Laudatio auf Donald Tusk
01. Dezember 2019, Hamburg
Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein. Und das, obwohl ich den Vormittag des ersten Advents normalerweise in der Kirchgemeinde verbringe. Meine Freude heute hier im Deutschen SchauSpielHaus zu sein, hat starke Gründe. Gemeinsam mit der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, DIE ZEIT und der Marion Dönhoff Stiftung ehren wir die jungen Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future und den lebens- und politikerfahrenen Europäer Donald Tusk.
Lieber Herr Tusk,
die Jury des Marion Dönhoff Preises ehrt Sie für ihre Verdienste als polnischer Ministerpräsident und als Präsident des Europäischen Rats; sie ehrt Sie für ihr Engagement beim Aufbau eines demokratischen und freien Polen und bei einer Annäherung von Ost- und Westeuropa.
Ich gestehe, dass diese Ehrung eine besondere Freude in mir ausgelöst hat und ich der Bitte, eine Laudatio zu halten, sehr gern nachkomme. Denn ich fühle mich wie wohl so mancher Akteur von 1989 bei dieser Ehrung mitangesprochen: Wir gehören zu denen, die den Großteil ihres Lebens in einem kommunistischen System verbringen mussten und zu denen, die nach den friedlichen Revolutionen von 1989 Verantwortung in nun demokratischen Ländern übernommen haben. Mit Ihnen, lieber Donald Tusk, war ein Osteuropäer sogar erstmals in ein europäisches Spitzenamt aufgerückt.
Ja, Donald Tusk ist "einer von uns", die wir Freiheit und Demokratie oft mehr zu schätzen wissen als diejenigen, die nie darauf verzichten mussten. Das hat der heutige Preisträger auch in den fünf Jahren seiner EU-Ratspräsident erneut eindrücklich bewiesen.
Lieber Donald Tusk, ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zu diesem Preis!
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum ich mich Donald Tusk nahe fühle – keinen politischen, sondern einen ganz persönlichen, biografischen Grund. Wir stammen beide aus Hansestädten, diesen Orten des Handels und der Weltoffenheit, mit ihrer unverwechselbaren Backsteingotik, den prächtigen Giebeln an den Fassaden der Kaufmannshäuser und – in beiden Städten – den imposanten Marienkirchen. Auch Tusk kennt die Stürme an der Ostsee, die Atmosphäre des Hafens und der Schiffswerften. Seine Geburtsstadt hat ihn geprägt, mit ihrer Tradition, ihrer Geschichte und – ja: mit ihrer Politik.
Er war erst 13, als er im Dezember 1970 von seiner Wohnung aus sah, wie Polizei und Armee das Feuer auf protestierende Werftarbeiter eröffneten. 41 Arbeiter kamen damals um. Ein Jahrzehnt später erlebte er auf der Danziger Lenin-Werft die Gründung von Solidarność, der ersten freien und unabhängigen Gewerkschaft in Osteuropa. Nach ihrem Verbot war er zeitweilig im Untergrund, gründete selbst eine illegale Zeitschrift, und wurde Akteur einer liberalen Danziger Bewegung, die aus den Traditionen des Liberalismus ebenso schöpfte wie aus den christlichen Wertvorstellungen. Später, nach 1989, im bereits frei gewählten polnischen Parlament, ist seine liberal-konservative Partei gleich zwei Mal siegreich aus den Parlamentswahlen hervorgegangen. Und zwei Mal wurde Donald Tusk zum Ministerpräsidenten gewählt. Er war und blieb ein homo politicus.
Sein Wechsel 2014 in das Amt des EU-Ratspräsidenten zeugt von dem Vertrauen, das er sich auch im Ausland erworben hatte. Er hat Polen in Brüssel als berechenbares und vertrauenswürdiges Land vorstellen können, das es wie kaum ein anderes ohne Rezession durch die Finanzkrise 2008 schaffte. Er hat nach langer antideutscher Propaganda im kommunistischen Polen gute Beziehungen zu Deutschland aufgebaut und den Auschwitz-Überlebenden Władysław Bartoszewski zu seinem Brückenbauer ernannt. Tusk wurde zum Gesicht für ein offenes, modernes Polen, das nationale Traditionen und europäische Eingebundenheit miteinander in Einklang zu bringen versuchte. Er stieß die Gründung des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig an, das allen – und nicht nur den eigenen – Opfern Rechnung trägt. (Und dessen Kernaussage nun verändert zu werden droht.)
Kurzum: Tusk war ein idealer Kandidat, der nationale und europäische Sichtweisen zu verbinden wusste und zudem den Auffassungen der neuen, östlichen Mitgliedern der EU mehr Gewicht zu geben versprach.
