Laudatio bei der Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises
06. Mai 2019, Stuttgart
Rede von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck
Ich danke der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung dafür, dass Sie uns alle heute aus einem sehr guten Grund zusammengeführt hat: Wir ehren zwei unabhängige Geister.
Ich darf heute die Laudatio auf einen Mann halten, der die Zahl seiner Auszeichnungen sicherlich nicht spontan überblicken kann. Ich finde es aber gut und richtig, dass Timothy Garton Ash heute ein weiterer Preis verliehen wird, der "Hanns-Martin-Schleyer-Preis für hervorragende Verdienste um die Festigung und Förderung eines freiheitlichen Gemeinwesens". Und ich möchte diese Einschätzung recht persönlich begründen.
Ich werde dabei nicht das eindrückliche wissenschaftliche Werk des Preisträgers umfassend einordnen. Das ist vielfach geschehen und es gibt dafür berufenere Zeugen als mich.
Ich halte heute auch keine Rede über das Thema, das Sie, Timothy, derzeit am meisten bewegt: die Zukunft des Vereinigten Königreichs im Verhältnis zur Europäischen Union.
Ich beginne aber mit einer Äußerung von Ihnen von vor einigen Wochen, die ich uns allen in all dem unübersichtlichen und traurigen Chaos zur Stärkung vor Augen rufen will.
"Ich kann im Brexit nichts Positives erkennen. Es gibt aber einen positiven Aspekt für die Briten. Wir haben endlich, um fünf nach zwölf, verstanden, was uns verloren zu gehen droht. Die proeuropäische Bewegung wächst. Das ist ein Silberstreifen am Horizont."
Ich habe Sie zitiert, weil wir jeden Silberstreifen am Horizont brauchen – aber auch, weil ich (Stichwort "5 nach 12") darauf eingehen will, dass Sie uns in der Vergangenheit zu bestimmten Zeitpunkten auf etwas hingewiesen oder zu etwas gemahnt haben, als die meisten die Zeit dafür noch nicht gekommen sahen.
Manchmal, so wurde es empfunden, waren das Mahnungen zur Unzeit. Oder sagen wir es genauer, Meinungen, die von Zeitgenossen als unzeitgemäß empfunden wurden.
Und genau dafür will ich Sie heute loben, – und auch für etwas, was auf den ersten Blick negativ klingen mag. Es ist aber positiv gemeint, wenn ich sage: Timothy Garton Ash stört.
Er stört unsere Ruhe. Ganz allgemein die Ruhe bestimmter Gewissheiten, aber im Besonderen stört er unsere Ruhe dann, wenn wir meinen, eine Sache sei ein für alle Mal geklärt. Besonders unangenehm kann eine solche Ruhestörung dann sein, wenn wir eines Tages feststellen, dass tatsächlich Dinge in Bewegung geraten sind und wir stehen geblieben sind bei dem, was wir einst für richtig erkannten.
Timothy Garton Ash hat genau das immer wieder getan: Uns frühzeitig vor Augen geführt, dass "ein jegliches seine Zeit hat", was eben auch bedeuten kann: Etwas, das gestern richtig war, kann heute schlicht falsch sein.
Und immer wieder hat er uns dabei auf wichtige Veränderungen hingewiesen, oft auf ärgerliche, schmerzhafte, aber existierende Veränderungen. Diese Hinweise dürfen wir durchaus als nichts anderes als Ruhestörung betrachten, allerdings nötige Ruhestörung, und dafür will ich Timothy Garton Ash heute danken.
An dieser Stelle möchte ich ein kleines Detail seiner europäischen Biografie in den Blick nehmen. Ende der 1970er Jahre kommt Timothy Garton Ash nach Berlin, an die Freie Universität. Er arbeitet über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Für damalige Zeiten äußerst ungewöhnlich und gewiss in Ost und West eher skeptisch beäugt, findet er Wege auch an die Humboldt-Universität und lebt ab 1980 für neun Monate in der "Hauptstadt der DDR".
Schon allein das wird manche akademische Ruhe gestört haben. Auch im Westen, denn man hatte ja sein Urteil über die DDR gebildet, sie war nun mal ein Ergebnis des Hitler-Faschismus und des Kalten Krieges, und man hatte sich nolens volens damit abgefunden, dass sie existiere. Man musste allerdings nicht hinfahren oder gar mit normalen Menschen sprechen.
