Rede "Lokale Demokratie - Heimstatt gelebter Verantwortung" beim Digital-Kongress des vhw
08. Juni 2021, Berlin
Änderung vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Es ist mir eine Freude, heute – mit einem guten Jahr Verspätung und
unter zumindest für mich noch immer ungewohnten Bedingungen – zu Ihnen beim „Digital-Kongress Lokale Demokratie“ des Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung zu sprechen. Ich wäre gern persönlich mit Ihnen allen hier in der Urania Berlin zusammengekommen. Nun aber grüße ich Sie – nicht weniger freundlich – aus der Ferne.
Sehr verehrte Damen und Herren,
allein diese Umstände zeigen schon: Wir sind noch ein gutes Stück von der ersehnten Normalität entfernt. Seit über einem Jahr verlangen uns die massiven Einschränkungen im Alltag wie in der Berufswelt Enormes ab. Gleichzeitig hat die Pandemie uns aber auch gezeigt, wo Schwächen in unserer staatlichen Verfasstheit existieren, auch und gerade in der Kommunalpolitik. Das Faxgerät in Gesundheitsämtern ist geradezu zum Symbolbild für den Digitalisierungsstau geworden. Nun rächt sich, dass die lokale Verwaltung zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat.
Dabei ist das, was in den Kommunen geschieht, von großer Bedeutung dafür, dass der ganze demokratische Staat funktioniert. Hier wird über das entschieden, was vor Ort ansteht, hier wird auch umgesetzt, was in Bund und Ländern entschieden wurde – was oft großer Anstrengungen bedarf, wie wir es in den vergangenen Monaten oder auch vor einigen Jahren in der Flüchtlingspolitik erlebt haben.
Die lokale, die kommunale Ebene ist die direkte Begegnungsmöglichkeit von Bürger und Staat. Hier wird aus einem diffusen, komplexen Gebilde eine konkrete Handlung, hier kann man „Staat erleben“: der Bürgermeister hat ein offenes Ohr für die Belange seiner Bürger, - er sollte es zumindest haben - hier wird der Personalausweis oder der Kindergartenplatz beantragt, Fragen zur Vereinsförderung geklärt, sportliche Betätigungsmöglichkeiten geschaffen oder Bauanträge bewilligt. Es zeigt sich also: Die lokale Politik trägt Verantwortung für das Kleine und Kleinräumige, und ist damit zugleich unverzichtbar für das Große und Ganze, für die demokratische Gestalt unseres Landes.
Seit 1949 hat das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang in Deutschland. Dass unsere Städte und Gemeinden heute so vielgestaltig, oft so lebendig und übrigens auch so selbstbewusst sind, das ist in hohem Maße dem zu verdanken, was in Artikel 28 des Grundgesetzes niedergelegt wurde. Ja, die Schöpfer unserer Verfassung haben an den mündigen Bürger geglaubt, als sie ihm die Mitwirkungsmöglichkeiten gerade auch in den Kommunen zusprachen. In unseren Städten und Gemeinden wird ungeheuer viel ausprobiert und angepackt, trotz der derzeit schwierigen Situation – das will ich heute ganz ausdrücklich würdigen. Kommunen sind Orte der Innovation, - sie können es zumindest sein - oft unter reger Beteiligung der Bürger.
Kommunen sind auch Werkstatt der Demokratie – wenn sie sich darauf einlassen. Wo, wenn nicht dort, wo Menschen dem Staat so direkt begegnen, können sie Vertrauen in das Prinzip der Teilhabe gewinnen und lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen? Wo, wenn nicht in den Kommunen, können sie auch Vertrauen in Andere entwickeln und die Bereitschaft, ihnen Aufgaben und Verantwortung zu übertragen? Und wo, wenn nicht in Städten und Kommunen können Menschen auf eine so natürlich Weise Engagement und Hingabe für Ziele entwickeln, die weit über die eigenen Interessen hinausgehen? Kommunen sind deshalb auch Diskussionsräume, in denen Menschen mit Nachbarn, Vereinskollegen, Freunden und Verwandten nicht nur debattieren über die Zukunft des Ortes, sondern auch der Region oder des ganzen Landes, über Klima, Migration, die Zukunft ihrer Kinder. Unser demokratischer Rechtsstaat verkümmert, wenn Menschen nicht begreifen, dass sie befähigt sind zu einer Existenz als aktive Bürgerinnen und Bürger.