Und doch: Erinnern Sie sich, wie viele Medien anlässlich seines Amtsantritts als EU-Ratspräsident über seine verbesserungswürdigen Englischkenntnisse schrieben?
Scheinbar handelte es sich ja nur um eine Kleinigkeit. Aber in dieser Kleinigkeit steckte bei so manchem der Stachel, der paternalistische Blick des Westens auf den Osten: Leben dort nicht die armen Verwandten, weniger gebildet, weniger wohlhabend, weniger weltläufig?
Und tatsächlich: Hinter dem Eisernen Vorhang konnten die Menschen kaum Erfahrung mit fremden Welten sammeln. Englisch, die moderne lingua franca, war Menschen wie mir und Donald Tusk genauso wenig geläufig wie das Leben in einer freien und multikulturellen Gesellschaft. Aber – und das habe ich immer wieder gesagt – Westeuropäer sind nicht klüger als Osteuropäer. Westeuropäer haben auch keinen besseren Charakter. Osteuropäern fehlten über drei Generationen einfach die Lern- und Trainingsmöglichkeiten, die ermächtigenden Erfahrungen der emanzipatorischen Gesellschaft, um sich nach 1989 umstandslos in die globalisierte Welt des Westens integrieren zu können.
Donald Tusk hat allerdings auf brillante Weise gezeigt, wie schnell Veränderung möglich ist, wenn man sich von einem "Yes, I can" leiten lässt. "I will polish my English" erklärte er selbstironisch und präsentierte nach einem Intensivkurs nicht nur ein Englisch, mit dem er sich auf Pressekonferenzen zu schlagen vermochte. Er trat auch überraschend sicher auf dem vielstimmigen, europäischen Parkett auf, das er in leitender Funktion doch gerade erst betreten hatte.
Und auch das liegt an Danzig. Denn Danzig, sagt Tusk, ist ein europäischer Mikrokosmos. Eine Stadt, die, bevor sie an Preußen fiel, mehr als dreihundert Jahre der Polnischen Krone unterstand. Eine Stadt, die geprägt wurde von Deutschen und Polen, Schotten und Holländern, Juden, Kaschuben und Tataren, Mennoniten, Hugenotten, Protestanten und Katholiken. Eine Stadt mit einer selbstbewussten Bevölkerung, deren Kosmopolitismus und Frechheit von Konservativen gerügt wurde. Erst die deutsche Besatzung und der Zweite Weltkrieg haben diese Vielfalt radikal zerstört. Doch die untergegangene Welt ist nicht allein in Büchern zu entdecken, ihre Spuren finden sich auch in restaurierten Häusern, in Parkanlagen oder – wo Donald Tusk sie als Kind entdeckte – auf Friedhöfen mit vielen fremden Namen. Und wer mutig genug ist nachzufragen, entdeckt die Vielfalt von Ethnien, Sprachen und Traditionen unter Umständen sogar in der eigenen Familie.
Tusk wuchs in einer polnisch-kaschubischen Familie auf. Mit einem Großvater mütterlicherseits, der einem seiner Söhne den Vornamen Jürgen gab, aber als Pole unter deutscher Besatzung Zwangsarbeit leisten musste. Der Großvater väterlicherseits wurde erst von der deutschen Besatzungsmacht ins KZ gesteckt, dann als Kaschube zur Wehrmacht eingezogen – von wo er allerdings schnell desertierte. Eine Großmutter war Deutsche. Eine Großtante ging bei der Flucht aus Danzig auf der "Wilhelm Gustloff" unter.
Wer in einer solchen Familie aufwächst, der lernt, dass sich Geschichte nicht schwarz-weiß malen lässt und ethnische Zugehörigkeit nicht automatisch über die individuelle Option entscheidet. Wer so aufwächst, der erfährt, wie "das Eigene" prägt, aber nicht zwangsläufig zu Feindschaft gegenüber dem Anderen führen muss. Nationalismus jedenfalls ist Donald Tusk fremd. Tusk kann sie alle vereinen – seine Identitäten als Danziger, als Kaschube, als Pole, als Europäer. Und sein Europa ist die selbstgewählte Einheit der Verschiedenen. Diese zu sichern und zu entwickeln ist das Ziel, ja die Obsession von Donald Tusk im Kleinen wie im Großen.
