Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck wurde am 19. Oktober 2022 die Ehrendoktorwürde der Vytautas Magnus Universität in Kaunas (Litauen) verliehen.

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck erhält die Ehrendoktorwürde der Vytautas Magnus Universität in Kaunas

19. Oktober 2022, Kaunas, Litauen

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Es ist eine große Ehre für mich, diese besondere Auszeichnung von einer Universität zu erhalten, deren Geschichte so eng mit der Geschichte des freien, demokratischen Litauen verbunden ist. Die Ursprünge dieser Universität reichen bis in die frühen Tage der litauischen Republik zurück. Sie wurde dann während der dunklen Zeit der sowjetischen Besatzung geschlossen und erst mit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit wiederbelebt. Ich sehe sie mit Ihrer Geschichte als eine Institution, die für Offenheit, Dialog, Recht und Toleranz steht, als einen Hort von Liberalität und Demokratie. Wissenschaftliche Exzellenz und internationaler Austausch sind Ihnen wichtig, und die Liste der früheren Ehrendoktoren ist beeindruckend.

Und so bin ich heute zutiefst bewegt, zu ihnen zu gehören. Haben Sie ganz herzlichen Dank, sehr geehrter Herr Rektor, für die überaus freundlichen Worte, die Sie in Ihrer Würdigung gefunden haben. Ich habe während meiner Amtszeit als Bundespräsident keinen Hehl daraus gemacht, dass ich mich Ihnen hier in Litauen und im Baltikum, an der östlichen Grenze der Europäischen Union, nicht nur politisch sondern auch emotional sehr verbunden fühle. Gleich zu Beginn meiner Präsidentschaft führte mich eine Reise in diese Region und ich erinnere mich noch gut an die Begegnungen und Themen der Gespräche von damals. Ich bin dankbar, dass Sie, liebe Frau Grybauskaite, dieser Veranstaltung beiwohnen. Es ist ein besonderes Zeichen der engen Verbundenheit und Freundschaft unserer Länder.

Sehr geehrter Herr Rektor, als Sie vor neun Monaten Ihre großzügige Einladung nach Kaunas aussprachen, waren viele von uns in Europa noch in einer anderen Gemütsverfassung. Nun aber hat mit der Rückkehr eines brutalen Krieges nach Europa seit dem 24. Februar 2022 ein neues Kapitel der europäischen Sicherheitsordnung begonnen. Putin hat der Ukraine diesen mörderischen Krieg aufgezwungen, und wir sehen ein Opfer, das sich mit internationaler Unterstützung gegen die Vernichtung wehrt – mit Tapferkeit, mit Klugheit, und mit zunehmendem Erfolg. Hier in Litauen haben Sie sehr früh erkannt: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein Angriff auf ganz Europa und auf die gesamte westliche Welt, in tieferem Sinne ein Angriff auf die demokratische Moderne, auf die Freiheit der Individuen wie auf die rule of law. Ich hatte heute Vormittag die Gelegenheit,
Präsident Nauseda zu treffen und bin sehr dankbar für diese Begegnung. Die Klarheit im Blick auf Putins Russland und seine neoimperialen Ambitionen ist an der östlichen Flanke der NATO besonders ausgeprägt. Es ist daher nicht nur ein wichtiges Zeichen, dass Deutschland im Rahmen der NATO die Verteidigungsbereitschaft Litauens stärkt. Dies ist nicht nur die Antwort auf eine greifbare russische militärische Bedrohung. Es ist auch eine Investition in die Verteidigung von gemeinsamen Werten, deren Bedeutung angesichts der russischen Bedrohung wieder sichtbarer geworden ist.

Ich komme zu Ihnen aus einem Land, das aufgrund der Erfahrungen seiner Geschichte heute diesen Werten verpflichtet ist, die den Westen vereinen: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschen- und Bürgerrechte und Toleranz. Das war nicht immer so. Als ich 1940 geboren wurde, herrschte in Deutschland ein Unrechtsregime, das Terror und Hass verbreitete, einen verbrecherischen Krieg über ganz Europa brachte und mit dem Holocaust, der systematischen Ermordung von Millionen, ein singuläres Verbrechen an der Menschheit beging. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus hat es zwar Jahrzehnte gedauert, bis die Mehrheit der Deutschen erkannte, dass die Kapitulation und die Besetzung durch britische, amerikanische, französische und sowjetische Truppen 1945 keine Niederlage, sondern eine Befreiung war: die Befreiung von einem totalitären, mörderischen Regime. Aber das heutige Deutschland bekennt sich nicht nur zu bleibender Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus, sondern auch zu einer besonderen Verantwortung für die Freiheit, die Rechte und die Würde aller Menschen.

