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Festrede im Rahmen der Verleihung der LutherRose „Keine liberale Demokratie ohne soziale Marktwirtschaft“

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©Foto: KD Busch

Festrede im Rahmen der Verleihung der LutherRose „Keine liberale Demokratie ohne soziale Marktwirtschaft“

30. April 2022, Stuttgart

Am vergangenen Sonntag feierten orthodoxe Christen das Osterfest. Doch es liegt ein dunkler Schatten auf der österlichen Freudenszeit in diesem Jahr.

Wir alle stehen seit dem 24. Februar 2022 unter den Eindrücken eines brutalen Okkupationskrieges Russlands gegen die Ukraine. Die Bilder, die uns erreichen zeigen zerstörte Städte und Massengräber, es gibt zahllose Belege für die Tötung von Zivilisten, die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen und zudem eine systematische Behinderung von Rettungsaktionen für die Zivilbevölkerung in umkämpften Städten . Die allermeisten haben diese Kriegsgräuel mitten in Europa im 21. Jahrhundert für unvorstellbar gehalten. Doch ein gewissenloser Diktator hat der Ukraine diesen Krieg aufgezwungen und zielt damit auch auf alle freien, demokratischen Gesellschaften, die ihr Schicksal selbst gestalten wollen. Die ukrainischen Frauen und Männer, die sich tapfer gegen den Angriffskrieg stellen, zeigen, dass sie frei und eigenständig bleiben wollen. Niemandes Untertan. Putin hingegen will die ukrainische Nation, die nationale Identiät auslöschen. Vom ersten Tag an richtete sich sein Feldzug unterschiedslos gegen Soldaten und Zivilisten, die getötet, verwundet, vertrieben und verschleppt werden. Was Krieg wirklich bedeutet, können wir über die Schreckensbilder nur erahnen, vielleicht sogar nachfühlen, doch nur ganz wenige von uns können gänzlich verstehen, was es bedeutet, Angst um das eigene Leben, das der Familie und Kinder zu haben, zusehen zu müssen, wie das eigene Heim und die Heimat dem Erdboden gleich gemacht werden, Angst zu haben, vor dem nächsten Sirenenheulen, der nächsten russischen Offensive.

Als aufmerksame Beobachter sehen wir: Putins Krieg gilt letztlich der gesamten freien Welt, der liberalen Demokratie und der Selbstbestimmung der Völker. Viele Menschen spüren, dass nicht einfach ein fremdes Land angegriffen und unterjocht werden soll, sondern dass wir mitgemeint sind, wenn die Ukraine zum Untertan gemacht werden soll. Niemand weiß, wie weit Putins Ambitionen bei der Wiedererrichtung eines großrussischen Imperiums reichen. Niemand kann sagen, dass Übergriffe auf Georgien, Moldawien, Polen oder die baltischen Staaten in Zukunft ausgeschlossen sind. Und darum geht es in diesem Krieg nicht „nur“ um die Ukraine, es geht zugleich um unsere nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen. Wirklichen Frieden in Europa kann es nur geben, wenn die Ukraine diesen Krieg nicht verliert. Wenn es Putin gelingen würde, einem großen Land das Recht auf Selbstbestimmung, auf Souveränität zu nehmen, wäre die Stabilität Europas einer andauernden Bedrohung, einer ernsthaften Gefährdung ausgesetzt.

Meine Damen und Herren,
wenn wir uns anläßlich eines festlichen Anlasses Gedanken über die liberale Demokratie machen, durften die einleitenden Gedanken zur Zeit nicht fehlen.
Aber nun zu unsrem heutigen Thema. Auf einer Konferenz , die mit dem Namen von Martin Luther verbunden ist, möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Verlangen nach demokratischer Teilhabe eine seiner tiefreichenden Wurzeln im reformatorischen Mündigwerden hat. Dies ist ein überaus kostbares Erbe, dessen Bedeutung wir heute neu ermessen können. Die Vergegenwärtigung der reformatorischen Grundgedanken von Tugend, Wissensbildung und Vernunft kann auch in der heutigen Zeit nur „erleuchtend“ sein. Denn wir genießen heute und hier die Freiheit des Glaubens und des Gewissens – unveräußerliche Grundrechte, die ohne die Initialzündung der Reformation schwerlich vorstellbar sind. Und so bin ich dankbar, dass die Internationale Martin Luther Stiftung immer wieder, wie auch heute bereits bei der vorangegangenen Konferenz, Denkanstöße und vielleicht sogar Selbstbewusstsein für die Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft zu finden hilft. Seit der Gründung 2007 hat sich die Stiftung zum Ziel gesetzt, die „Grundimpulse der Reformation in einen themenbezogenen und ergebnisorientierten Dialog von Kirche, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zu übersetzen“.