Zugleich wurde in der Vergangenheit die Bedeutung der Kommunen von vielen von uns unterschätzt. Bund – Länder – Kommunen. Die hierarchische Reihenfolge scheint festgeschrieben. Aber gleichzeitig sind die 294 Landkreise für 56 Millionen Einwohner und damit 68 % der deutschen Bevölkerung auf 96 % der Fläche Deutschlands verantwortlich.
Ich wünsche mir, dass uns allen noch etwas klarer wird, dass die Städte und Gemeinden nicht irgendwelche nachgeordneten Bereiche der "eigentlichen Politik" sind, sondern ganz zentral für das Funktionieren unserer ganzen Demokratie – praktisch und theoretisch. Es entspricht dem verfassungsrechtlich gesicherten Subsidiaritätsprinzip, wenn alles staatliche Handeln von den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern ausgeht und nicht umgekehrt. Zudem fließt ein Großteil der Gelder, die der Bürger pauschal an den Staat abführt, zurück in die Kommunen und materialisiert sich in lokalen Projekten. So lässt sich "In der selbstverwalteten Gemeinde (…) am einfachsten erklären, warum wir mit den Steuern, die wir zahlen, einfach das kaufen, was wir als Einzelne nicht kaufen können, was aber oft mehr wert ist als vieles, was wir kaufen. Ein schönes, helles Schulhaus für unsere Kinder können wir nicht kaufen, einen Gehsteig ohne Löcher auch nicht." formulierte der 2019 verstorbene Politiker Erhard Eppler in seinem Buch "die Würde des Politischen" trefflich.
Nachdem ich Möglichkeiten und Erfolge hervorgehoben habe, darf ich aber Probleme und Unzulänglichkeiten nicht verschweigen. Es gibt zwar keine Politikverdrossenheit in unserem Land. Die Menschen diskutieren in den Familien, in Vereinen, am Stammtisch, im Internet. Sie gehen sogar auf die Straße. Sie gehen auch oft zur Wahl - aber in der Regel nicht dorthin, wo ihre Stimme direkt Einfluss haben könnte, in die Gremien der lokalen Selbst-verwaltung, zu den öffentlichen Sitzungen von Ortschafts-, Gemeinde- und Stadträten. Geschweige denn, dass sie sich selbst nominieren und wählen lassen. Erst ist dann oft zu hören: “Ich halte mich lieber zurück, es bringt ja eh' nichts, man kann ja doch nichts machen." Und wenn dann andere tatsächlich etwas gemacht haben, heißt es bei denselben Leuten mit großer Regelmäßigkeit: „Hätten die mich mal gefragt, ich hätte gewusst, wie man es richtig macht.“ Es ist eben viel bequemer, im vertrauten Umfeld, in den sozialen Medien, im Supermarkt oder am Stammtisch seinen Senf dazuzugeben und die anderen zu kritisieren, die natürlich auch mal Fehler machen, als sich selber an den Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen und selber Mitverantwortung zu übernehmen.