Es war mir als Bürger wie auch als Bundespräsident immer ein Herzensanliegen, diese Botschaft zu verbreiten. Und wenn ich heute vor Ihnen stehe, begegnet Ihnen nicht einfach nur ein Deutscher, sondern ein Bruder im Geiste, ein Schicksalsgenosse. Einer, der wie Sie erlebt hat, dass mit der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur eine neue Schreckensherrschaft für den östlichen Teil meines Landes, für Sie hier in den baltischen Ländern wie für die anderen mitteleuropäischen Länder begann. Diese bittere Erfahrung teilen nicht alle Deutschen gleichermaßen. Diese neue Unterdrückung, dieses andauernde System der Willkür und die damit verbundene Ohnmacht kennt der größere Teil der deutschen Bevölkerung nicht. Sie hier wissen hingegen sehr gut, wovon ich spreche. Bis 1989 lebten wir im sowjetischen Herrschaftsraum unter der systematischen Überwachung und Bespitzelung und Verfolgung durch die Geheimpolizei. In diesem Herrschaftsbereich war das Demokratieprojekt der europäischen Moderne gelöscht, war die permanente Ohnmacht der Vielen und die absolute und permanente Herrschaft der Wenigen Programm. Auch die sogenannte Deutsche Demokratische Republik war ein Staat, der Gehorsam und Unterordnung forderte. Ein Staat, der ab 1961 sein Volk einsperrte, der sich hinter einer Mauer verbarrikadieren musste, aus Angst, seine Bürger an den Westen zu verlieren. Auf diese Weise nahm er 17 Millionen Menschen als Geiseln. Es war auch ein Staat, der auf seine Bürger schoss, wenn sie die Mauer überqueren wollten, um zu ihren Familien oder Freunden in den Westen zu gelangen.

