehalten, die nicht mehr zu eliminieren war. Toleranz wurde unerlässlich. 

Allerdings handelte es sich um erzwungene Toleranz: die Stärkeren waren nicht mehr imstande, die Schwächeren niederzuhalten, und die Schwächeren waren noch nicht imstande, die Stärkeren zu besiegen. Toleranz war somit aufgenötigt durch die Machtstruktur; später würden wir von friedlicher Koexistenz sprechen.  

Tatsächlich sind auch nur zwei Fälle überliefert, in denen Toleranz damals nicht durch eine politische Patt-Situation erzwungen, sondern durch innere Überzeugung beschlossen wurde.  

Im ersten Fall handelte es sich um das Fürstentum Siebenbürgen unter dem König Johann II. Sigismund Zapolya, im zweiten Fall um Polen: Der 1573 beschlossene Warschauer Religionsfriede bildet einen Meilenstein der Glaubensfreiheit in der europäischen Geschichte, denn er bezog – damals einzigartig –  selbst konfessionelle Randgruppen in eine Übereinkunft über gegenseitige Unterstützung, politische Gleichstellung und Toleranz ein. So wurde Polen zu einem Land ohne Scheiterhaufen und bewahrte sich vor jahrzehntelangen Konfessionskriegen, wie sie Westeuropa zum Teil schwer verwüsteten.  

Toleranz hat sich allerdings bald von der Situation des Kräftegleichgewichts abgekoppelt und ist als Idee einer allgemeinen Toleranz in die Werteordnung unserer Gesellschaft eingegangen. "Wenn es wahr ist", schrieb der polnische Philosoph Leszek Kołakowski, "dass der Kampf für Toleranz im 16. Jahrhundert vorwiegend von Minderheiten geführt wurde, so ist ebenfalls wahr, dass starke Gruppen, denen es gelungen war, Toleranz für sich selbst zu erzwingen, sie oft – absichtlich oder nicht – für Minoritäten erzwangen, die ihrerseits nicht erwarten konnten, dasselbe durch ihren Einfluss zu erreichen."  

Die gesamte heutige Kultur mit ihren Rechten für Minderheiten und ihrem Diskriminierungsverbot fußt im Grunde auf diesem Verständnis von Toleranz als humanem Wert jenseits der Machtstrukturen. Doch der Weg zum augenblicklichen Verständnis und Umgang mit Toleranz war noch weit. Denn mit der Gleichstellung von Religionen ergab sich zunächst ein Problem:  

Wenn jemand von der absoluten Richtigkeit seiner Religion überzeugt ist, wie kann er dann tolerant sein gegenüber den Anhängern einer anderen Religion, die nach seiner Überzeugung eindeutig falsch ist? Wie passen Toleranz und absoluter Wahrheitsanspruch zusammen?  

In jener Zeit begann eine Entwicklung in religiöser und politischer Hinsicht, die christliche und islamische Länder bis heute trennt. Denn mochten die europäischen Philosophen und Gelehrten von Spinoza bis Hobbes, von Voltaire bis Locke auch unterschiedliche Antworten auf die Krise der Religion entwickeln, so waren sie sich in einer zentralen Frage im Kern einig: Der Staat sollte von kirchlichen Bevormundungen befreit, Religion und Staat sollten getrennt werden. In jenen Jahrzehnten wurden die Grundlagen für ein System im Geiste der Aufklärung gelegt, das die europäischen Staaten und Gesellschaften bis heute prägt.  

Anders als in islamischen Ländern setzt die Religion nicht (mehr) unmittelbar die Regeln im weltlichen Leben. Das Individuum ist nicht zwangsweise Teil eines Kollektivs, sondern – bezogen auf die Religion – sein eigener Souverän. Auch wenn dies nicht immer explizit ausgesprochen wurde, sind die Staaten, die sich als "Eintracht der Widerstreitenden" verstehen, auf dem Prinzip der Toleranz aufgebaut.  

Mit der Bill of Rights 1689 in England, mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 in Amerika, mit der französischen Verfassung von 1789 und mit der Verfassung vom 3. Mai 1791 in Polen konnten die Bürger darauf hoffen, in der Ausübung ihrer Religion nicht eingeschränkt und vom Staat nicht bevormundet zu werden. 

Allerdings: Dass der neutrale Staat seinen Bürgern Religionsfreiheit in einer Art vertikaler Toleranz gewährte, führte noch nicht automatisch zu einer horizontalen Toleranz zwischen den Bürgern.  

Wie also umgehen mit der Rivalität unter den Bürgern verschiedener Konfessionen?

Wie verhindern, dass Wahrheitsansprüche nun innerhalb der Gesellschaft zur Ursache für Spannungen und Gewalt würden? 

Mit seiner Ringparabel hat Gotthold Ephraim Lessing in seinem Drama "Nathan der Weise" (1779) auf diese Frage mit einem Gleichnis zu antworten versucht. Ein Mann besitzt einen wertvollen Ring, der die Kraft hat, seinen Besitzer "vor Gott und den Menschen angenehm zu machen". Da der Mann allerdings drei Söhne hat, die ihm alle gleich lieb sind, möchte er allen dreien den Ring vererben. So lässt er zwei Duplikate anfertigen, die dem Original so ähnlich sind, dass selbst der Vater sie nicht mehr unterscheiden kann. Die Söhne jedoch sind unzufrieden und rufen, um die Echtheit des originalen Ringes zu ermitteln, ein Gericht an. Der Richter ist überfragt und gibt den Söhnen den Rat, jeder solle in der Überzeugung leben, dass er den echten Ring besitze. Nicht an ihren Bekenntnissen, sondern an ihrem moralischen Verhalten werde abzulesen sein, wer den richtigen Glauben besitze.  

Dass Lessing die drei (Glaubens)Brüder in der Ringparabel als gleichberechtigt erklärte, spiegelte seine Auffassung wider, dass keine der drei monotheistischen Religionen ihren Wahrheitsanspruch beweisen kann und als einzige Wahrheit jeweils nur subjektiv evident ist. Toleranz ist hier gefordert als Respekt vor der freien inneren Entscheidung des Anderen: Weil dem Anderen die gleiche Würde eignet wie mir selbst, wird deren Respektierung für mich als einen moralisch handelnden Menschen quasi zu einem Gebot.  

Das schließt einen Wettstreit zwischen den Verschiedenen keineswegs aus. Im Gegenteil. Für die eigene Meinung, Überzeugung, Wahrheit zu werben, zu argumentieren, zu streiten oder auch Zeugnis abzulegen, wenn man so will: zu missionieren - das scheint mir bis heute eine wichtige Funktion einer kämpferischen Toleranz zu sein. Sie stellt Beziehung her zum Kontrahenten, sie zwingt mich, meine eigene Position zu schärfen und sie dient, wenn sie tatsächlich Austausch herstellt, auch der Wahrheitsfindung. Voraussetzung dafür ist allerdings, - und auch das gilt bis heute – dass diese kämpferische Toleranz auf unaggressive und argumentative Weise ausgetragen wird, ohne Zwang, Druck oder gar Waffengewalt.  

Und dass die Religionen und Weltanschauungen nicht nur in Konkurrenz zueinander stehen, sondern auch etwas Gemeinsames haben: Etwas Drittes, eine tiefere sittliche Einsicht, auf die sich alle gemeinsam beziehen. Ein gemeinsames Humanum, das ihnen Gewaltanwendung verbietet. Eine Verfassung, die allen die gleichen Menschen- und Bürgerrechte garantiert. Denn ohne ein derartiges Gemeinsames kann die Einheit der Verschiedenen nicht Bestand haben.  

Zu einem Disput kam und kommt es allerdings bis heute immer wieder über die Frage, wie weit Toleranz reichen soll und wo ihre Grenzen liegen. John Stuart Mill, der Klassiker des englischen liberalen und sozialen Denkens im 19. Jahrhundert, vertrat eine radikale Position. Er verteidigte Vernunft und Freiheit um fast jeden Preis und war bemüht, dem Individuum einen möglichst großen Spielraum für seine "Lebensexperimente" zu sichern. Er fürchtete nicht nur eine "Tyrannei der Behörde", er fürchtete auch eine "Tyrannei der Mehrheit". Und er hielt es für weit unschädlicher, abweichende, auch extreme Positionen und Verhalten in einer Gesellschaft zu ertragen, als ihr zu erlauben, Menschen andere Meinungen aufzuzwingen und damit unabhängiges Denken zu ersticken. Außerdem – so Mill weiter - könne Wahrheit nicht aufgedeckt werden, wenn abweichende Meinungen unterdrückt würden. Menschen seien nicht unfehlbar, vermeintlich schädliche Ansichten könnten sich als wahr erweisen. Und wie solle Wahrheit, wo es Unfehlbarkeit nicht gibt, anders ans Licht kommen als durch Diskussion? Selbst wenn Meinungen offenkundig falsch sind, liegt in ihrer Tolerierung für Mill noch ein Wert, weil sich in der Auseinandersetzung mit ihnen die eigene Meinung schärft. 

Eine ähnlich radikale Auffassung vertrat in jüngster Zeit auch der italienische Rechtsphilosoph Noberto Bobbio. Für ihn soll sich Toleranz "auf alle erstrecken, ausgenommen diejenigen, die das Prinzip der Toleranz leugnen. Kurz gesagt, alle, außer den Intoleranten, müssen toleriert werden."

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass wir durch Toleranz aufgefordert sind, ein Miteinander auszuhalten, obwohl die Menschen verschieden sind, obwohl sie unterschiedliche politische Meinungen, unterschiedliche Lebensstile, unterschiedliche Religionen, unterschiedliche sexuelle Orientierungen vertreten.  

Damit ist Toleranz alles andere als Gleichgültigkeit oder einfaches Gewährenlassen, sie ist keine Haltung des Laissez-faire, wie sie aus der Haltung von Friedrich II. herausgelesen werden kann: "Jeder soll nach seiner Fasson selig werden."  

Umgekehrt ist Toleranz Duldung oder unter Umständen auch Respekt trotz Differenz. Und sie ist gerade dann gefordert, wenn es mir schwer fällt, eine andere Meinung zu dulden oder anzuerkennen, wenn ich sie unter Umständen völlig falsch finde oder gar verachte. Toleranz ist daher eine mehr oder weniger große Zumutung.  

Meine Damen und Herren,

in letzter Zeit erleben wir nun eine ausgesprochen ambivalente Entwicklung. Einerseits hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 die liberalen Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat verbürgt. Und in letzter Zeit ist das Verbot der Diskriminierung von ethnischen, rassischen, sexuellen und anderen Minderheiten hinzugekommen – der Kampf gegen Vorurteile und gegen Diskriminierung steht hierbei im Vordergrund.  

In den demokratischen Gesellschaften des Westens ist die Sensibilität gegenüber Rassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus zweifellos gewachsen. Auch gegenüber Ungerechtigkeiten etwa gegenüber Frauen, Homosexuellen, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Behinderten oder Einwanderern.  

In Deutschland findet zudem ein kontroverser Diskurs darüber statt, wie weit auch Sprache die Tatsache berücksichtigen soll, dass nicht mehr alle Menschen sich dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordnen lassen wollen oder dass sie sich sozial einem anderen Geschlecht zugehörig fühlen, als ihr Körper vermuten lässt. Die Anforderungen an Toleranz angesichts dieser binnengesellschaftlichen Differenzierung und Vielfalt wachsen mithin. 

Gleichzeitig aber erleben wir, dass Intoleranz zunimmt. Ein Blick auf unsere nächste Umgebung, auf unser Land, Europa und die Welt ist sehr ernüchternd: Fundamentalisten und Terroristen verbreiten Angst und Schrecken mit mörderischen Anschlägen. Diktatoren und Autokraten verschiedener Couleur verfolgen Andersdenkende mit unnachsichtiger Härte. In vielen Staaten werden schwere Menschenrechtsverletzungen verzeichnet: Menschen werden entführt, inhaftiert, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Und das nicht nur in fernen Kontinenten, sondern quasi vor unserer Haustür - im Nahen Osten und auf dem afrikanischen Kontinent.  

In den Vereinigten Staaten von Amerika und den demokratischen Gesellschaften Europas haben sich zudem Populismus und Nationalismus breit gemacht. Fast überall sind Parteien erstarkt, die radikale oder gar extremistische Programme propagieren – und damit Intoleranz: Sie sind teilweise fremdenfeindlich, teilweise rassistisch, teilweise antisemitisch, teilweise homophob. Ihr Ziel ist es, Vielfalt einzuschränken oder zu verhindern und die eigene Gesellschaft möglichst vor dem Fremden zu schützen. Menschen mit Religionen und Hautfarben, die als fremd erscheinen, werden als Bedrohung empfunden oder sollen gar nicht erst ins Land kommen. Minderheiten, die abweichende Lebensstile leben oder abweichende Positionen vertreten, werden schnell moralisch diskreditiert und sollen möglichst aus dem öffentlichen Diskurs herausgehalten werden.  

Das Klima ist rau geworden. Tag für Tag entladen Bürger in den sozialen Netzwerken ihre Enttäuschung, ihre Wut und ihren Hass gegenüber einer angeblich arroganten Elite in einer Flut von Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen. Die Gräben zwischen den Milieus vertiefen sich, Menschen schrecken zunehmend weniger vor Angriffen auf den politischen Gegner oder auf Menschen anderer ethnischer Herkunft, anderer sexueller Orientierung oder anderer Religion zurück. In dieser Eskalation von Worten und Taten dürften sich Frankreich, Italien, Polen, Schweden, Ungarn, Österreich oder Deutschland nicht substantiell, sondern nur graduell unterscheiden.  

Ich gestehe, dass ich mir vor dreißig Jahren eine solche Entwicklung nicht habe vorstellen können. Ich hätte nicht gedacht, dass es in den neuen und alten liberalen Demokratien des Westens eines Tages wieder erforderlich sein würde, für Toleranz zu werben und Toleranz einzufordern. Ich glaubte uns in Europa nach dem Sieg über den Kommunismus auf dem Weg in eine wirklich demokratische, wirklich liberale, das heißt in eine tolerante Gesellschaft, in der Mehrheiten entscheiden, aber die Rechte von Minderheiten dabei wahren.  

Wie also konnte es dazu kommen, dass an die Stelle von Toleranz vielerorts Aggression, Unnachsichtigkeit, Polarisierung getreten sind?  

Dass Zweifel an der Demokratie gewachsen sind und autoritäre Führer an Zustimmung gewinnen?  

Es ist eine altbekannte Tatsache, dass das Denken der Menschen der Realität meistens hinterher hinkt. Das liegt nicht unbedingt an Denkfaulheit oder Dummheit. Das liegt in erster Linie daran, dass die Zukunft schwer vorstellbar ist, zumal in einer Zeit, die sich so rasant verändert wie unsere Zeit heute. Und das auf den verschiedensten Ebenen.  

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht mehr die unangefochtene Nummer eins im weltweiten politischen Geschehen; China hat längst zur Aufholjagd angesetzt, während die Bedeutung Europas politisch und wirtschaftlich immer weiter abnimmt. Gleichzeitig ist eine technologische Revolution im Gange: Durch Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz verändert sich die Arbeitswelt dramatisch: hoch qualifizierte und kosmopolitische Menschen werden Nutznießer sein, doch geringer Qualifizierte und Teile des Mittelstandes stehen vor einem Abstieg.

Wirtschaftliche Giganten wie Apple, Amazon oder Facebook erobern weltweit Einfluss, Nationalstaaten vermögen derenTätigkeiten bisher noch nicht unter Kontrolle zu bringen. Und gegenüber Klimawandel, Umweltverschmutzung, Biotechnologie oder dem zunehmenden demographischen Wandel vor allem in Afrika sind wir noch auf der Suche nach nachhaltigen Lösungen.  

Wohl jeder dürfte angesichts derart zahlreicher Veränderungen und unklarer Zukunftsperspektiven das Gefühl kennen: Es geschieht viel zu viel zur selben Zeit, es geschieht viel zu schnell und vieles geschieht zu unkontrolliert.  

Und so lautet meine These:

Etliche Menschen fühlen sich mit den politischen Umschichtungen, den kulturellen Umwertungen und der sich vollziehenden technologischen Revolution überfordert – sie sehen sich an ihrer Toleranzgrenze angekommen. Sie möchten sich den Herausforderungen am liebsten entziehen, weiter das Leben führen, das sie kennen, weiter nach den Regeln leben, die ihnen seit Kindheit vertraut sind, nichts Neues riskieren, sondern in vergangene nationale Gefilde fliehen. Die zunehmende innergesellschaftliche Differenzierung empfinden sie nicht als Entlastung, sondern weitere Bedrohung, als eine fremde Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen.  

Wir alle wissen allerdings: Die Welt steht niemals still. Veränderung geschieht, selbst wenn Menschen sie nicht wollen und wenn sie fürchten, was sie verändert. Es gibt zwar die Möglichkeit, sich völlig abzuschotten und sich taub und blind zu stellen. Dann macht sich der Mensch allerdings zum Objekt der Entwicklung und nimmt sich die Chance, gestaltend einzugreifen. Wer die Herausforderung hingegen annimmt und sich dem Neuen stellt, demonstriert Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsmacht. Insofern macht Toleranz auch zukunftsfähiger. 

Nun weiß ein jeder aber auch, dass die Bereitschaft, sich dem Neuen zu stellen und ein Risiko einzugehen, sehr unterschiedlich unter den Menschen verteilt ist. Die einen fühlen sich am wohlsten, wenn sie unter ihresgleichen verkehren – unter Landsleuten aus möglichst derselben sozialen Schicht, derselben Region und mit möglichst ähnlichen politischen Auffassungen; sie ziehen es vor, im Status Quo zu verharren, weil sie Zweifel haben, ob der Fortschritt wirklich dem Guten dient oder nicht auch das Schlechte fördert.  

Die anderen sind offen für andere Menschen, andere Ideen, andere Orte, weil sie sich von Veränderungen eine Erweiterung ihres Wissen und ihres Freiheitsspielraums versprechen. Derartige politische und psychische Dispositionen sind nicht in Stein gemeißelt, aber sie verändern sich nur langsam.  

Für mich fällt der Toleranz in diesem Zusammenhang deshalb die große Aufgabe zu, zwischen Fortschrittlichen und Konservativen zu vermitteln, damit ein Gemeinwesen entsteht und erhalten bleibt, das von möglichst vielen Unterschiedlichen akzeptiert wird. Unsere Gesellschaften dürfen nicht in Lager zerfallen oder in unverbundene Fragmente, die nebeneinander her oder gegeneinander leben.  

Lassen Sie mich in diesem Kontext auf die Entwicklung in den sogenannten neuen Bundesländern – der ehemaligen DDR – zu sprechen kommen. Fast alle Bürger in der DDR haben die Demokratie und die Wiedervereinigung ersehnt. Aber als die Freiheit errungen war, breiteten sich bei vielen Gefühle der Fremdheit aus. Wir neuen Bundesbürger mussten unsere Regeln und unser Verhalten an westliche Normen angleichen, viele Menschen verloren ihre Existenzen, Hunderttausende wanderten in den Westen ab. Wie man seine Interessen in einem demokratischen Staat vertritt, hatten wir nicht gelernt. Ich bin – wie sicher auch viele von Ihnen im kommunistischen Polen - nicht mit einem Gebot zur Toleranz aufgewachsen, sondern mit einem Verbot zur Toleranz. Wir konnten nur in Gegensätzen denken: "Wir" gegen "sie".  

Doch was im Kommunismus richtig war, und wofür wir die Gewerkschaft Solidarność bewundert haben, erwies sich im demokratischen, wiedervereinigten Deutschland als hinderlich. Gilt es in einer Demokratie doch, Kompromisse zu finden, nicht vorschnell Barrieren aufzubauen, gilt es doch, sich auszutauschen und auf Argumente eingehen zu lernen. Tatsache ist jedenfalls: In der DDR wie auch in den anderen mittelosteuropäischen Ländern fehlten zwei Generationen Debattenkultur, Freiheit, Einübung in Vielfalt und Toleranz, in eine Pluralität wie in Westeuropa.  

Zudem hat Mitteleuropa einen wahren demographischen Aderlass zu verkraften. Zurückgeblieben sind überproportional mehr jener Bürger, denen Sicherheit, Konformität und Festhalten an alten Gewohnheiten wichtiger sind als Unabhängigkeit, Offenheit und Neugier auf Neues.  

Auch wenn sicher kein monokausaler Zusammenhang zwischen Abwanderung und Wahlverhalten besteht, so ist doch auffällig, dass Ostdeutschland anders wählt als Westdeutschland – und die AfD besonders viele Stimmen in Gegenden erhielt, in denen besonders viele Menschengegangen sind. Genauso wenig dürfte es Zufall sein, dass sich in Ungarn und Polen starke rechtsnationale Parteien durchsetzen konnten. Deren Forderungen nach mehr nationaler Souveränität scheinen vielen Bürgern tröstlich und beruhigend, nachdem sie sich durch die unerwartet hohen Anforderungen supranationaler Institutionen und unvertrauter kultureller Codes überfordert fühlten.  

Der Weg, den wir im Osten des Kontinents deswegen zurückzulegen haben, um die vielfältigen aktuellen Herausforderungen zu bestehen, ist länger als der Weg von Menschen in Westeuropa, die sich früher auf einen Modus der beständigen Veränderung einstellen konnten.  

Ich bin allerdings überzeugt: Wenn es vor über vierhundert Jahren gelang, sogar in den letzten, den "absoluten" Fragen eine Übereinkunft zu erzielen und Toleranz zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen durchzusetzen, sollte das auch heute möglich sein, wo es in der Regel "nur" um politische oder weltanschauliche Differenzen geht. Vor allem, wenn wir uns bewusst machen, dass es sich bei der Toleranz nicht nur um eine moralische Tugend handelt, sie vielmehr auch ein Gebot der politischen Vernunft ist.  

Es gilt, sich der Wirklichkeit zu stellen. Unsere modernen Gesellschaften sind inzwischen sehr divers. Deutschland ist in den letzten fünfzig Jahren ein Einwanderungsland geworden, selbst Polen hat sich durch die hohe Zahl von Ukrainern verändert. Und die politischen und weltanschaulichen Positionen in den offenen europäischen Gesellschaften umfassen inzwischen ein breites Spektrum: Von rechts bis links, von gläubig bis atheistisch, von genderorientiert bis traditionell familienorientiert, von muslimischen bis christlichen Traditionen, von prinzipiellen Abtreibungsgegnern bis Menschen, die Abtreibungen in Notsituationen erlauben wollen.  

Für mich ist es nun eine Grundsatzfrage, wie man den Andersdenkenden behandelt: Als gleichberechtigen Gegner, mit dem es in einen Wettstreit der Positionen einzutreten gilt, oder als einen Feind, der aus dem Diskus auszuschließen, moralisch zu vernichten und für nicht satisfaktionsfähig zu erklären ist. Da eine Demokratie erfahrungsgemäß am besten dann funktioniert, wenn in ihrem Debattenraum tatsächlich die Meinungen von ganz Verschiedenen abgebildet und berücksichtigt werden, liegt die Antwort auf der Hand.  

In einer demokratischen Gesellschaft sollten Positionen selbst dann toleriert werden, wenn man sie für einen Irrtum hält oder mit einem deutlich negativen Werturteil verbindet. Viele Katholiken beispielsweise halten Abtreibungen für eine schwere Sünde/einen Mord, müssen aber hinnehmen, dass Frauen in Deutschland unter bestimmten Bedingungen Abtreibungen straffrei vornehmen können, weil eine Parlamentsmehrheit dies so beschlossen hat. Wenn allerdings Andersdenkende verteufelt werden oder wenn sich Minderheiten – wie partiell in den USA geschehen – in einer arroganten Form nur um sich selbst drehen und die Interessen von Mehrheiten ignorieren, dann steht der gesellschaftliche Zusammenhalt auf dem Spiel.  

Dann fällt Gesellschaft in unverbundene Segmente auseinander.  

Aber "nationale Politik", so schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla, "dreht sich in gesunden Zeiten nicht um ‚Differenz’, sondern um Gemeinsamkeiten." Ich denke, dass sich dieses – nennen wir es weitherzige - Verständnis von Toleranz in unseren Gesellschaften bei vielen erst noch durchsetzen muss. In Deutschland jedenfalls werden von der Toleranz oft schon Menschen oder Organisationen ausgeschlossen, wenn sie sich nicht im Rahmen eines weitgehend akzeptierten liberalen Mainstreams bewegen.  

Wird in Deutschland beispielsweise jemand als "rechts" erklärt, rückt er leicht in die Ecke von rechtsradikal bzw. rechtsextremistisch – und damit gilt es oft als verpönt, mit ihm etwa auf universitären Podien zu diskutieren oder ihn als vollwertigen, gleichberechtigten Partner im gesellschaftlichen Diskurs zu behandeln. Intoleranz halte ich hingegen erst dann für geboten, wenn einzelne Personen oder Parteien unseren Gesetzen und unserer Verfassung zuwider handeln und sich ihrerseits intolerant gegenüber anderen verhalten. Dann sind Staatsanwälte, Gerichte, Kommunen und Landkreise und wir alle als Teil der Zivilgesellschaft aufgefordert: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit gilt es einen Riegel vorzuschieben.  

Wer anderen ihre Würde abspricht, wer ihnen Rechte nimmt oder vorenthält, wer Menschen- und Bürgerechte missachtet, für den kann es keine Toleranz geben – gleichgültig, welcher Ethnie oder Religion er angehört, gleichgültig auch, ob es sich um einen Einheimischen  oder einen Eingewanderten handelt.  

Ich halte daher auch den Kulturrelativismus, wie er in Deutschland manchmal aus Angst vor Rassismus praktiziert wird, für eine unangebrachte Nachsicht – eine falsche Toleranz gegenüber der eingewanderten Minderheit. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich selbstverständlich der Diskriminierung entgegenzustellen, die Eingewanderte leider oft in ihrem Gastland beziehungsweise ihrer neuen Heimat erfahren.  

Die Mehrheitsgesellschaft darf aber auch nicht wegschauen, wenn in den Communitys der Eingewanderten Frauenrechte verletzt oder Homosexuelle verfolgt werden. Eine liberale Gesellschaft hat das Individuum auch vor der Repression der eigenen Gruppe zu verteidigen.  

Wir können es auch anders formulieren: Unrecht darf auch dann nicht übersehen werden, wenn es von den "Eigenen" begangen wird, weder in den Minderheiten noch in den Mehrheiten. Es ist noch nicht lange her, da dachten Politiker und Militärs in Deutschland: "If right or wrong – my country!" Die unbedingte Loyalität dem Vaterland gegenüber war wichtiger als die Frage nach dem guten oder dem verwerflichen Tun eben dieses Vaterlandes. Doch inzwischen wissen wir, dass derart falsche Toleranz auf diejenigen zurückfällt, die sie praktizieren. Falsche Nachsicht untergräbt das Vertrauen. Auch wenn es manchen schwer fällt und nicht wenige darin sogar einen Verrat sehen: ein Vertuschen von verbrecherischem Tun ist immer ein Verrat an den Opfern. "Eigene", die kriminell werden und Menschenrechte verletzen, verdienen keine Nachsicht – nicht als Mitglieder der Partei, deren Mitglied ich bin, nicht als Mitglieder der Kirche, zu der ich mich bekenne, und auch nicht als Angehörige der Nation, der ich ebenfalls angehöre.  

Meine Damen und Herren,

Toleranz – das ist nun hinlänglich deutlich geworden – ist schwer. Wenn wir sie trotzdem fordern und rühmen, so deshalb, weil sie eine zivilisatorische Errungenschaft ist – zum Nutzen der Gesellschaft, aber auch des Individuums.  

Toleranz zwingt den Menschen zur Selbstüberwindung. Sie fordert von ihm, einer impulsiven Reaktion zu widerstehen und auf Anderes, Fremdes, Dissonantes nicht spontan mit Wut oder Aggression zu reagieren. Sie lehrt den Menschen, im Anderen nicht gleich den Feind zu sehen, den es zu bekämpfen, zu unterwerfen, unter Umständen sogar zu vernichten gilt, sie fordert vielmehr ein soziales Verhalten, das auf den anderen Rücksicht nimmt. Ohne Toleranz hätte die Menschheit sich aufgrund ununterbrochener Kämpfe längst selbst vernichtet.  

Wer sich einer Herausforderung also stellt und sie erfolgreich bewältigt, wird mit Glücksgefühlen belohnt. Wer sich selbst überwindet, dem wachsen ein größeres Selbstbewusstsein und ein größeres Selbstvertrauen zu. Toleranz "lohnt" sich also. 

Und so sollten wir Toleranz mit voller Überzeugung und offensiv zu einem lebenslangen Lernprogramm erklären: zum Vorteil des Einzelnen und zum Vorteil der Gesellschaft.  

Und in dem Bewusstsein, dass wir damit die universalen Rechte verteidigen, die allen Menschen zustehen:

Würde, Unversehrtheit, Freiheit und Rechte.

Niech żyje tolerancyjna demokratyczna Europa!