Lokale Demokratie lebt davon, dass Bürgermeister, Landräte, aktive Bürger, ob ehrenamtlich oder hauptberuflich, das Vorfindliche realistisch anschauen, sich damit aber nicht zufriedengeben. Die sagen: "Wir packen das an, wir suchen den begrenzten Fortschritt, die etwas bessere Lösung, das, was jetzt gerade möglich ist. Und wir lassen uns dabei von Rückschlägen, von Vorläufigen und Nichtperfekten nicht abschrecken." Wenn wir Perfektion als Maßstab anlegen, werden wir die Arbeit nie beginnen müssen. Denn Perfektion ist nicht zu erreichen. Perfektion ist aber immer eine wunderbare Ausrede für alle, die das "schmutzige Geschäft" Politik ablehnen, den Kompromiss per se "faul" finden und sich lieber zurücklehnen und gar nichts tun. Wenn das Ziel aber ist, „dass niemand mehr Fehler macht, ist der Stillstand vorprogrammiert.“ Das sagt Dirk Neubauer, der Bürgermeister im sächsischen Stadt Augustusburg, der seit 2013 im Amt ist und 2020 mit knapp siebzig Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Er hat seine Erfahrungen und Vorschläge 2019 in dem Buch „Das Problem sind wir“ veröffentlicht.
In Ostdeutschland ist die Distanz von Bürgern gegenüber der Politik im Allgemeinen und auch gegenüber dem lokalen Engagement besonders deutlich zu spüren. Doch auch in westdeutschen Gemeinden kämpfen Bürgermeister und aktive Bürger gegen diejenigen, die sich meist mit Verweis auf Arbeit und Familie ins Private zurückziehen, sich kaum noch für etwas interessieren oder auf eine Rolle als Zuschauer beschränken. Sie verfolgen, was geschieht, aus der Distanz und beschränken sich auf besserwisserische Kommentare. Sobald Probleme allerdings sie selbst betreffen, etwa wenn die Sporthalle wegen Sanierung vorübergehend geschlossen ist oder wenn ihre Kinder wegen Corona getestet werden sollen, protestieren sie laut oder stehen sogar auf der Straße. Für sie ist die Demokratie kein fragiles Konstrukt, das stetig - auch von ihnen - gefestigt werden muss, sondern eine Mischung aus Bank und Sozialhilfestelle, an die sie als vermeintliche Kunden Ansprüche stellen können.
Die lokale Ebene zeigt besonders eindringlich, dass wir in unserer Demokratie über Bürgerbeteiligung intensiver nachzudenken haben. Bürokratie, lebensferne und schwerfällige Verwaltungspraxis und eine Politik, die den Anliegen von Bürgern zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, verwirren viele Bürger, die dann auf der Straße und eben auch bei Wahlen demokratiefeindlichen Populisten folgen – einfach als Ausdruck des Protestes gegen „die da oben“. Es lohnt sich also, über den Vorschlag von Dirk Neubauer nachzudenken, wenn er empfiehlt, den Orten und Kommunen mehr Kompetenzen, mehr Entscheidungsbefugnisse und mehr Gelder in Eigenregie zuzugestehen, nicht gebunden an bundesweite oder europäische Auflagen. Augenblicklich verhindern komplizierte Fördermittelregeln und allzu bürokratische Regeln oft die Umsetzung von Projekten, die für die Gemeinde wirklich wichtig sind - gleichgültig, ob es sich um ausreichende medizinische Versorgung auf dem Lande, um einen Tennisplatz, einen Verein für Stadtgeschichte oder um die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum handelt. Die „Angst um das Dach über dem Kopf“ wie jüngst der Tagesspiegel schrieb, ist vor allem in den Städten ein dominierendes Thema, das auf kommunaler Ebene in diesem Jahr wahlentscheidend sein kann.
Es liegt auf der Hand: Bürgerbeteiligung, die allzu oft in der Verwaltung einer Mangelwirtschaft oder endlosen Verhandlungen mit vorgeordneten Behörden besteht, frustriert die Bürger zwangsläufig. Demokratie, die auf Zustimmung stoßen soll, muss ihnen attraktiv erscheinen und den Beweis liefern: Wer sich einmischt, kann tatsächlich etwas bewirken.
