Verleihung des Internationalen Adalbert-Preises 2021 in Warschau
26. Juni 2021, Warschau
Anlässlich der Verleihung des Internationalen Adalbert-Preises 2021 hat Joachim Gauck am 26. Juni 2021 in Warschau eine Dankesrede gehalten, in der er an die Friedlichen Revolutionen in Mitteleuropa 1989 erinnert hat.
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Es gilt das gesprochene Wort.
Es ist mir eine große Ehre, den Adalbert-Preis 2021 entgegenzunehmen. Ich danke dem Internationalen Preiskomitee der Adalbert-Stiftung für diese bedeutende Auszeichnung. Der herzliche Empfang, den Sie mir hier im Łazienki-Palast in Warschau bereiten, bewegt mich sehr. Und der Zeitpunkt, nach den langen Monaten der – immer noch nicht vollständig bewältigten – Pandemie, ist ein ganz besonderer.
Dass Sie, Herr Präsident Duda, mir heute den Adalbert-Preis überreichen, bedeutet mir viel. Wir kennen uns von den Begegnungen, die wir in meiner Zeit als Bundespräsident hatten.
Dass wir uns gemeinsam für die Verständigung zwischen Polen und Deutschland einsetzen, ist auch mir über das Ende meiner Amtszeit hinaus ein wichtiges Anliegen geblieben. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn es auch über grundlegende Fragen Meinungsverschiedenheiten gibt. Dass Sie, Herr Präsident, nun Gastgeber für diese Festveranstaltung sind, schätze ich sehr.
Wenn ich von der besondere Ehre spreche, dann sage ich dies vor allem mit Blick auf die Reihe der Träger des Adalbert-Preises, die die Umbrüche von 1989 repräsentieren. Nach dem ehemaligen Bundeskanzler und bedeutenden Europäer Helmut Kohl nun der zweite deutsche Preisträger zu sein, das ist ein ganz besonderes Zeichen der Wertschätzung.
Professor Zajac, dem im Juni 2019 der letzte Adalbert-Preis verliehen wurde, sagte, er empfinde es als großes Glück, zu jener Generation zu gehören, für die 1989 ein Schlüsseljahr war. Das kann ich nur unterstreichen. Denn wir haben in der Tat einen Umbruch erlebt, wie er nur alle hundert Jahre vorkommt. Und ich bin bis heute dankbar über das große Geschenk, den Umbruch damals auch mitgestalten zu können.
Lieber Andrej Kiska, ich danke Ihnen für Ihre freundschaftliche Würdigung. Ihre Worte haben mich sehr berührt. Wir sind uns zuletzt 2018 bei einer gemeinsamen Gedenkzeremonie an die Kerzendemonstrationen, aus Anlass des 30. Jahrestages der stillen Proteste für Religions- und Bürgerfreiheiten in der früheren sozialistischen Tschechoslowakei, begegnet.
Wir haben es schon gehört: Der Adalbert-Preis erinnert an den Heiligen Adalbert von Prag, der heute ein Symbol der europäischen Einheit ist. Als überzeugter Europäer seiner Zeit ist Adalbert auch eine wahrhaft historische Gestalt. Er wirkte vor mehr als 1000 Jahren als Missionsbischof in den Territorien der heutigen Republiken Tschechien, Polen, Ungarn und der Slowakei. Durch die Verkündigung des christlichen Glaubens trug er dazu bei, die europäische Zusammengehörigkeit zu stärken. Denn die Verbreitung des Christentums schaffte neue kulturelle Verbindungen und nicht zuletzt gemeinsame Werte.
Wenn wir die wechselvolle Geschichte insbesondere Mitteleuropas vor Augen haben, dann steht Adalbert für die Verbindungen zwischen den Völkern, die sich heute zu einem gemeinsamen europäischen Schicksal entwickelt haben.
Die Grundlage für das Zusammenwachsen Europas, von dem viel zu selten noch die Rede ist, wurde erst durch den Fall des Eisernen Vorhangs geschaffen. Es waren tiefgreifende politische und gesellschaftliche Entwicklungen, die zum Ende von totalitären Regimen in Mitteleuropa führten und den Weg zur Freiheit, zur Demokratie und zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas ebneten. Die friedlichen Revolutionen haben eine ganze Generation geprägt. Ich freue mich, dass heute so viele Persönlichkeiten unter uns sind, die damals als Handelnde und Vorbilder Geschichte schrieben.
Keine Frage: Es gab mehrere Friedliche Revolutionen, an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat das schon am 23. November 1989 gegenüber Václav Havel, dem Dichter, Bürgerrechtler und späteren Präsidenten, auf den Punkt gebracht:
"In Polen dauerte es zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen, vielleicht wird es in der Tschechoslowakei nur zehn Tage dauern." Trotz mancher Unterschiede in den Abläufen wirken die Friedlichen Revolutionen aber bis heute verbindend.