Das, was Ash, der ja über Widerstand im Nationalsozialismus forschen wollte, darüber hinaus als eine seiner Erkenntnisse dieser Reisen in die DDR beschreibt, war für den akademischen Mainstream der Bundesrepublik zu dieser Zeit eine Provokation:
Dass nämlich, "jenseits der Berliner Mauer im kommunistisch beherrschten Ostdeutschland lebendige Menschen mit demselben Dilemma zwischen Widerstand und Kollaboration zu kämpfen haben. Also schrieb ich statt einer Doktorarbeit über Berlin unter Hitler ein Buch über Berlin unter Honecker. In der Folge beschäftigte ich mich mit Dissidenten im kommunistisch regierten Mitteleuropa und begleitete sie auf ihrem steinigen Weg zur Befreiung."
Ein unzeitgemäßer Ansatz! Das Ernstnehmen der Menschen im Herrschaftsbereich eines menschenfeindlichen Kommunismus war zu dieser Zeit im Westen weitgehend außer Mode gekommen. Sie wurden nicht als Individuen, sondern häufig als Masse wahrgenommen, die der Herrschaftslogik der Kommunisten vollständig unterworfen waren.
Der Verweis etwa auf Menschenrechtsverletzungen – Ash spricht ja bewusst von "lebendigen Menschen" – galt ab einem bestimmten Zeitpunkt im Westen als altmodisch, als gefährlich für Stabilität und Frieden, "kalte Krieger" taten derartiges – "fortschrittliche" Menschen nicht.
War es notwendig und fortschrittlich, Unterdrückte in Nicaragua und Südafrika solidarisch zu unterstützen, über Unterdrückung und Unrecht der eigenen Landsleute im Osten Deutschlands oder gar in Polen oder der Sowjetunion sollte lieber nicht gesprochen werden, um die "Stabilität" des Friedens in Europa nicht zu gefährden. Timothy Garton Ash tat es trotzdem. Er erkannte: Wer politische Entscheidungen allein aus der Logik der Mächtigen trifft, wer denkt, die Lage in einem Land einschätzen zu können, nachdem er doch mit den Regierenden gesprochen hat (die nie gewählt wurden), aber nie mit den Regierten, übersieht vieles und begeht schwere Fehler. Und hier sind wir bei einem der Punkte, an dem Timothy etwas, das einst seine Funktion und seinen Sinn gehabt hatte, als später überkommen und falsch entlarvte.
Ich spreche hier von der Deutschland- oder Ostpolitik: Nach fast zwei Jahrzehnten der Sprachlosigkeiten zwischen Bonn und Ost-Berlin öffnete die neue Ostpolitik unter Willy Brandt und Walter Scheel ab 1966/1969 Türen, die zu lange verschlossen waren.
Ein hoch innovativer Ansatz ("Wandel durch Annäherung") fand international Anerkennung, machte die Mauer durchlässiger und den Frieden sicherer. Er brachte die DDR unter Zugzwang (KSZE) und machte das Leben vieler Menschen ein bisschen besser.
Vision und Pragmatismus kamen in einer Weise zusammen, die den Friedensnobelpreis für Willy Brandt fast logisch machten.
Ich hörte damals als junger Pastor in der DDR über die Westmedien über die Ostpolitik und war mir sicher: "Es ist gut und richtig, dass die Mächtigen miteinander reden. Wie gut, dass Willy Brandt das möglich gemacht hat." Und tatsächlich brauchte es erst einmal offizielle Kontakte zwischen Ost und West. Es brauchte Verträge und Passagierscheinabkommen, die eben nur zwischen Regierenden ausgehandelt werden können, nicht zwischen Bürgergruppen. Das, was auch ich als richtig empfand, war also richtig. Aber eben nur eine bestimmte Zeit lang.
Als dann etwa in Polen ab Ende der 1970er Jahre die Menschen Schritt für Schritt begannen, gegen die kommunistische Herrschaft aufzubegehren, als sich in der DDR Umwelt- und Friedensgruppen in Opposition gegen die SED gründeten, hatte sich die erfolgreiche Bonner Ostpolitik und ihre Sicht auf den Osten teilweise überholt. Es war eben nicht so, dass das Machtgefüge des Kommunismus unerschütterlich war, dass nur der Dialog mit der Macht wichtig war. Ein innovatives Konzept wurde konservativ, alt und fast reaktionär, weil es auch Appeasement bedeutete.