Umso mehr bewundere ich all jene, die nicht warten, bis andere bessere Regeln erkämpft haben, sondern die sich selbst als Veränderer verstehen und lokale Demokratie gestalten, Menschen in Vereinen, Räten, Sportmannschaften, Flüchtlingshelfer, Lesepaten. Menschen voller Tatendrang, um die Kommunen lebenswert zu machen, und voller Ideen für neue, bessere Lösungen. Nehmen wir zum Beispiel das Pilotprojekt „Kleinstadt-Akademie“, an dem fünf deutsche Kleinstädte wie z.B. Bad Berleburg oder Großräschen teilnehmen. Sind es doch gerade unsere Kleinstädte, die vor großen demografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen stehen und daher besondere Unterstützung in ihrer Entwicklung benötigen. Durch Zusammenarbeit, Beratung und Vernetzung wird in dieser Initiative die Kleinstadt als Wohn- und Wirtschaftsstandort gestärkt und so verhindert, dass unsere Kommunen zu „einsamen Landstrichen“ werden. Aus den Erkenntnissen der Pilotphase entsteht eine „Kleinstadt-Akademie“, in der Städte mit- und voneinander lernen und selbstständig an ihrer Zukunftsfähigkeit als Orte hoher Lebensqualität und eines besonderen Lebensgefühls arbeiten.
Wie es selbst in der Großstadt gelingen kann, auch über den kommunalen Haushalt Bürgerinnen und Bürger aktiv einzubinden, zeigt das Beispiel aus Berlin Lichtenberg: Ein Stadtteil mit immerhin 294.201 Einwohnern. 2005 hat der Bezirk den ersten Bürgerhaushalt in einer deutschen Großstadt eingeführt. Bei Stadtteildialogen, Bürgerversammlungen und über eine Internetplattform können die Lichtenberger eigene Vorschläge einbringen und diskutieren. Und das mit Erfolg: Seit der Einführung übernahmen die Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlung 90% der Vorschläge aus den Bestenlisten in den Haushalt. Und so konnten an der Rummelsburger Bucht beispielsweise ein Naturlehrpad entstehen, Mehrgeneration-Spielplätze im Kiez gebaut oder auch ganz wichtig und doch von uns zu oft nicht beachtet: bestehende Bordsteinabsenkungen ausgebessert oder markiert werden, damit Menschen mit Seh- oder Gehbehinderungen diese wieder gefahrenlos nutzen können. Sie alle kennen sicher Beispiele aus Ihren eigenen Kommunen, die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
So kann die kommunale Ebene etwas erreichen, das uns gerade jetzt besonders wichtig sein muss: Sie kann Verbundenheit stiften. Verbundenheit in der Nachbarschaft, im Stadtteil – überall dort, wo Menschen einander begegnen und füreinander da sein wollen. Kommunen können Zugehörigkeit stiften, während das Leben ansonsten immer globaler, auch immer virtueller, immer individualistischer wird. Sie können Heimat stiften, während die Lebensentwürfe der Menschen immer vielfältiger werden.
Daher ist es umso wichtiger, Kommunen als jenen Raum zu begreifen, in dem wir die Debatten-Demokratie einüben. Als einen Raum, in dem wir lernen, die größere politische, kulturelle, auch religiöse und ethnische Diversität zu berücksichtigen, die sich nun einmal in unserem Land entwickelt hat. Unterschiede, Widersprüche und sogar Gegensätze werden ein Teil unserer Wirklichkeit bleiben, ob uns das gefällt oder nicht. Diese Pluralität wollen wir aber nicht nur aushalten, sondern wir wollen ihr verstärkt Rechnung tragen – durch Toleranz gegenüber verschiedenen Haltungen, durch Respekt gegenüber dem Anderen, auch dem Fremden. Und durch die Entwicklung einer gemeinsamen Zukunft, die alle gleichermaßen, Alteingesessene wie Neubürger, auf dieselben Grundwerte und demokratischen Regeln verpflichtet und allen eine Perspektive in Wohlstand und Freiheit bietet.