Fortwährende Denkanstöße und Selbstbewusstsein für Gegenwart und Zukunft gibst auch Du uns seit Jahrzehnten, lieber Wolfgang Huber. Und so ist es nur folgerichtig, dass Deine Arbeit und Dein Engagement mit der Luther-Rose geehrt werden. Du bist einer der profiliertesten Theologen Deutschlands und beförderst wichtige gesellschaftliche Debatten als Vordenker in ethischen Fragen. Du teilst meine Auffassung, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören. Stets verdeutlichest Du die Aktualität dieser Grundüberzeugung – vor Kurzem im Zuge von gesellschaftlichem Handeln während der Corona-Pandemie.

Ich freue mich, dass Du heute mit der LutherRose ausgezeichnet wirst und ich bin meinerseits dankbar für die Ehrung und Anerkennung, die Dir heute zuteil wird.

Meine Damen und Herren,
warum es sich immer wieder lohnt über den Zusammenhang von sozialer Marktwirtschaft und liberaler Demokratie zu sprechen, bedarf angesichts der politischen Entwicklungen in unserer europäischen Nachbarschaft oder auch jenseits des Atlantiks gar keiner einführenden Erörterung mehr. Es lohnt sich aber, wie so oft, gelegentlich einen Blick zurück auf die schattenreiche deutsche Geschichte im letzten Jahrhundert zu werfen. In die Zeit der 20er, nicht nur wirtschaftlich turbulenten Jahre, fallen die Verheerungen der Großen Depression, die Not breiter Bevölkerungskreise, besonders aber der Arbeitslosen, Chaos und Gewalt und das Scheitern der Verteidigung von Freiheit und Demokratie. Auf Weimar folgte ab 1933 die Kommandowirtschaft der Nationalsozialisten und das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte nahm seinen Lauf. Erst mit der Gründung der Bundesrepublik wurde die soziale Marktwirtschaft für die Deutschen im Westen zur gültigen Wirtschaftsordnung. Im Osten aber wurde die Kommando- lediglich durch eine Planwirtschaft ersetzt, die zur Folge hatte, dass Schritt für Schritt die Privatwirtschaft abgeschafft wurde.

Und selbst im Westen dauerte es eine Weile, bis sich die Mehrheit mit der sozialen Marktwirtschaft angefreundet hatte. Schließlich erkannte diese aber, dass zahllose Menschen doch endlich Teilhabe am Fortschritt möglich war, dass sie ihren Anteil an dem, was alle erwirtschafteten, erlangen konnten. Schlicht gesagt: mehr Lebensqualität, mehr Sicherheit und Wohlstand sorgte dann auch für mehr Vertrauen in die Demokratie.

So wurde mit der Etablierung des Systems der sozialen Marktwirtschaft auch ein neues Kapitel der Freiheitsgeschichte in Deutschland geschrieben. Denn: die Freiheit wurde als wichtiges Thema in die Gesellschaft eingebracht - auch indem man über die Freiheit im Bereich der Wirtschaft sprach. Der liberale Denker Friedrich August von Hayek hat zweifelsohne Recht, wenn er feststellt, dass die Freiheit in der Gesellschaft mit der Freiheit in der Wirtschaft untrennbar verbunden ist. Wer eine freiheitliche Gesellschaft möchte, möge sich also einsetzen für Markt und für Wettbewerb und gegen zu viel Macht in den Händen weniger. Er muss aber auch wissen: Eine freiheitliche Gesellschaft beruht auf Voraussetzungen, die Markt und Wettbewerb allein nicht herstellen können. Und so können wir auch festhalten, dass es sich lohnt mit Hayek um das Adjektiv „sozial“ zu ringen.

