Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Erinnerung an Samtene Revolution

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede - Archivbild

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede - Archivbild

Erinnerung an die Samtene Revolution 1989

16. November 2019, Prag, Tschechien

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

 Zunächst ein Dank: Zum einen den Tschechischen Philharmonikern und dem Institut für die Erforschung totalitärer Regime dafür, dass sie die Erinnerung an die Revolutionen im Herbst 1989, die große Teile Mittel- und Osteuropas in eine Phase der Hoffnung und des Wandels versetzten, mit einem so wundervollen Konzert würdigen.

Zum anderen dafür, dass Sie mir die Ehre erweisen, daran teilzunehmen, und mich gebeten haben, einige Worte an Sie, hier in Prag, zu richten. Vor 30 Jahren wollten sich die Menschen nicht nur ihrer Unterdrücker und Diktatoren entledigen.

Sie haben in Prag, Bratislava, Dresden und in ganz Mittel-Osteuropa auch Ja gesagt zu einem friedlichen, freien und geeinten Europa ohne Stacheldraht und Grenzmauern.

Heute bei Ihnen zu sein, das ist für mich als Deutschen, der im Krieg geboren wurde, von zusätzlicher Bedeutung, weil dieser „Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie“ auch an den 17. November 1939 erinnert. Vor 80 Jahren waren es ebenfalls mutige, vor allem junge Bürgerinnen und Bürger, die in Prag zunächst friedlich gegen die deutschen Besatzer protestierten. Am verhängnisvollen 17. November 1939 wurden dann im Rahmen der „Aktion Prag“ die tschechischen Hochschulen von den Deutschen geschlossen, Studenten verhaftet, verschleppt und ermordet. Dieser Teil der Erinnerung legt sich auch heute noch wie ein Schatten über unsere gemeinsame Geschichte und erfüllt mich mit Traurigkeit. 

Aber an diesem Tag denken wir besonders an den Mut, die Freiheitsliebe, die Hingabe der Studenten damals und machen uns bewusst, dass es den Bürgerinnen und Bürgern Prags in keiner der Diktaturen an Hoffnung und an Mut gefehlt hat, weder in der Zeit der deutschen Besetzung noch in Zeiten der kommunistischen Fremdherrschaft.

Ende der 1960er Jahre formierte sich in der Tschechoslowakei bereits ein breiter, aus unterschiedlichen Quellen gespeister Widerstand gegen die Unterdrücker aus Moskau. Bei der Niederschlagung des Prager Frühlings offenbarte sich erneut der wahre Charakter der kommunistischen Herrschaft, als sie ihren Machtanspruch mit massiver militärischer Gewalt durchsetzte. Jedem wurde damals deutlich, dass mit Gewalt und Repression rechnen muss, wer sich gegen die herrschende Macht stellt. Die Tage nach der militärischen Intervention waren geprägt von Desillusionierung; die allgemeine Solidargemeinschaft, die sich zuvor gebildet hatte, zerbrach schnell unter dem Druck von außen. In den folgenden Jahren war die Gesellschaft durchzogen von Depressivität, erzwungener Anpassung, auch vielfachen Rückzug in private Nischen.

Die Hoffnung auf ein besseres, ein menschlicheres und auch anderes Regime ließ sich allerdings nicht zerstören. Im Gegenteil: Der unangepasste Teil der tschechoslowakischen Bürgergesellschaft blieb auch in den folgenden Jahren wach. Václav Havel sprach schon im Januar 1969 eine Wahrheit aus, die immer mehr Menschen die Augen öffnen sollte: „Unser Schicksal hängt von uns selbst ab.“

Das war nicht nur die formelhafte Zeile eines Dramatikers, sondern ein inspirierendes und ermutigendes Leitmotiv einer Gruppe von ganz unterschiedlichen Bürgerrechtlern. Wir erinnern uns an den Philosophen Jan Patočka, den ehemaligen Außenminister Jiří Hájek, den Schriftsteller Pavel Kohout und natürlich Václav Havel selbst und vielen mehr; auch Sie, werter Herr Pithart, gehörten zu diesem Kreis. Wir rühmen ihren Mut, als sie sich in einer gemeinsamen Erklärung, der Charta 77, auf das beriefen, was die Machthaber selbst, mit der Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte und teils in eigenen Gesetzen garantiert hatten: Das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Bekenntnisfreiheit oder auch das Recht auf Bildung. 

Natürlich haben die Mächtigen das Eingeforderte verweigert, sie diskreditierten die Unterzeichner, verhafteten die Verfasser der Erklärung und drängten weniger Mutige zur Abgabe obskurer Gegenerklärungen. Sie zementierten die „Ohnmacht der Ohnmächtigen“, wie Havel es ausdrückte, setzten auf Repression und Unterdrückung.

Ja, sie konnten bespitzeln, verhaften und verraten, aber sie konnten die Hoffnung, die Sehnsucht nach Freiheit nicht auf Ewig unterdrücken. Sie gehört zu unserem Menschsein.