Der Westen ignorierte, was sich in den Gesellschaften im Osten tat. Er bespöttelte die frommen polnischen Arbeiter, die ihre Hoffnungen auf den Papst richteten oder die bärtigen Oppositionellen in der DDR. Konnten die naiven Polen etwa nicht verstehen, dass ihr Aufbegehren gefährliche Folgen für die Ruhe in Europa haben könnte? Sollten sie nicht Geduld haben, statt Forderungen zu stellen, die zwar irgendwie berechtigt, aber für die der Zeitpunkt doch gerade ungünstig war? War es nicht sinnvoller, dass der Westen weiter allein mit den Herrschenden spricht, statt die Träumer auf den Werften in Danzig ernst zu nehmen?
Timothy Garton Ash erkannte diese Neigung im Westen ganz klar. Er notierte 1985 in einem Aufsatz: "Solidarność erscheint ungelegen und als Gefahr." Aber er selbst folgte dieser Herrschaftslogik nie. Er wusste eben von den "lebendigen Menschen" im Osten, denn er war gereist, nicht nur nach Polen, auch in die Tschechoslowakei, nach Ungarn und in die DDR. Immer wieder und nicht auf roten Teppichen. Sondern er spricht mit Studenten, mit Marktverkäufern und Postboten.
Er recherchiert und schreibt also, auch über Menschenrechtsverletzungen in den kommunistisch beherrschten Ländern. Er sieht, hört und spürt mehr, als die Experten im Westen, die sich von den Herrschern im Osten doch recht häufig abspeisen lassen mit Floskeln, mit gefälschten Statistiken oder anderen Potemkinschen Dörfern. "Was immer sich in Polen während der nächsten Jahre entwickeln wird", so schreibt er 1983, "es wird sich von allem bisher Dagewesenen unterscheiden. Auch wenn die Polizei auf den Straßen regiert, dieses Land kann nicht `normalisiert´ – das heißt, den sowjetischen… Normen wieder angepasst werden. Auch wenn das kommunistische System äußerlich erhalten bleibt, im Inneren wird es immer weiter demoliert werden.".
Und über die Tschechoslowakei, in dessen Hauptstadt fünf Jahre später Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft stehen wird, schrieb unser heutiger Preisträger 1984: "Die Politik des Landes ist bis zur Unbeweglichkeit eingefroren (….). Aber unter dem Eis (….), da sind die Dinge in Bewegung." Während man im Westen auf das Eis an der Oberfläche starrte, schaute unser Ash unter die Oberflächen und mithin den lebendigen Menschen Ost- und Mitteleuropas ins Gesicht. Einer von ihnen, ein häufiger Gesprächspartner Ashs, war Václav Havel.
Timothy Garton Ash ist kein Hellseher, der den Fall des Kommunismus prophezeien konnte. Aber er sah mehr, er sah früher und er sah empathischer, welche Risse in den kommunistischen Eisblöcken entstanden. Dass dies in der Bundesrepublik als naiv und überdies als eher unpassend empfunden wurde, steht fest. Ich glaube aber auch nicht, dass man in Großbritannien derartige Konfrontationen mit der Wirklichkeit mochte, die letztlich Fragen zur Nachkriegsordnung auf die Tagesordnung bringen mussten. Auch hier hat Timothy Unruhe gestiftet. Mochte die offizielle Politik der lieben Stabilität wegen sich an die kommunistische High Society halten, so wollte er die Machtlosen wahrnehmen, wollte den lebendigen Menschen im Osten Europas eine Stimme geben. Das gehört für mich zu den besonders eindrücklichen Verdiensten unseres Preisträgers.
Auch heute hören wir übrigens immer wieder, dass man doch bitte Rücksicht auf "Stabilität" nehmen möge, statt etwa Menschenrechtsverletzungen in diesem oder jenen Land anzusprechen. Zwar sei ja manches wünschenswert, aber das solle doch bitte nicht jetzt, nicht heute oder ausgerechnet in dieser Lage angesprochen werden.
Nur so viel: Wer sich darauf einlässt, Menschenrechtsverletzungen zu bagatellisieren, übersieht gefährlich Vieles. Wenn wir aus realpolitischen Gründen schon nicht die Fähigkeit haben, Diktatoren zu stürzen und Unrecht zu beseitigen, so sollten wir doch zumindest die Unterdrückten nicht um Geduld und Ruhe bitten. Sondern ihre Anliegen benennen, für sie eintreten, immer dann, wenn sie selbst dies nicht tun können. Daran erinnern die von der Aufklärung geleiteten Ruhestörer. Und wenn Garton Ash wie 2018 in Berlin und anderswo nach dem Zustand der liberalen Demokratie fragt und feststellt, dass ausgerechnet im freiheitsliebenden Polen und in Ungarn heute illiberales Denken Staatspolitik geworden ist, dann beklagt er nicht nur die dortige Entwicklung, sondern auch Fehler des liberalen Westens.
Er befürchtet gar, dass eine lange, sehr lange "Zeit der Unfreiheit" drohe. Zu den Fehlern westlicher Liberaler zählt er, dass allzu oft der liberale Geist nur auf "technokratischen Individualismus" abgezielt habe. Angesichts des enormen Wandels in der Moderne fehle den Menschen aber Heimat und Zugehörigkeit. Menschen, die so empfänden, helfe es wenig, wenn fortschrittliche Eliten ihren Fokus auf diskriminierte Minderheiten richteten.
Ich teile die Problembeschreibung und noch mehr stimme ich ihm zu mit der von ihm oft vertretenen Auffassung, dass die Demokratie per definitionem liberale Demokratie sei.
Es existiert für mich noch ein weiterer Impuls Ashs, der mich verunsicherte und mein Denken modifizierte. Das betrifft Europa und das "ever-closer-Union"-Ideal. Als Bundespräsident habe ich 2013 eine Rede zu Europa gehalten. Allzu große Kritik an Idee und Praxis des europäischen Einigungswerkes erschien mir kleingeistig. "Wir brauchen Bannerträger, keine Bedenkenträger" sagte ich damals, 2013, überzeugt. Müsste ein überzeugter Europäer wie Timothy nicht begeistert zustimmen? Ich glaube: Sollte er die Formulierung damals wahrgenommen haben, wird er sie für kritikwürdig empfunden haben. Ich sehe sie heute auch etwas kritisch. Warum? Nicht, weil ich wegen Kritik an Gurkenverordnungen gleich die Idee des europäischen Vereinigungswerkes für falsch halte. Sondern, weil ich gelernt habe: "Es reicht nicht, wenn die Bannerträger vorneweggehen und sagen: Wir brauchen keine Bedenkenträger."
Bedenken allein werden uns natürlich nicht weiterbringen, aber das grundsätzliche Ignorieren von Bedenken, das Abspeisen derer, die Bedenken haben, am besten noch gepaart mit der überzeugten Arroganz eines Bannerträgers für das Edle und Gute: All das kann Europa keinen Segen bringen.
Zu viele Menschen würden sich zurückgelassen fühlen, unberücksichtigt und geringgeschätzt von den angeblich arroganten pro-europäischen Eliten. Die Sorgen, ja, Bedenken, von Bevölkerungsgruppen, die die Praxis der EU für kritikwürdig halten oder auch von Gesellschaften oder Staaten, die obwohl Mitglied der EU, andere Fragen und Bedenken vortragen als es uns opportun erscheinen mag – all das können wir nicht wegwischen mit dem Hinweis auf die Großartigkeit Europas, die keine Bedenkenträger braucht.
Timothy Garton Ash, ein echter Herzenseuropäer, hat Bedenken immer Raum gegeben. Nicht um ihnen immer zu folgen. Aber, so sagte er es bei der Karlspreisverleihung, weil es sein Job als Wissenschaftler sei, "auf die Schwachstellen hinzuweisen, die nationalistische Populisten ausnutzen." Etwa, dass "die meisten Europäer" nicht das Gefühl haben, "dass sie in Brüssel direkt vertreten werden und ihre Stimme dort Gehör findet."
Wiederum geht es hier um den Zeitpunkt: Es hat seine Zeit, den historischen Wert Europas auszumalen und dieses historische Glück zu feiern. Aber dabei dürfen wir nicht stehenbleiben. Konkreten Schwachstellen und Bedenken, wie jene, die Ash beschreibt, hätten wir Freunde Europas früher Aufmerksamkeit schenken sollen.
Ich schaue unseren Preisträger an und frage mich: Hätten wir den Brexit vielleicht verhindern können, wenn wir Bedenken nicht von vornherein für illegitim erklärt hätten?
Natürlich sind nicht wirklich die Europäer die Verursacher dessen, was Timothy Garton Ash einen "nationalen Nervenzusammenbruch" seiner Briten nennt. Aber wir können Schaden in der Zukunft begrenzen, wenn wir auf Bedenken eingehen und dafür notfalls auch das Tempo reduzieren, statt immer schneller und immer weiter vorwärts zu eilen, weil wir so überzeugt sind, doch das einzig Richtige zu tun. Ich bin dann in meiner letzten Rede als Bundespräsident zu Europa in eine andere Tonlage (und Meinung) gekommen und habe den Wunsch nach "zielwahrender Entschleunigung" formuliert.