Er wirbt voller Begeisterung für die Europäische Union, obwohl er weiß, dass diese Werbung keinen großen Begeisterungssturm mehr hervorruft. Aber wird dadurch weniger richtig, dass die Union die einzige Alternative ist zu Krieg und Gewalt? Dass sie Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten Heimat bietet wie kaum eine andere staatliche Gemeinschaft auf der Welt? Lasst uns achten, was uns verbindet, wiederholt Tusk immer und immer wieder. Wehrt allen Versuchen, die europäischen Länder durch ausländische Einflussnahme auseinander zu treiben – nur als politische und wirtschaftliche Einheit kann die EU ein Gegengewicht gegen die großen Supermächte bilden. Lasst uns das transatlantische Bündnis hochhalten! Stellt euch auch gegen alle Versuche, die Bürger gegeneinander aufzubringen. Wenn Feinde erst einmal ausgemacht sind, ist es nicht weit zu Diskriminierung, zu Hass oder gar zu Gewalt. Stark wird Europa nur demokratisch sein, und stark wird es nur vereint sein.
Ein EU-Ratspräsident hat keine politische Macht – außer durch das Wort. Einfluss nehmen kann er nur durch Argumente und Überzeugungsarbeit – und Tusk wollte Einfluss nehmen. Er wollte immer mehr sein als ein bloßer Koordinator dessen, was Staats- und Regierungschefs vorschlagen. Er wollte immer auch seine Agenda setzen. "Ich bin Politiker, kein Diplomat", erklärte er unlängst in einem Interview mit der französischen Zeitung "Le Soir". Vom Beginn seiner EU-Ratspräsidentschaft an griff er in politische Debatten ein, was nicht in allen europäischen Hauptstädten gut ankam. Doch selbst wenn ihm nicht immer Erfolg beschieden war, hat er doch deutliche Akzente gesetzt.
Die Einheit der EU zu erhalten war Tusks bestimmende Richtschnur. Ihn besorgte die aggressive Politik Putins, die sich nicht nur bei der Besetzung der Krim und in der Ostukraine zeigte, sondern auch an seinen Spaltungsversuchen innerhalb der EU. Russland ist nicht der strategische Partner, erklärte Tusk in seiner letzten großen Rede als EU-Ratspräsident Mitte November in Brügge, Russland ist das strategische Problem. Sorgen wir dafür, dass sich kein Spaltpilz in der EU einnistet.
Die Einheit zu erhalten, bestimmte Tusks Position auch gegenüber dem hoch verschuldeten Griechenland. Lasst uns in der Krise stärker politische und geo-strategische als finanzielle Umstände berücksichtigen, lautete seine Linie. Im Ergebnis blieb die Eurozone zusammen und Griechenlands Wirtschaft befindet sich heute im Aufwind.
Bleibt das Problem des Brexit. An das Ausscheiden des Inselreichs aus der EU will Tusk erst dann glauben, wenn der Schritt wirklich vollzogen ist. Bis dahin hofft er auf ein Wunder. Da die Chancen dafür jedoch schlecht stehen, brechen manchmal Frustration und Enttäuschung aus ihm heraus. Dann kann der Mann, der offensichtlich den freien Geist und die Frechheit ehemaliger Danziger Bürger geerbt hat, den Brexit-Aktivisten auch schon mal einen "speziellen Platz in der Hölle" wünschen.
Nicht nur Freunde hat Tusk sich auch mit seiner Vorstellung von Migrationspolitik gemacht. Migrationspolitik, so Tusk seit 2015, darf kein Ausdruck von Hilflosigkeit sein, Migrationspolitik ohne Sicherung der Außengrenzen kann es nicht geben. Genauso selbstverständlich, wie Europa seinen humanitären Verpflichtungen nachzukommen hat, muss es dem Sicherheitsbedürfnis seiner Bürger Rechnung tragen. Denn (ich zitiere ihn): "Menschen schätzen Freiheit und Offenheit, solange sie sich sicher fühlen." Wenn die liberalen Demokratien es allerdings nicht schaffen, ihren Bürgern das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, ist das Erstarken von Populisten, Nationalisten und Autokraten nahezu zwangsläufig.
Lieber Donald Tusk,
Sie wissen: "Europa ist der beste Platz auf Erden". Sie wissen aber auch, dieser Platz benötigt Renovierungsarbeiten – neue Wege und Anlagen, neue Ideen und neue Transparenz. Er benötigt Planer, die energisch durchzugreifen vermögen, ohne in Extreme zu verfallen. Und ich bin glücklich, Sie auch in Zukunft an einer Stelle zu wissen, an der Sie auf diese Renovierungsarbeiten erheblichen Einfluss nehmen können. Denn heute feiern wir einen ganz besonderen Tag. Heute ist der erste Tag in Ihrer Funktion als Vorsitzender der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Herzlichen Glückwunsch! Und all unsere guten Wünsche begleiten Sie.
Ich bin sicher, Sie werden weiter als alter Danziger stolz, frech und frei für Europa brennen und alles dafür tun, dass Europa der beste Platz auf Erden bleibt!