So wurde eine Ordnung entworfen, in der - in fundamentalem Gegensatz etwa zur neuen Wirtschaftsordnung in der ostdeutschen Diktatur - der Staat keine dominierende Rolle in der Wirtschaft spielt und so viel wie irgend möglich dem freien Spiel des Wettbewerbs überlässt – sich dabei allerdings das Setzen der Regeln selbst zur Aufgabe macht. Es entstand eine Ordnung, die den Einzelnen weder einer staatlichen Bevormundung unterwirft noch entstand ein Markt, auf dem die Starken so groß werden können, dass sie selbst die Regeln bestimmen. Und erlauben Sie mir diesen Einschub mit Verweis auf die heutige Zeit: Denn ebendiese Bedeutung der Erkenntnis der Ordoliberalen zeigt sich aktuell doch sehr deutlich: Wer einseitige Abhängigkeiten - etwa in der Energiepolitik - in Kauf nimmt, der riskiert unter Umständen eine Beeinträchtigung der sicherheitspolitischen Interessen und damit einer notwendigen Voraussetzung für stabiles Wachstum. Dies gilt umso mehr, wenn wir an die Notwendigkeiten für den Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft denken. Wenn uns neue Energiequellen, saubere Technologien und nachhaltige Lieferketten auf diesem Weg helfen sollen, dann brauchen sie auch einen gedeihlichen Rahmen. Dass unsere Abhängigkeiten von Russland heute indirekt zur Finanzierung des Krieges gegen die Ukraine beitragen, gehört zu den unrühmlichen Wahrheiten, denen sich dieses Land stellen muss.

Aber zurück zu unseren grundsätzlichen Überlegungen:

Was in den ersten Jahren in der Bundesrepublik gelang, ist ziemlich schnell auf einen Begriff gebracht worden:  „Wirtschaftswunder“. Aber wenn wir es genau betrachten, ist im Westen Deutschlands auch ein veritables Demokratiewunder entstanden, das heute unser Deutschland prägt. Unzählige Mensche rund um die Welt kennen „Wirtschaftswunder“. Für mich ist der Begriff „Demokratiewunder“ für unser Land eine noch schönere Auszeichnung. Wobei ich nicht übersehen möchte, dass die Erfolge des Prinzips Freiheit im Raum der Wirtschaft gesamtgesellschaftlich große Bedeutung hatten, denn die Akzeptanz die unsere Demokratie, unser Grundgesetz und unsere Rechtsordnung heute genießen, verdanken wir unbestreitbar auch dem Erfolg der sozialen Marktwirtschaft. Denn in diesem Umfeld, frei von elementarer Not, konnte sich ein liberaler Geist entfalten, der unsere Demokratie zu einer politischen Ordnung macht, in der das Individuum vor äußeren Eingriffen und vor Gewalt, auch vor möglicher Gewalt von Seiten des Staates geschützt ist. Nach den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ist diese unauslöschliche Verknüpfung von Liberalismus und Demokratie, prägend geworden. Dieser Liberalismus ist meines Erachtens weitgehend eingegangen in die politische DNA unseres Staates. Toleranz, Respekt, Achtung der Rechte von Minderheiten bilden einen grundlegenden „programmatischen Bestand“ der Demokratie. Er durchwebt die Werte und Haltungen aller Parteien und Bewegungen, die sich die Verteidigung von Freiheit gegen staatliche Willkür verschrieben haben.

Das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft ist zwar bei Weitem nicht so gefestigt, wie es mir angemessen erschiene. Aber zumindest hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung eine gute Meinung von unserem Wirtschaftssystem, wie eine Studie des Instituts Allensbach aus dem letzten Jahr bestätigte. Vor zehn Jahren waren es nur 48 Prozent, 2005 sogar nur 25 Prozent. Die Corona-Krise, die auch eine wirtschaftliche Krise ist und war, hat die mehrheitliche Zustimmung zur sozialen Marktwirtschaft gefestigt.