Ich gestehe: Es ist augenblicklich nicht einfach, sich inmitten der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse und der Komplexität der Probleme politisch zu orientieren und sich weder entmutigen noch hinreißen lassen zu schnellen, einfachen Antworten – manchmal übrigens, bevor alle Vorschläge auf dem Tisch sind. Unterschiedliche Einschätzungen gehen zurzeit quer durch die Parteien, genauso wie mitten durch Familien und Freundeskreise. Selbst der Einzelne ist manchmal in sich gespalten und vertritt überraschende Meinungsmischungen. Die Verunsicherung dürfte also wohl allgemein sein. Wir alle haben viel zu lernen angesichts dessen, dass große Herausforderungen wie Digitalisierung oder Klimawandel zu tiefgreifenden Veränderungen führen werden - nicht irgendwo außerhalb unseres eigenen Lebens und unserer näheren Umgebung, sondern auch in unseren Familien, unseren Kommunen, vor Ort: Mit den Solarzellen, die demnächst bei Neubauten zum Haus gehören, mit den batteriegetriebenen Autos, für die zu sparen sein wird oder mit der digitalen Vernetzung, die demnächst in Schulen und Verwaltungen Einzug hält und an die sich auch die ältere Generation wird gewöhnen müssen. Ich weiß, wovon ich spreche.
Nicht wenige, die sich überfordert fühlen, reagieren, wie wir in den letzten Jahren erlebt haben, mit Abwehr und Aggression. Der Ton ist rauer geworden. Der Hass, der in den sozialen Medien entsteht und verbreitet wird, entlädt sich dabei immer häufiger auf der Straße. Bürgermeister, Stadtverordnete und Mitarbeiter kommunaler Verwaltungen sind vermehrt verbaler oder körperlicher Gewalt ausgesetzt. Während der Corona-Krise wurden drei Viertel aller Bürgermeisterinnen und Bürgermeister schon einmal beleidigt, beschimpft oder tätlich angegriffen – acht Prozent mehr als im Jahr vor der Corona-Krise. Dass die Nähe, die die lokale Demokratie doch ausmacht, für einige Amtsträger zur realen Gefahr geworden ist, bestürzt mich nachhaltig.
Wir denken dabei an schockierende Attacken bis hin zum Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke. Diese schrecklichen Fälle zeigen, dass der Weg von der Bedrohung bis zur Umsetzung kurz und schmal ist. Am Anfang ist das Wort.
Und als Reaktion auf diese Bedrohungen folgt viel zu oft: Schweigen. Wir dürfen aber nicht dulden, dass Politiker sich nicht mehr trauen, Ihre Meinung zu sagen, Haltung zu zeigen und sich zurückziehen, ja sogar bisweilen ihr Amt aufgeben.
Ich wünsche mir daher starke solidarische Gegenkräfte aus den Kommunen, von Menschen, die auch in den vielen Situationen, die es nicht in die Nachrichten schaffen, sich sagen: "Jetzt reicht‘s. Man muss ja nicht mit allem einverstanden sein, was der Bürgermeister macht. Aber wenn es was zu kritisieren gibt, wird das angesprochen in zivilisierter Weise und ohne Hass und Gewalt." Wir haben uns der Verrohung mit respektvollen, ausgewogenen Debatten und einer kämpferischen Toleranz entgegenzustellen - und somit unsere wehrhafte Demokratie erneut unter Beweis stellen. Sei es in direkten Gesprächen – die in Kommunen ja stärker möglich sind als in anonymen Großräumen – oder auch über Webseiten, wie sie immer mehr Kommunen einrichten, nicht nur, um über Öffnungszeiten der Ämter zu informieren, sondern auch um Diskussionen über Projekte auszutragen und kontroverse Meinungen einzubinden. Die Toleranz des demokratischen Verfassungsstaates endet erst dort, wo zu Hass und Gewalt aufgestachelt wird. Mit Verfassungsfeinden aber, also Menschen, die den Verfassungsstaat in seinen Kernbestandteilen ändern oder abschaffen wollen, gibt es keine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Und Straftäter werden selbstverständlich mit allen Mitteln des Rechtsstaates verfolgt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Lokalpolitiker füllen unser Grundgesetz in den Kommunen mit Leben, sie lassen unsere Demokratie Wirklichkeit werden: als Bürgermeisterinnen und Landräte, als Mitglieder in Städte- und Gemeinderäten, als Fraktionsvorsitzende in den Bürgerschaften, ob nun haupt- oder ehrenamtlich. Sie sind nicht nur kommunale Funktionsträger, wie das so nüchtern heißt. Sie leben damit eine aktive Existenz nicht nur als Bewohner ihrer Gemeinde und unseres Landes, sondern als Bürger. Sie sind das Fundament unserer Demokratie, sie machen unsere Demokratie lebendig.