An einem Tag wie diesem dürfen wir uns durchaus noch einmal vergegenwärtigen, was uns einst klein gemacht und unzählige Menschen in die Verzweiflung getrieben hat. Bis 1989 mussten all jene in der sowjetischen Einflusszone, die sich nach Freiheit sehnten, immer wieder bittere Niederlagen einstecken. 1953 schlugen sowjetische Panzer den Volksaufstand in mehr als 700 Orten der DDR nieder. Wir erlebten die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn und der polnischen Unruhen 1956, den Bau der Berliner Mauer 1961, das Ende des Prager Frühlings 1968. Wir sahen, wie die Streiks der polnischen Arbeiter 1970 von der kommunistischen Parteiführung des Landes niedergeschlagen wurden und wie die freie Gewerkschaft Solidarność 1981 verboten wurde. Die unzähligen Erfahrungen mit brutaler Unterdrückung machten die meisten Menschen zwar immun gegen die Heilsversprechen der kommunistischen Propagandisten, gleichzeitig war die Gesellschaft aber in einer langen Lethargie gefangen. Eine unüberzeugte Minimalloyalität, ein Rückzug in private Nischen und Freundeskreise war lange die Lebensform derer, die sich zwar nach Freiheit sehnten, aber noch nicht sehen konnten, was Vaclav Havel einst so bezeichnete: „die Macht der Mächtigen kommt von der Ohnmacht der Ohnmächtigen“. Wir konnten lange nicht glauben, dass das System der kommunistischen Herrschaft eines Tages bröckeln würde. Aber dieser Tag kam. Beflügelt durch den Freiheitskampf der mutigen Polen begannen ab dem Frühsommer 1989 die Menschen in immer mehr Ländern Ost- und Mitteleuropas ihre Angst zu verlieren. Auch in der DDR gingen schließlich Zehntausende, ja Hunderttausende von Menschen auf die Straße, trotz der Erinnerung an die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking. In ihren Händen hielten sie nichts als brennende Kerzen, die sie aus den Kirchen mitgebracht hatten. So stellten sie sich den bewaffneten Kampfgruppen, der Geheimpolizei und den Soldaten entgegen. Und der schönste Satz der deutschen Politikgeschichte ertönte: "Wir sind das Volk!". Keiner von uns hätte sich vorstellen können, dass nur ein Jahr später die Unterdrücker völlig entmachtet und die deutsche Wiedervereinigung möglich sein würde. Sie war nicht zuletzt dank der Großzügigkeit unserer ehemaligen Feinde und der Unterstützung aus ganz Europa und vielen anderen Ländern der Welt möglich.
Das Ende des Herrschaftskommunismus und die wunderbare Wendung der deutschen Geschichte war durchaus anders als die litauische Erfahrung. Nur eine Woche vor den Wahlen zur ersten freien Volkskammer der ehemaligen DDR am 18. März 1990 hatte Litauen als erster baltischer Staat seine Unabhängigkeit von der zerfallenden Sowjetunion erklärt – fast ein halbes Jahrhundert nach dem Einmarsch der Roten Armee 1940. Für den kürzlich verstorbenen sowjetischen Machthaber Michail Gorbatschow bedeutete dies einen „rechtswidrigen Akt“ - eine Bedrohung für die angestrebte Umwandlung der zentralistischen UdSSR in einen föderalistischen Bundesstaat. Während sich das geteilte Deutschland in einer euphorischen Stimmung auf den Weg zur Wiedererlangung der Einheit begab, zeigte Moskaus Machtapparat auf den Straßen von Vilnius seine hässliche Fratze. Mit Wirtschaftsblockaden, durch Geheimdienstaktivitäten und schließlich mit Panzern und Spezialeinheiten versuchte Moskau Litauens Unabhängigkeitserklärung rückgängig zu machen. Der Putschversuch scheiterte – auch Dank der klaren Haltung des Mitbegründers der Unabhängigkeitsbewegung Litauens und des späteren Staatsoberhaupts Vytautas Landsbergis, der auch Ehrendoktor dieser ehrwürdigen Universität ist. Der Kampf für die Freiheit verlief hier nicht unblutig wie in der ehemaligen DDR – und dennoch führte er zur Unabhängigkeit und zur festen Verankerung Litauens in der EU und der NATO. Meine Damen und Herren, welche Lehren wir aus der Geschichte ziehen, ist von elementarer Bedeutung für die Gegenwart.

Für viele Menschen in Deutschland ist es noch eine schmerzliche Erkenntnis: Ein „Ende der Geschichte“, verbunden mit einem unaufhaltsamen Siegeszug von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft hat sich nach der Wende von 1989/90 so wenig eingestellt wie ein dauerhaftes Ende der Ost-West Konfrontation. Dies ist hier im Osten der Europäischen Union schon länger eine Gewissheit. Heute kann niemand mehr die Augen davor verschließen, dass uns das Putin-Regime seine Feindschaft aufzwingt. Der Überfall auf die Ukraine und die brutalen Kriegsverbrechen, deren Zeugen wir seit Februar dieses Jahres sind, haben die neoimperialen Ambitionen Russlands deutlich werden lassen. Nach dem Fall der Mauer hatten die Europäische Union, die NATO und die Gruppe der großen Industrienationen jeweils besondere Beziehungen zu Russland entwickelt und das Land auf verschiedene Weise integriert. Eine Partnerschaft mit dem großen Nachbarn im Osten schien möglich – zumindest während der Jelzin-Jahre. Denken wir an das Budapester Memorandum von 1994 oder die NATO-Russland-Grundakte von 1997. Signale der Kooperationsbereitschaft kamen auch unter Putin. Doch für ihn bedeutete der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Demütigung und Kränkung - die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

Wenn man die Expansionsgeschichte und das Dominanzgebaren Russlands anschaut - die Tschetschenien-Kriege, Georgien, Transnistrien, Krim - hätten wir sehen können: Es gibt eine Kontinuität, denn sowohl Russland als Zarenreich als auch die Sowjetunion offenbarten ein imperiales Selbstverständnis. Nach einer kurzen Zeit der Öffnung gewann dieses Denken immer mehr Raum – auf Kosten von kooperativen und gleichberechtigten Beziehungen. So blieb die Vorstellung einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands letztlich eine Illusion. Russland hat sich entschieden, den Weg der Partnerschaft mit dem Westen zu verlassen und definiert sich heute als Antagonist. Demokratie, Freiheit und Menschenrechte sind eine Bedrohung für das Modell der Machtsicherung einer kleptokratischen Elite. Der Kommunismus als Ideologie ist tatsächlich untergegangen, ein attraktives Gegenmodell zur liberalen Demokratie hat Russland indes nicht zu bieten. Angesichts des von Putin gegen die Ukraine entfesselten Krieges hat die transatlantische Gemeinschaft geeint reagiert. Und Entschlossenheit statt Beschwichtigung bleibt das Gebot der Stunde: Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Daher ist der Anspruch auf Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine richtig. Unsere finanzielle, humanitäre und militärische Unterstützung für die Ukraine werden wir daher fortsetzen. Doch wir müssen auch anerkennen, dass Russland sich entschieden hat, diesen Krieg nicht ausschließlich um das Staatsgebiet der Ukraine zu führen. Auch wir, die liberalen Demokratien in der EU und der NATO, werden implizit zu Feinden erklärt. Das Ziel des Krieges gegen die „Hegemonie des Westens“ ist nicht zwingend die physische Zerstörung, sondern die innere Aushöhlung unserer Strategiefähigkeit, unseres Willens und unserer Werte. Die Wahrnehmung dieser neuen Dimension der Konfrontation mit Putins Russland nimmt zu. In Deutschland sprechen wir von einer „Zeitenwende“. Und doch spüren wir, dass uns vielfach noch eine gemeinsame Sprache fehlt, um den Epochenbruch in den Köpfen der Menschen zu verankern. Ebenso fehlen an einigen Stellen politische Instrumente und Verfahren, um ihm adäquat zu begegnen. Russland hat die Kriegsführung im 21. Jahrhundert ausgedehnt auf nicht-militärische Ansätze - Desinformation und Propaganda, wirtschaftliche, kulturelle und humanitäre Sabotage. Auch nukleare Drohungen zählen dazu. Als wehrhafte Demokratien müssen wir uns an diese Herausforderung anpassen und Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Wir dürfen nicht in Angst erstarren. Angst als eine anthropologische Konstante des menschlichen Daseins zu verstehen, ist das eine. Ein anderes ist es zu erkennen, dass Menschen ihre Ängste relativieren, ja sogar besiegen können, und dass Mut auch dort wachsen kann, wo er lange eine ungelebte Lebensform war.

Wir wissen nicht, auf welche Art und Weise dieser Krieg zu Ende gehen wird. Wir wissen aber, was auf dem Spiel steht - für die Ukraine, aber eben auch für die freien Nationen insgesamt. In den 1990er Jahren haben wir wiederentdeckt, dass Europa zusammengehört als ein Raum der Freiheit – für die Kleinen wie für die Großen, als ein Raum, in dem Wunden aus der Vergangenheit im Geiste der Menschenrechte, der Sicherheit, der Teilhabe, der Solidarität und der Demokratie geheilt werden können. Im westlichen Europa tun wir gut daran, den Blick des östlichen Europas stärker wahrzunehmen. Das westliche Europa braucht etwas von dem Geist der Zuversicht und der Freiheitsliebe, der hier vorherrscht. Gemeinsam werden wir am Recht festhalten, weil wir es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird. Lassen Sie uns dabei nicht vergessen, dass Freiheit, Menschenrechte, die Würde des Menschen Werte sind, nach denen sich Menschen in der ganzen Welt sehnen.

Sehr geehrter Herr Rektor, haben Sie nochmal herzlichen Dank für die Zuerkennung der Ehrendoktorwürde der  Vytautas Magnus Universität. Ich verstehe diese Auszeichnung auch als ein Zeichen der engen Verbundenheit und der unverbrüchlichen Solidarität zwischen Litauen und Deutschland.