Für Deutschland könnte demnach das glückliche Fazit nun lauten: soziale Marktwirtschaft und Demokratie haben sich durchgesetzt. Als langjähriger  „Exportweltmeister“ verkaufen wir unsere konkurrenzfähigen und stark nachgefragten Waren auf dem ganzen Globus. Und dank des wirtschaftlichen Erfolges genießen wir im Land ein hohes Wohlstandsniveau und auch hohe soziale Standards – es gibt sie nur in wenigen Ländern so wie bei uns. Doch nach den Einbrüchen durch die Pandemie und einer kurzen Erholungsphase trägt sie nun die Last des russischen Krieges und seiner internationalen Auswirkungen.

Und doch gehen die Umbrüche und Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, weit über Fragen der Anpassung unserer Wirtschaft an die neuen Gegebenheiten hinaus. Die Menschen spüren, dass vielen der neuen Fragen noch viel zu wenige verlässliche Antworten gegenüber stehen. Und so erleben wir alle, dass unser Land weniger von Zuversicht und Vertrauen auf die eigene Leistungsfähigkeit geprägt ist, als wir es uns angesichts dessen, was wir bereits errungen haben, zutrauen könnten. Vielmehr können wir erkennen, dass die Pandemie und Krieg die Verunsicherungen und auch die Zukunftsängste, die in unserer Gesellschaft existieren, noch verstärkt. Ängste vor einem umfassenden forcierten Wandel, der unsere Epoche prägt.

Ängste angesichts großer Umwälzungen kennen wir aus der Geschichte, wenn wir auf andere Fortschrittswellen schauen, die die Menschheit erfassten - denken wir etwa an die Kopernikanische Wende oder die Industrielle Revolution. Heute sehen wir uns gleich einer ganzen Reihe von revolutionierenden Veränderungen globalen Ausmaßes gegenüber: Entgrenzung, Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Migration. Schon vor Jahren stellte der Soziologe Zygmunt Bauman fest, wir stehen "vor Herausforderungen, die in der Geschichte ohne Beispiel sind".

Die daraus erwachsene Angst lässt einen Teil der Verunsicherten populistischen Parolen gegen „das Establishment“ oder „das System“ folgen. In Polen, Ungarn, Brasilien und in Amerika unter Trump haben sich Rechtspopulisten durchgesetzt, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas siegten in der Vergangenheit Linkspopulisten. Hier wie dort hoffen ihre Wähler auf starke Anführer, die ihnen trotz komplexer Lage beruhigende, einfache Lösungen vorschlagen. Es fehlt an Geduld, die es in einer tiefgreifenden Übergangssituation zu bewahren gilt, wenn das Alte verschwindet, das Neue aber erst allmählich geboren wird. Und es fehlt an Vertrauen, dass sich die Demokratie der mehrfachen Herausforderung gewachsen zeigen wird.

Zudem zeigt die Entwicklung auf anderen Kontinenten, dass wirtschaftlicher Aufstieg und technischer Fortschritt keineswegs mehr automatisch an das – wie der Historiker Heinrich August Winkler es nennt – „normative Projekt des Westens“ geknüpft sind. Die kommunistische Führung hat China mit einer Mischung aus Autoritarismus und Kapitalismus einen bemerkenswerten Entwicklungsschub beschert. Auf geopolitischer Ebene tritt das Land Schritt für Schritt in Konkurrenz zur Supermacht Amerika. Und auch Europa, einst der Ausgangsort für Aufklärung und weltweite technische Erneuerungen, droht von China technologisch überholt zu werden.

Viele Menschen weltweit fragen sich also: Gehört anderen Modellen die Zukunft? Sind liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft in Gefahr – quasi ein historisches Auslaufmodell?