Und auch wenn es nur vereinzelt direkte Kontakte zwischen den doch sehr unterschiedlichen oppositionellen Bewegungen und Gruppierungen in Mittel- und Osteuropa gab, so fanden sich doch Mittel und Wege – oft über das westliche Ausland –, um von den Texten und Aufrufen aus den „sozialistischen Bruderstaaten“ zu erfahren. Die Charta 77, wie auch später die Solidarność –Bewegung waren wichtige Quellen der Inspiration und Bestärkung für regimekritische Menschen in meiner ostdeutschen Heimat.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich selbst 1989 in Rostock als Sprecher des „Neuen Forums“ Václav Havels so schlicht klingenden Satz: „Die Macht der Mächtigen kommt von der Ohnmacht der Ohnmächtigen“ vor tausenden Menschen zitierte. Uns sollte bewusst werden, dass wir nicht Bürger einer neuen Gesellschaftsordnung wären, sondern genau genommen Untertanen. Die Herrschenden nannten es Sozialismus, für die Beherrschten war es eine Existenz in perpetuierter Ohnmacht. Was für eine Wiedergeburt, als wir die Lebensform des Citoyens wieder als die uns zustehende erkannten und erkämpften. Uns leitete damals auch die Idee eines Europas als ein Raum des Friedens, der Freiheit und der Menschenwürde – das stärkte Menschen in vielen Ländern.

Zuvor hatte uns schon der Prager Appell der Charta 77 aus dem Jahr 1985 Mut gemacht. Mit diesem wurde als Teil der Friedens- und Abrüstungsdebatte bereits angedacht, was innerhalb der DDR-Opposition noch undenkbar war und wohl auch in Westdeutschland kaum jemand auf der Tagesordnung sah: Auf dem Weg zur europäischen Einheit müssten die Deutschen frei entscheiden können, ob und in welcher Form sie die Verbindung ihrer zwei Staaten wollen.   

Sehr geehrte Damen und Herren,

angesichts dessen, was wir alles erreicht haben, seitdem wir die Angst überwanden, uns gegenseitig ermutigten und friedlich für Demokratie und Menschenrechte protestierten, sollten wir uns angesichts neuer Herausforderungen nicht klein machen oder gar an unseren Hoffnungen von damals zweifeln. Im Gegenteil. Zu den zentralen Botschaften der Friedlichen oder Samtenen Revolution gehört: Wir können uns selbst ermächtigen. Unser Schicksal hängt von uns selbst ab. Wir haben das errungen, wonach sich Menschen in vielen Ländern der Welt noch heute sehnen: Frieden, Freiheit, die Achtung der Menschenrechte und auch Wohlstand.

Umso erschütternder ist es, dass in vielen Ländern Europas, gerade auch Mittel- und Osteuropas Politiker Ressentiments schüren und versuchen zu untergraben, was als Grundlage eines freien, selbstbestimmten Lebens unbedingt zu verteidigen ist: Demokratie, die Herrschaft des Rechts, Toleranz und Vielfalt. Diese Demagogen haben weder den Befreiungsakt von 1989 verstanden noch wissen sie, was die Demokratie uns allen gebracht hat. Wer mit nationalistischen, fremdenfeindlichen oder populistischen Parolen zündelt, zielt doch nicht auf die Emanzipation der Bürger und nicht auf die Verbesserung der Demokratie, sondern umgekehrt auf die Entmündigung von Bürgern und auf die Beschädigung der Demokratie.

Unsere Demokratie ist aber nicht nur bedroht von Extremisten oder Ideologen. Sie kann auch ausgehöhlt werden und ausdörren, wenn die Bürger im Land sie nicht mit Leben erfüllen.

In einer Demokratie hängt es immer auch von Jeder und Jedem ab, ob und wie gut sie funktioniert. „Wir sind das Volk“, das war der Ruf der Demonstranten in der DDR. Das gilt auch heute, in der Demokratie.

Und wer in diesen Tagen auf die Straße geht, um für seine Anliegen zu demonstrieren, macht erneut oder erstmals die Erfahrung: Nur wer abseits steht und sich heraushält, wird zum beherrschten Objekt. Wer aber das Schweigen bricht und für seine Meinung einsteht, wer sich für zuständig erklärt, der übernimmt Verantwortung als Bürgerin oder Bürger.

Mir und auch Ihnen ist wahrscheinlich bewusst, dass die Demokratie nicht vollkommen ist. Anders als andere Staatsformen erhebt sie auch gar nicht diesen Anspruch. Im Gegenteil: Sie ist lernfähig und -willig. Sie ist die einzige Ordnung, die ihre Defizite und Mängel nicht zu verstecken trachtet, sondern sie lösen will, etwa durch wissenschaftliche Erkenntnisse, im – zuweilen auch robust geführten – Wettstreit der unterschiedlichen Meinungen! Und sie schätzt und fördert die aktive Zivilgesellschaft genauso wie eine unabhängige Presse.

Und gerade in Zeiten, in denen an vielen Orten erreichte Ordnungen in Frage stehen und viele Gewissheiten verloren gehen, sollten wir uns an unsere eigenen Erfahrungen erinnern. Wir sollten uns der Herausforderung stellen und die liberale Demokratie verteidigen.

Wir haben diese Freiheiten gemeinsam erkämpft – und ich wünsche mir, dass wir diese Freiheiten auch gemeinsam nutzen und ausfüllen!

Ich wünsche mir auch, dass wir die Lockrufe der Populisten in ganz Europa verhallen lassen, und stattdessen die Kontroversen um die richtigen politischen Lösungen nicht scheuen!

Und ich wünsche mir zuletzt, dass wir nicht den diffusen Ängsten folgen, sondern den Wert unserer freiheitlichen Ordnung erkennen und gemeinsam für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und für ein solidarisches Europa einstehen!

Dann können auch wir mit Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft schauen, wie es die Menschen vor 30 Jahren taten, als sie für ihre Freiheit auf die Straßen gingen.