Das Ziel des heutigen Preisträgers und seines Laudators bleibt klar: Europa ist zu beschützen, zu festigen, und es ist unbedingt nötig, mehr Menschen als bisher für dieses Projekt zu gewinnen.
Einen letzten Punkt, an dem der Preisträger unsere Ruhe stört, möchte ich ansprechen und loben. Ich glaube, hier sind wir noch mitten im Prozess des Gestörtwerdens und des Aufwachens. Ich meine Timothy Garton Ashs Empfehlung, unsere öffentlichen Debatten mit einer "Mischung aus Offenheit und robuster Zivilität" zu führen. Er will, dass sich unsere Zivilität auf die Sorgen und Überzeugungen anderer beziehen kann – und dass wir "die freie Äußerung beziehungsweise Verwirklichung von Überzeugungen, Werten und Lebensstilen, die wir für grundsätzlich falsch halten", anhören, statt sie sogleich für diskursunwürdig zu erklären – aber dann auch robust unsere eigene Meinung vertreten. Ich glaube, da sind wir noch lange nicht angekommen.
Meiden wir nicht eher unbequeme Gegenhaltungen, indem wir eher in unseren Milieus verbleiben und Gegenpositionen sehr schnell jede Legitimität absprechen?
Garton Ash mahnt uns: "Das Ziel besteht nicht darin, dass wir über alles einig sind (Gott behüte!), sondern dass wir uns darüber einigen, wie wir miteinander streiten."
Er fordert uns also dazu auf, die Gewissheiten unserer Gruppen zu verlassen. Vielleicht auch die unserer Länder. Er fordert uns auf, offen zu sein für Debatten mit Meinungen, die nun wirklich ganz andere sind als unsere. Er fordert uns auf, ein Argument nicht schon deshalb abzulehnen, weil der Falsche es vorträgt (oder gar twittert). Er verlangt von uns, unsere Komfortzonen gleich zweimal zu verlassen:
Einmal, wenn wir denjenigen aussprechen lassen, dessen Meinung uns gestrig erscheint, altmodisch, vielleicht unästhetisch. Wenn wir es für möglich halten, dass jemand, der nicht unsere kulturellen Codes nutzt, doch Recht haben könnte. Wenn wir seine Meinung solange ertragen, so lange sie auf dem Boden unseres Grundgesetztes steht. So lange nämlich ist sie legitim.
Und zu einer zweiten Unbequemlichkeit fordert uns Ash mit seiner Formulierung von „Offenheit und robuster Zivilität“ auf: Nämlich, dass wir gegen diese vom Anderen vorgetragene Meinung notfalls auch robust an-argumentieren sollen. Das ist viel schwerer, als dabei zu bleiben, mit Gleichgesinnten zu sprechen. Die uns nie herausfordern oder unsere Argumente auf die Probe stellen. Auch mir persönlich fällt das schwer und ich verstehe jeden, der es schrecklich unbequem findet, diesen robusten Dialog zu führen. Timothy Garton Ash ist aber zuzustimmen: Wenn es um den Wert von Freiheit geht, um Europa, um die offene Gesellschaft, dann sind unsere Argumente nun wirklich stark genug, um Gegenargumente zuzulassen, statt sie sofort zu verdammen. Und sie sind stark genug, um Gegenargumente robust zu widerlegen. Deshalb heißt eines seiner "10 Prinzipien für die Redefreiheit" so: "Wir sprechen offen und mit robuster Zivilität über alle Arten von Unterschieden zwischen Menschen."
Wenn wir nachher diesen feierlichen Rahmen verlassen, den uns die Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung dankenswerter Weise ermöglicht, dann könnte die Botschaft aus Timothy Garton Ashs bisherigem Wirken an uns alle sein: Verlasst Euch nicht darauf, dass etwas, dass ihr einmal für richtig erkannt habt, für immer richtig bleiben muss.
Willy Brandt, dessen Ostpolitik ich ansprach, hat das kurz vor dem Ende seines Lebens übrigens selber beschrieben, in einer zeitlosen Erkenntnis: "Nichts kommt von selbst und nur wenig ist von Dauer. Daher besinnt Euch (….) darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll."
Ich bin überzeugt, dass Timothy Garton Ash in diesem Sinne aktiv ist. Er wird es bleiben. Und: Wer seine Arbeiten wahrnimmt, wird nicht erst um 5 nach 12 aufwachen. Deshalb verdient er den heutigen Preis. Und ich gratuliere ihm von ganzem Herzen.