Aus unserer eigenen Geschichte, dem Scheitern der Demokratie in der Weimarer Republik, dem Scheitern des sozialistischen Modells in der DDR und dem Erfolg der jungen Bundesrepublik, wissen wir: Die freiheitliche Wirtschaftsordnung und die Demokratie legitimieren und bedingen sich gegenseitig – sie können sich aber auch gegenseitig beschädigen. Dieser Wechselbeziehung sollten sich also Alle bewusst sein, die in aktuellen Debatten entweder nach einem allmächtigen Staat rufen, der den Markt umkrempelt und uns im Alleingang von den großen Krisen unserer Zeit befreit oder die allein im freien Spiel der Kräfte die Lösung für alle gegenwärtigen Probleme sehen. Und dies sollten auch diejenigen wissen, die sich eine weniger liberale Demokratie wünschen, sich nach mehr Homogenität sehnen und gar meinen, mit einem starken Führer würde es ihnen auch wirtschaftlich besser gehen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
die Stabilität unserer Demokratie steht heute bei uns nicht ernsthaft in Frage. Frustration, Kritik und Wut in Deutschland haben zumindest bislang nicht zu einer mehrheitlichen Ablehnung der Demokratie und einer wesentlichen Unterstützung radikaler Parteien geführt. Anders gesagt: Die Erosion traditioneller Parteien ist nicht mit einer Erosion gemäßigter politischer Positionen einhergegangen. Allerdings hat die Gewalt aus extremistischen Milieus heraus deutlich zugenommen. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Verachtung für den westlichen freiheitlich-liberalen Lebensstil sind allerdings wie Gift in Teile der Gesellschaft eingedrungen, und die Hemmschwelle dessen, was aggressiv geäußert wird, ist insgesamt gesunken. Deutschland hat sogar wieder Morde aus politischen Motiven zu beklagen. Und es ist ganz klar: Hier muss sich der Rechtsstaat als handlungsfähig gegen alle erweisen, die unsere Demokratie mit Gewalt bedrohen.

Gleichwohl sollten wir uns bewusst machen: Diese, unsere Demokratie ist von sich aus stark. Sie muss allerdings ihre Wehrhaftigkeit und ihre Effektivität neu unter Beweis stellenEine Vielzahl von Bürgern hat den Wunsch nach Wandel bei der letzten Bundestagswahl zum Ausdruck gebracht. Nicht wenige aber sind enttäuscht von der liberal-demokratischen Ordnung, weil sie mehr von ihr erwartet haben, und weil sie ihr immer noch mehr zutrauen als das, was sie augenblicklich leistet. Aber trotzdem setzen sie ihre Hoffnungen nicht nur auf zivilgesellschaftliche Aktionen, Bewegungen und Proteste, sondern immer wieder auch auf Wahlen. Mögen Wahlen von manchen auch als unzureichende Partizipationsmöglichkeit kritisiert werden, so zeigt sich doch auch, dass sie zu aktivieren vermögen; sie nähren die Hoffnung auf bessere Ergebnisse für die jeweils präferierte Partei. Sie wecken die Hoffnung auf neue Sieger und Verlierer, auf neue Koalitionen und damit neue politische Prioritäten. Sie wecken die Hoffnung auf beständige Erneuerung.

Unter dem Stichwort „faire Teilhabe und Chancengerechtigkeit“ möchte ich in diesem Sinne heute daran erinnern, dass das große Versprechen in den 1950er Jahren „Wohlstand für alle“ lautete. Dieses Versprechen ist, wenn wir auf die westdeutsche Geschichte schauen, lange Zeit eingehalten worden.

Heute wissen wir, dass in den letzten Jahren – gerade mit Blick auf die unteren Einkommensschichten – die faire Teilhabe am Wohlstand nicht mehr in wünschenswertem Maß gegeben ist. In den Zeiten der Pandemie standen z.B. die Pfleger, Arzthelferinnen, Kassierer stellvertretend für dieses Bild der essenziellen Berufe, die zu schlecht bezahlt sind. Schon heute gibt es Branchen mit enormen Nachwuchsproblemen und was der demografische Wandel für den Arbeitsmarkt bedeutet, dürfte vielen von Ihnen bereits bekannt sein.

So ist auch die Wirtschaft in der Pflicht, der Wahrnehmung entgegenzuwirken, dass es einen Konflikt zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit gibt. Die Gefahr ist sehr eindeutig fühlbar: Wer sich abgehängt fühlt, wer meint keine faire Chance auf Teilhabe mehr zu haben, der hat nicht mehr zwangsläufig ein Interesse am Fortbestand der bestehenden Ordnung und bringt dies dann auch bei seiner Wahlentscheidung zum Ausdruck. Wohin eine solche Entwicklung in einer Demokratie führen kann, konnten wir unter der Trump-Administration beobachten. Dann wird das Heil häufig auch in wirtschaftlicher Abschottung und nationalistischer Isolation gesucht. Das kann sich ja nun wirklich niemand wünschen - und leisten kann sich unser Land das auch nicht! Denn wir profitieren wie kaum ein anderes Land vom freien Handel.

Uns muss klar sein: Es hat gravierende Folgen für eine Gesellschaft, wenn ganze Regionen und viele Menschen einen realen Wohlstandsverlust hinnehmen müssen. Ich bin dankbar für unsere Erfahrungen, die zeigen, dass die soziale Marktwirtschaft uns vor einem solchen Auseinanderfallen großer gesellschaftlicher Blöcke schützt. Es gibt wahrlich Menschen, denen weiter Unterstützung zuteilwerden muss – auch in diesem Land. Es gibt auch Gründe zur Unzufriedenheit in bestimmten Bereichen. Aber wenn wir uns den Zustand in den Vereinigten Staaten anschauen und dem gegenüber diese innere Stabilität, die trotz allem unser Land prägt, dann wird uns einmal deutlich, von welcher enormen Langzeitwirkung wir sprechen dürfen und in welchen Dank wir denen schulden, die dieses Konzept der sozialen Marktwirtschaft erdacht, umgesetzt, verteidigt und ausgebaut haben. Das kann man nicht auf eine Person beziehen, übrigens auch nicht auf eine Partei. Aus den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus ist die gemeinsame Überzeugung gewachsen, dass die Wirtschaftsordnung auch der gesamten Gesellschaft dienen muss. Dieses Konzept des sozialen Ausgleichs, wie es die Skandinavier mit uns zusammen etabliert haben, ist manchmal kompliziert, gelegentlich paternalistisch und es ist bürokratisch. Aber es ist ein großer geschichtlicher und historisch bedeutsamer Schritt gewesen, eine Gesamtbevölkerung nicht in fortwährenden Klassenkämpfen zu sehen, sondern sie zusammen zu bringen – nicht zuletzt, um größere Aufgaben zu bewältigen, die gemeinsames Handeln erfordern

Wir sollten bei aller Wertschätzung für unsere historischen Errungenschaften aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass unser Land großem Reformbedarf hat und dieser nur von Staat und Wirtschaft gemeinsam bewältigt werden kann.

Wenn es der neuen Regierung gelingt, auf diesen und anderen Feldern Reformen anzugehen und damit das Versprechen auf Teilhabe und Chancengerechtigkeit neu einzulösen, dann entsteht auch neue Zuversicht dort, wo derzeit noch Ängstlichkeit und Mutlosigkeit vorherrschen.

Mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, die auch ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung lebt, lässt sich auch der systemische Wettbewerb mit anderen Gesellschaftsmodellen aufnehmen und gewinnen.

Diesen Wettbewerb sollten wir also nicht fürchten. Denn einmal verweisen wir auf die Erfolge, die aus unserem System erwachsen sind, und zum anderen kann nur in unserer Gesellschaft ein zutiefst menschliches Bedürfnis gelebt werden: Menschen können frei von Zwang eigenverantwortlich ihre Gesellschaft, ihr Miteinander gestalten. Und weil sie Freiheit letztlich definieren als Verantwortung nehmen sie wahr, dass wir nur in einer Ordnung der Bezogenheit aufeinander dauerhaft erfolgreich sein können. In beeindruckender Weise verbinden sich hier Teile der biblischen Botschaft, sehr praktische menschliche Lebenserfahrungen und politsche Zielvorstellungen miteinander.

Sehen wir also unsere so oft hinterfragte Gesellschaft einmal aus dieser Perspektive an - und wir erblicken einen Raum der Möglichkeiten, in dem Zukunft nicht Furcht und Eskapismus auslöst sondern realitätsbasierte Zuversicht, Selbstvertrauen und Mut.