In Polen gibt es ein Sprichwort: "Glaube niemandem, der dir sagt, dass du mit dem Kopf nicht durch die Wand kommst." Das kann man natürlich schnell falsch verstehen. Denn manchmal hilft es, nachzusehen, ob die Wand nicht auch Türen hat, durch die man gehen kann. Aber dennoch ist es ein Vermögen des Menschen, damit zu rechnen, dass auch das wenig wahrscheinliche umgesetzt werden kann. Die Freiheitsliebe vieler Polen, die insbesondere in der Solidarnosc-Bewegung zum Ausdruck kam, ist uns in der DDR oft ein Vorbild gewesen, auch für viele der kirchlichen Gruppen, evangelisch wie katholisch.
Gemeinsame Werte, der Respekt für die universellen Menschenrechte und die Grundfreiheiten waren die Antriebskräfte für die politische Zäsur. Mit dem Beitritt zur EU wurde der Prozess der Rückkehr der Tschechischen Republik, Ungarns, Polens und der Slowakischen Republik in die […] europäische Familie vollendet. Mitteleuropa kehrte dahin zurück, wohin es geographisch, geschichtlich und kulturell immer gehört hat.
Dass es uns gelungen ist, in den vergangenen Jahrzehnten ein neues, gut nachbarschaftliches Verhältnis zwischen Deutschen und unseren mitteleuropäischen Nachbarn aufzubauen, das ist fast ein kleines Wunder, auf jeden Fall aber ein großes Geschenk. Ich erinnere besonders an den Nachbarschaftsvertrag mit Polen, den der damalige polnische Premierminister Bielecki und Helmut Kohl als deutscher Bundeskanzler am 17. Juni 1991 unterzeichneten und dessen 30. Jubiläum […] wir vor wenigen Tagen mit dem Besuch von Bundespräsident Steinmeier begangen haben. Wir wissen: Gute nachbarschaftliche Beziehungen bedürfen auch besonderer Pflege.
Die Wiedergeburt Mitteleuropas ist auch das Verdienst der Visegrad-Gruppe, die wir an gerade heute auch als Adalbert-Länder bezeichnen können.
Die Osterweiterung der Europäischen Union, unsere Partnerschaft in der NATO – all das konnte auch deshalb gelingen, weil sich vier Länder mit sehr ähnlichen Zielen und ähnlichen Schwierigkeiten erfolgreich zusammengetan haben. So viele Herausforderungen der Transformation konnten gemeinsam bewältigt werden. Ich wünsche Ihnen, dass sie auch künftig weiter zu Gemeinsamkeiten finden werden. Deutschland und die Visegrad-Staaten haben in den letzten Jahrzehnten gemeinsam einen erfolgreichen Weg zurückgelegt. Es haben sich tiefe gegenseitige politische, wirtschaftliche, kulturelle und zwischengesellschaftliche Beziehungen entwickelt und unsere wirtschaftliche Verflechtung ist heute von strategischer Natur.
Konflikte und Auseinandersetzungen gehören zur europäischen Familie. Dabei dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren: Unsere Länder sind integraler Bestandteil des europäischen Projekts, das unsere gemeinsame Zukunft darstellt. Die Pandemie hat uns einmal mehr in der Erkenntnis bestärkt: Neue Herausforderungen können nur durch gemeinsame Antworten bewältigt werden, Spaltungen in „Nord-Süd, Ost-West oder Alt-Neu“ führen uns nicht weiter.
Auf dem Weg in eine Zukunft der Klimaneutralität, bei der Gestaltung der Digitalen Revolution, bei der Verteidigung universeller und europäischer Werte auch gegen autokratische Staaten: Immer mehr sind unsere vielfältigen Gesellschaften insgesamt gefragt. Wir brauchen die Kraft unserer demokratischen Gemeinwesen, die Innovationsfähigkeit unserer Wissenschaft und die Dynamik einer modernen Wirtschaft.
Ganz besonders brauchen wir das Engagement von jungen Menschen, die mit Ideenvielfalt, Mut und Bereitschaft zum Handeln Zukunft gestalten wollen.
Wenn wir von der Zukunft sprechen, dann sollten wir uns vergegenwärtigen: Die Erinnerung an die Zeit vor über 30 Jahren bleibt auch heute ein wichtiger Teil unserer Zukunft. Denn es ist immer auch die Spezifik unseres Erinnerns, die Weichen für die Zukunft stellt. Die Beiträge der revolutionären Bewegungen in der damaligen Tschechoslowakei, Ungarns, Polens und der DDR sollten wir besonders in der Erinnerung verankern. Denn dieser Geist ist nicht nur in der Zeit von autoritärer Herrschaft und Diktatur gefragt, in der wir aufgefordert sind, den Gestus der Ohnmacht abzulehnen. Wir müssen uns bewusst machen: Es ist eine permanente Aufforderung an uns als Lebewesen in einer freien und offenen Gesellschaft, den Abschied von der Ohnmacht für uns und als Gruppe zu vollziehen.
Ich danke der Adalbert-Stiftung noch einmal für die ehrenvolle Auszeichnung, Ihnen, Herr Präsident, für Ihre Gastfreundschaft, und Ihnen allen, dass Sie mich mit Ihrer Anwesenheit beehren.
Weiterführende Informationen über die Website der Adalbert-Stiftung in Krefeld: https://adalbert-stiftung.de/