Damit dies so bleibt oder damit dies noch verbessert wird, brauchen wir den Dialog und das Engagement von möglichst vielen, die diese Funktionsträger nicht stellvertretend für die anderen agieren lassen, sondern die sie stützen und tragen. Lassen Sie uns also mit allen, die das Argument schätzen und nicht die Wutkeule schwingen, in das politische Gespräch eintreten. Kontroversen sind kein lästiges Übel, sondern notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie. Wir brauchen die Auseinandersetzung – entschlossen, aber mit Zivilität, ohne Ausgrenzung und Verachtung. Robuste Debatten und richtiger Streit sind nicht schädlich. Demokratie darf Unterschiede nicht glattbügeln, sondern sie muss umgekehrt Raum geben für Differenz und Widerspruch. Nur im Disput der Verschiedenen lassen sich Alternativen prüfen und Kompromisse finden, die von möglichst Vielen akzeptiert werden. Nur so kann Erneuerung in der Demokratie gelingen. Deshalb gehört Toleranz gegenüber dem Anderen zu einer aufgeklärten Demokratie dazu.
Zu diesem Prozess gehört übrigens auch die kritische Selbstreflexion. Der öffentliche Diskurs, Sie wissen es alle, er ist nie perfekt. Er ist es auch in den vergangenen Jahrzehnten nie gewesen. In der Politik und in den Medien zeigt sich in letzter Zeit allerdings die Tendenz, aus guten pädagogischem Absichten heraus Diskussionen lieber einzuhegen – anders ausgedrückt: tatsächlich oder angeblich schädliche Auffassungen auszugrenzen. Dem vermeintlich Guten oder tatsächlich Guten soll zum Durchbruch verholfen werden, damit das vermeintlich Falsche nicht gefördert wird.
Ich sehe diese Einschränkung der Debattenkultur mit Sorge. Spannungen löst man nicht, indem missliebige Haltungen und Meinungen stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Spannungen löst man durch Offenheit und durch Gegenargumente. Je überzeugender diese sind, umso weniger kann Stimmungsmache verfangen. Auch in unseren Kommunen wird deutlich, dass die zunehmende Vielfalt ebenso wie unterschiedliche Interessen der verschiedenen Gruppen zu beständigen Debatten und auch zu Kontroversen führen. Das missfällt einem Teil der Wählerschaft ebenso wie die häufigen Kompromisse, die in der Demokratie an der Tagesordnung sind.
Manchen mag es dann wohl so erscheinen, dass man die Demokratie nicht mehr loben, sondern nur noch ertragen kann.
Weil wir aber aus Erfahrung wissen, dass unsere Demokratie sich bewährt hat, weil sie sich zum Besseren verändert hat und verändern wird, bleibt ein immerwährender Auftrag aller Demokraten das, was schon vor Jahrzehnten Willy Brandt anmahnte: mehr Demokratie wagen – im Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen.