Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck zu Gast beim Forum Frauenkirche

02. April 2022, Dresden

Änderungen vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

„Welche Zukunft hat die liberale Demokratie?“

 

Bevor ich über irgendeine Zukunft nachdenke, muss ich über die Gegenwart sprechen, und auch Vergangenes wird eine Rolle spielen. Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen Eroberungskrieg gegen einen friedlichen, demokratischen Staat an der Grenze zur Europäischen Union. Vor 37 quälend langen Tagen begann Putins Terror gegen Frauen und Kinder, Soldaten und Zivilisten, die getötet, verwundet, vertrieben und verschleppt werden. Wir wissen heute noch nicht, wie und wann dieser schreckliche Angriffskrieg enden wird. Wir wissen aber schon jetzt, dass er das Denken und Handeln der Menschen in Deutschland, Europa und weiten Teilen der Welt verändert hat und weiter verändern wird.

Wir begegnen uns also in Zeiten des Krieges in Europa an diesem schönen und historischen Ort in der Dresdner Frauenkirche. Unsere Gedanken sind bei den Menschen in der Ukraine, unser Mitgefühl gilt allen, die unter Verfolgung, Not und Krieg leiden. Bei dieser Gelegenheit will ich insbesondere denen danken, die den vielen Flüchtlingen helfen, sie aufnehmen oder mit Spenden unterstützen. Und ich möchte Sie zu Beginn meiner Rede zu einem kurzen Moment der Stille einladen. 

Die Grausamkeit und die Zerstörungskraft dieses Krieges machen uns tief betroffen. Und die Bilder des Krieges in der Ukraine heute erinnern uns an jene Schreckensbilder 1945 – gerade hier in Dresden, gerade hier in der Frauenkirche, die uns über Jahrzehnte als mahnende Ruine im Herzen dieser Stadt an die blinde Zerstörungskraft flächendeckender Bombardierung erinnert; gerade hier, in diesem barocken Prachtbau, der nach dem Wiederaufbau so hell strahlt als Symbol für Frieden, Versöhnung - und nicht zuletzt als Zeichen für die Kraft von zivilgesellschaftlichem Engagement.

Das Leid, das Putin und seine Truppen über die Ukraine bringen, hat uns wachgerüttelt. Die Rollen in diesem Konflikt sind sehr klar verteilt zwischen Täter und Opfer. Eine moralische und rechtliche Äquidistanz zu den Konfliktparteien kann es also nicht geben. Die Bundesregierung hat angesichts dieser Situation zu Recht eine Kehrtwende in der Sicherheitspolitik eingeleitet, will der Ukraine beistehen, um zur Abwehr der Aggression Russlands beizutragen - auch mit Waffen. Und viele Menschen in Deutschland bezeugen ihre Solidarität, sie helfen und unterstützen, sie spenden, sie setzen Zeichen, sie fühlen mit und nicht wenige verzweifeln daran, dass es so schwierig ist, sich Putin noch entschiedener und substanzieller entgegenzustellen.

Wir spüren ja, dass nicht nur ein fernes Land angegriffen und unterjocht werden soll. Wir spüren, dass wir mitgemeint sind, wenn der Ukraine ihre Selbstbestimmung genommen werden soll. Putins Krieg gilt letztlich der freien Welt, der liberalen Demokratie. Er gilt den Menschenrechten, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Gewaltenteilung, der Herrschaft des Rechts. Auch wir sind bedroht. Niemand weiß, wie weit Putins Ambitionen bei der Wiedererrichtung eines großrussischen Imperiums reichen. Niemand kann sagen, dass Übergriffe auf Polen oder die baltischen Staaten in Zukunft ausgeschlossen sind.

Fast alle haben sich geirrt, - oder sollte ich besser sagen: wollten sich irren – als sie glaubten, Stabilität und Frieden hätten endgültig Vorrang gewonnen gegenüber imperialem Machtstreben. Putins Krieg hat nun den Staaten Europas schmerzhaft bewusst gemacht: Unsere Demokratie ist nicht allein von innen, nein, sie ist auch von außen bedroht.

Wir befinden uns in einem neuen großen Kampf, wie ihn in der amerikanische Präsident Joe Biden vor einigen Tagen in Warschau skizziert hat, in einem Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Welt und einer Welt, die von brutaler Gewalt regiert wird. Doch auch Putin hat sich geirrt: Anders als in der Vergangenheit begegnen die EU und die NATO seiner neoimperialen Expansion mit massiven Sanktionen und mit militärischer Unterstützung für die Ukraine. Uns ist bewusst geworden, wie viel wir zu verlieren haben. Wir sind daher zusammengerückt. Das NATO-Bündnis wurde gefestigt, ebenso die Europäische Union. Wir haben gelernt: Freiheit ist nicht umsonst zu haben. Und wir haben von den mutigen Ukrainern zu lernen, die unter großen Opfern mit ihrer Freiheit auch die unsere verteidigen.

Doch wie konnte es geschehen, dass wir etwas eigentlich Selbstverständliches aus dem Blick verloren haben?

Die meisten von Ihnen erinnern sich sicher an die Euphorie von 1989: Die freie Welt hatte über den Totalitarismus gesiegt. Wir wähnten uns am „Ende der Geschichte“. Die Friedensdividende nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Lagers hat uns in dem Glauben gewiegt, wir lebten in einer besseren, friedlichen, postheroischen Zeit. Wozu noch Wehrbereitschaft? Wozu noch Rüstung? Dialog statt Konfrontation. Einbindung statt Abschreckung, so lauteten die Leitlinien. Durch Abmachungen und Gespräche näherten sich NATO und Russland einander an.

Wir haben danach zu oft die Augen vor offenkundiger Aggressivität verschlossen und globale Machtkämpfe nicht ernst genug genommen – obwohl es auch in unserer Umgebung viele Warnzeichen gab, etwa in Tschetschenien, Georgien, Syrien, auf der Krim, in den "Separatisten"-Gebieten von Donezk und Luhansk, und auch obwohl der Umgang mit der demokratischen Opposition in Russland uns die Rechtsferne und den antidemokratischen Gestus des Putinregimes drastisch vor Augen geführt hatten.

Wir haben verbalen Verurteilungen bei Völkerrechtsverletzungen nur halbherzige Sanktionen folgen lassen und noch nach der Krim-Besetzung Nord-Stream 2 auf den Weg gebracht. Schon 2014 habe ich – damals als Bundespräsident - anlässlich des 75. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs in Polen gesagt: „Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren nur vergrößern.“

Vor allem aber haben wir uns dem Glauben hingegeben, dass wirtschaftliche Verflechtung automatisch zu Liberalisierung und Annäherung mit Putins Russland führen würde. Wir hielten die Kooperation für beständig und den Wandel durch Handel für zwangsläufig. Dieses Bild scheint in der Rückschau seltsam geschönt, geprägt von Naivität, Selbstüberschätzung und Wirklichkeitsverweigerung. Und das nicht bei einigen wenigen Verblendeten, sondern parteiübergreifend bei wesentlichen Teilen der politischen Klasse in Deutschland. Die Zeitenwende kann insofern nicht nur in einer Aufstockung unserer Verteidigungsfähigkeit bestehen. Sie ist erst dann tatsächlich vollzogen, wenn wir uns der Wirklichkeit stellen, wie sie ist; wenn wir mit unserer Zurückhaltung, strategisch zu denken, aufhören und uns den neuen geopolitischen Herausforderungen stellen. Wenn wir - kurz gesagt - bereit sind, unsere Freiheit (notfalls tatsächlich) auch militärisch zu verteidigen.

Wir sollten uns dabei auch bewusst machen, dass unsere östlichen Nachbarn mit ihren Beschreibungen der imperialen Ambitionen Russlands eine ernsthafte Bedrohung antizipierten, die allzu viele bei uns nicht erkennen wollten oder konnten.

Viel deutlicher als wir in Deutschland waren und sind diese Länder der Einflussnahme und Bedrohung durch Russland ausgesetzt, doch vergeblich haben sie uns auf die Gefahren aufmerksam gemacht. Bei dem - im Prinzip guten - Bemühen, Brücken nach Russland zu bauen hat Deutschland sich phasenweise von seinen Verbündeten entfernt, von jenen im Osten und auch von Amerika. Es gilt nun den Schulterschluss zu wahren, wie er sich angesichts des Angriffskriegs hergestellt hat. Nur vereint können wir die Bedrohung abwehren. Aber wir müssen sie auch abwehren wollen, müssen mit Kopf und Herz erkennen: Frieden wie Freiheit sind nicht nur zu loben und zu lieben, sie sind auch zu verteidigen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die aktuelle Bedrohung der Demokratie von außen darf nun allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Demokratie auch von innen bedroht ist. In vielen Ländern hat die Demokratie schon seit Jahren an Akzeptanz verloren. Erstmals in diesem Jahrhundert finden sich unter den Ländern mit mehr als einer Million Einwohnern weniger Demokratien als nichtdemokratische Regime.

Zudem zeigt die Entwicklung in Fernost, dass wirtschaftlicher Aufstieg und technischer Fortschritt keineswegs mehr automatisch an das – wie der Historiker Heinrich August Winkler sagt – „normative Projekt des Westens“ geknüpft sind. Die kommunistische Führung hat China mit einer Mischung aus Autoritarismus und Kapitalismus einen bemerkenswerten Entwicklungsschub beschert. Auf geopolitischer Ebene tritt das Land Schritt für Schritt in Konkurrenz zur Supermacht Amerika. Und Europa, einst der Ausgangsort für Aufklärung und Impulsgeber für technische Erneuerungen weltweit, droht von China überholt und systemisch herausgefordert zu werden. Sind Autokratien den Demokratien mithin überlegen? Sind sie effektiver und kraftvoller? Ist die liberale Demokratie in existenzieller Gefahr – quasi ein historisches Auslaufmodell?

Lassen Sie mich wenigstens auf einige zentrale Punkte eingehen:

Schon seit geraumer Zeit gibt es Entwicklungen, die in weiten Teilen der Welt autokratische Tendenzen begünstigt haben. In Polen, Ungarn, Brasilien und in Amerika unter Trump haben sich immer wieder Rechtspopulisten durchgesetzt, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas siegten Linkspopulisten. In Frankreich, Großbritannien und unserem eigenen Land haben Empörungs- und Wutwellen dazu geführt, dass der Einfluss traditioneller Parteien zurückgegangen ist, außerparlamentarische Bewegungen an Bedeutung gewonnen haben und radikale Positionen und Parteien teilweise beträchtliche Unterstützung erfahren.

Fragt man nach den Gründen, so dürfte es mehr als nur einen geben, aber ein äußerst wirkmächtiger scheint mir der umfassende und schnelle Wandel in der Welt zu sein. Diese verändert sich in einer Geschwindigkeit, die zuvor nicht vorstellbar war. Wir sehen uns gleich einer ganzen Reihe von umwälzenden Veränderungen globalen Ausmaßes gegenüber: Globalisierung, Digitalisierung, überwältigende technologische Innovationen, Klimawandel, Migration und zuletzt die Pandemie. Derart epochale Umbrüche setzen zwangsläufig auch Ängste frei, weil sich sehr viele Menschen mit der Komplexität und Vielfalt der Probleme überfordert sehen, und bei manchen Menschen wandelt sich die Angst in Aggression. Dann folgen überall Teile der Bevölkerung populistischen Parolen gegen „das Establishment“ oder „das System“ und hoffen auf starke Anführer, die ihnen beruhigende, einfache Lösungen vorschlagen, auch ein Verbleiben im Vertrauten. Es mangelt diesen Menschen an Selbstvertrauen und Geduld, die es in einer tiefgreifenden Übergangssituation zu bewahren gilt, wenn das Alte verschwindet, das Neue aber erst allmählich geboren wird. Und es fehlt ihnen Vertrauen, dass sich die etablierten Parteien den vielfachen Herausforderungen gewachsen zeigen werden. Und, um dies auch deutlich zu sagen: Einigen fehlt der Wille, sich nicht in Wahnwelten zu flüchten. Und Wenige stellen sich gar aktiv gegen unsere freiheitlich-demokratische Ordnung.

Demgegenüber sehe ich auch eine erstaunlich positive Entwicklung in Deutschland, die ich noch vor kurzer Zeit nicht zu prognostizieren gewagt hätte: Radikale Parteien haben bei den letzten Wahlen auf Bundes- und Landesebene schwach abgeschnitten, die Bundestagswahlen zeigten zudem, dass die Menschen einen Wechsel der Regierungsmannschaft wollten, aber mit Vertretern von Parteien, die Neues anpacken wollen, dabei konstruktiv und nicht destruktiv agieren, und die Wandel einleiten, der rational begründet ist. Sehr positiv erlebe ich auch, dass die deutsche Bevölkerung auf unvorhergesehene Ereignisse wie Hochwasserkatastrophen und jetzt in den letzten Wochen auf die Ankunft einer großen Zahl von ukrainischen Flüchtlingen ohne jede Hysterie, mit konstruktiver Energie und großer Solidarität reagiert hat. Mein Eindruck ist, dass unsere Gesellschaft in Krisen auch wachsen kann. Mag die Fragilität der Parteienlandschaft auch zugenommen und die Bindung an Parteien abgenommen haben, mag in der Öffentlichkeit und in den sozialen Netzen auch häufig Unvernunft und destruktives Gebaren zutage treten, so sehe ich doch insgesamt eine starke Bereitschaft zum Engagement, zur ehrenamtlichen Tätigkeit, generell auch ein großes politisches Interesse.

Und ich sehe auch, dass die deutsche Bevölkerung durchaus bereit ist, einen gewissen Einbruch der Wirtschaftsleitung hinzunehmen, wenn sie damit einen Beitrag zur Herstellung von Frieden und Freiheit leisten kann. Sie ist offensichtlich bereit, eine Politik mitzutragen, die rational begründet und transparent kommuniziert wird, selbst wenn sie mit gewissen Einschränkungen verbunden sein sollte. Insgesamt sehe ich also großes politisches Verantwortungsbewusstsein für eine wertegeleitete Politik.

Allerdings wäre es verfrüht – oder beschönigend -, diese Entwicklung zu verallgemeinern. Unsere Erleichterung etwa über die Wahl von Präsident Biden, der uns gerade in diesen Zeiten ein unersetzbarer Verbündeter und guter Partner ist, sollte uns jedenfalls nicht blind dafür machen, dass die amerikanische Gesellschaft immer noch tief gespalten und anfällig für den Trump‘schen Populismus ist. Amerikas checks and balances, so hörte ich immer wieder, seien stark genug, um ein autoritäres System zu verhindern.

So, als verschafften sie der Demokratie eine geradezu automatische Resilienz. Aber ist eine derartige institutionelle Stabilität der Demokratie wirklich eine dauerhaft verlässliche Größe?

Ich fürchte, wir haben die eher lautlosen Formen von Aushöhlung der Demokratie oft nicht wahrgenommen. Leider haben die Erfahrungen der letzten Zeit den eigentlich schon bekannten, aber gleichwohl erschreckenden Befund bestätigt: Demokratien können sich auch zurückentwickeln. Denn Demokratien – so der amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski - verfügen über keine institutionellen Mechanismen, die sie generell „davor schützen, von einer rechtmäßig gewählten Regierung, die sich an die konstitutionellen Regeln hält, untergraben zu werden“. Die Zerstörung der Demokratie kann vielmehr unbemerkt eingeleitet werden mit Maßnahmen, die noch nicht direkt gegen die verfassungsmäßigen Regeln und gegen Gesetze verstoßen und als einzelne nicht alarmierend wirken müssen, und die dennoch die freiheitliche Demokratie immer ein wenig mehr untergraben und den Regierenden schließlich eine unantastbare Vormachtstellung sichern.

Wie das gelingt? Zum Beispiel,

indem etwa das Wahlrecht oder die Wahlbezirke so modifiziert werden, dass ein Machtwechsel durch Wahlen erschwert oder gar verunmöglicht wird.

Oder indem sich Regierungen oder regierungsnahe Unternehmen nahezu dominierenden Einfluss in der Medienwelt verschaffen.

Oder indem Justizorgane und sogar das Oberste Gericht mit den Anhängern der Regierungspartei besetzt werden, so dass die Unabhängigkeit der Justiz verloren geht.

Verfügt die Regierungspartei dann erst einmal über die parlamentarische Mehrheit, weil sie das Wahlvolk beispielsweise mit finanziellen Vergünstigungen lockt oder durch Feindbilder eint, kann sie weiter ganz legal und offen diskriminierende Gesetze durchsetzen.

Das Problem einer derartigen schrittweisen Aushöhlung der Demokratie besteht genau darin, dass es so schwerfällt, die Gefährdung klar zu erkennen und die Menschen dagegen zu mobilisieren, eben weil die einzelnen Anlässe oft so klein oder so leise oder so unauffällig sind, so dass systemverändernde Folgen schwer vorstellbar erscheinen. Nur wenn es der Opposition – oder der Zivilgesellschaft gelingt, die langfristigen Folgen bestimmter Schritte vorauszusehen und dies der Öffentlichkeit überzeugend zu vermitteln, besteht die Chance für einen erfolgreichen Widerstand. Kommt er zu spät, verabschiedet sich zuerst der Liberalismus und am Ende kann die Demokratie sterben.

Aber was folgt aus diesen inneren wie äußeren Bedrohungen für die liberale Demokratie?

Sehr geehrten Damen und Herren,

es gilt, den liberalen Geist unserer Demokratie zu verteidigen, wo und wann immer er bedroht wird. Es gilt die Grundrechte des Bürgers zu sichern, denn die Demokratie ist ein System, das ihm nicht nur seine Freiheit garantiert sondern ihn zudem auch vor äußeren Eingriffen, vor Gewalt schützt, übrigens - und sehr wichtig- auch vor möglicher Gewalt seitens des Staates.

Allerdings – und darauf verweise ich gerade angesichts der augenblicklichen Krisensituationen - kann sich auch der liberale Rechtsstaat gezwungen sehen, die Freiheiten des Bürgers zu beschneiden. Denn auch in demokratischen Staaten gibt es immer wieder Situationen, in denen die Sicherheit einer Gesellschaft so bedroht ist, dass ein Eingreifen des Staates erforderlich ist. Wir haben dies erlebt mit den staatlichen Verhaltensregeln während der Corona-Pandemie; wir erleben es, wenn Meinungs- und Versammlungsfreiheit rechts- und linksradikaler und islamistischer Gruppen sowie Kriegshetze und Hasspropaganda eingeschränkt oder verboten werden; und wir könnten es neu erleben, wenn Energiemangel etwa zu Geschwindigkeitsbeschränkungen oder sonstigen Einschränkungen führen sollte.

Für alle wachsamen Verfechter der liberalen Demokratie gilt es in solchen Situationen zu prüfen: Sind die Notstandsmaßnahmen der jeweiligen Lage angemessen oder sind sie eine unverhältnismäßige Einschränkung persönlicher Freiheiten? Werden Einschränkungen auch zurückgefahren, wenn die Notsituation vorüber ist? Die Balance zu finden zwischen dem Schutz der Verletzlichen und dem Erhalt demokratischer Standards zählt, z.B. in der Corona-Pandemie zu den großen Herausforderungen für die Regierungen weltweit.

Nach Untersuchungen einer Forschungsgruppe in 144 Ländern stellte sich allerdings heraus, dass die Maßnahmen demokratischer Regierungen deutlich weniger Verstöße gegen grundlegende Freiheitsrechte verursachten als die Maßnahmen autokratischer Regierungen. Denken wir nur an den augenblicklichen Lockdown in Shanghai, der das gesamte Leben der 15 Millionen Stadt zum Erliegen gebracht hat. Gleichzeitig gilt: Wer eine Strategie verfolgt, die jedes Risiko ausmerzen soll, unterminiert die Freiheit und das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen. Beides aber gehört zum Kernbestand der liberalen Demokratie.

Sehr geehrte Damen und Herren,

für mich und ganz besonders für alle, die politische Ohnmacht erlebt haben, bleibt Liberalismus zentral mit der Sicherung von Freiheitsrechten verbunden. Das macht seinen Geist aus, der seit der amerikanischen Verfassung aus der Demokratie mehr macht als Wahlen, Gewaltenteilung und Rechtsstaat. Anfangs eilten die freiheitlichen, humanistischen Ideen der Realität zwar voraus, nicht alle Menschen waren gleichberechtigt, wahlberechtigt, gleich geachtet. Inzwischen stehen die Menschen- und Bürgerrechte einem jeden Menschen jedoch ungeachtet seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Religion, Klassenzugehörigkeit oder sexuellen Orientierung zu. Wer diese Rechte missachtet, kann in liberalen Demokratien juristisch belangt werden, und was nicht justiziabel ist, trifft in diesen Ländern auf deutliche Kritik.

Dieser Liberalismus ist meines Erachtens weitgehend eingegangen in die politische DNA unseres Staates. Toleranz, Respekt, die Fähigkeit zum Kompromiss und die Achtung der Rechte von Minderheiten bilden einen grundlegenden „programmatischen Bestand“ der Demokratie.

Die Überlegenheit der liberalen Idee zeigt sich auch in der sozialen Marktwirtschaft: das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Demokratien liegt höher als in den Autokratien; nur wenige Autokratien erzielen höhere Ergebnisse, die meisten autokratischen Länder bewegen sich an der Armutsgrenze. Zudem wird der Markt in der liberalen Demokratie sozial eingehegt; auf Mitsprache und Teilhabe ausgerichtete Institutionen bilden die Grundlage für ein Armut reduzierendes Wirtschaftswachstum. Ich weiß, dass ich hiermit teilweise Zielvorstellungen beschreibe.

Ich spreche hier über einen Rahmen, den Politik und pluralistische Gesellschaft ausfüllen können. Denn eine ganz zentrale Rolle für die liberale Demokratie spielt in der Tat der Pluralismus. Der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel beschrieb in den 1950er Jahren die modernen westlichen Gesellschaften kurz: nicht homogen, sondern heterogen. In ihnen existieren verschiedene, miteinander konkurrierende Gruppen, angefangen von Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, ethnischen, sexuellen, religiösen Interessengruppen. Pluralismus, wie er hier als Grundlage einer liberalen Demokratie gesehen wird, ist gezeichnet von Diskurs und auch von Streit. Dem Staat kommt dabei die Aufgabe zu – ich zitiere Fraenkel – „im Rahmen der bestehenden differenzierten Gesellschaft zwischen den organisierten Gruppeninteressen einen Ausgleich zustande zu bringen, der zu …. einem reflektierten consensus“ zu führen vermag.

Nachdem Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist und auch multiethnische und multikulturelle Gruppen sichtbarer in unserem Alltag mitbestimmen, brauchen wir für die Gestaltung der Demokratie umso mehr auch das Gemeinsame, das Verbindende: Die Verbindung von Partikularinteressen und Gemeinschaft und einen allgemein akzeptierten Wertekodex, der in politischen Kontroversen als Richtschnur gilt. Nur so kann in der pluralisierten Welt von heute der Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben. Nur so kann das entstehen, was ich die Einheit in der Vielfalt nenne.

Der Pluralismus ist die Hefe, die unsere Demokratie vorantreibt. Pluralismus erzwingt Dialog und Kompromiss, er ermöglicht Einzelnen und Kollektiven eine adäquate Interessenvertretung, erwartet aber auch Selbstreflektion und Toleranz gegenüber dem Anderen. Wutbürger und Systemgegner lehnen derartiges ab. Aber auch in anderen Teilen der Gesellschaft sehe ich noch einen Mangel: Zum einen versuchen Einige durch Intoleranz ihre zumeist identitätspolitischen Interessen durchzusetzen. Zum anderen nutzen viele Bürger die Möglichkeiten der liberalen Demokratie nicht.

So hat einerseits die Demokratie im digitalen Zeitalter die Diskurs-Hegemonie der politischen Klasse aufgebrochen. Das Internet hat die Demokratie auf eine bisher nicht bekannte Weise demokratisiert, indem es eine direkte, unmittelbare Kommunikation schuf und nun alle in Echtzeit mitreden können. Online-Aktivisten können unter Umständen sogar mehr Einfluss entwickeln als etablierte Politiker. Aber gleichzeitig haben wir die Agora verloren – den großen Versammlungsplatz, der in der Antike alle Bürger bei wichtigen Anlässen zusammenführte. Sehr viele Menschen bewegen sich heute fast ausschließlich in ihrer Blase, unter Gleichgesinnten, wo die Kommunikation allein der Selbstvergewisserung dient. In derart abgeschlossenen Communities ist niemand angehalten zu prüfen, welche Angaben wahr sind und welche aus Fake News bestehen. Niemand hat zu lernen, sich mit anderen Meinungen auseinander zu setzen und sich selbst kritisch zu hinterfragen. Doch letztlich ist es der Austausch, der die Demokratie fruchtbar, innovativ, vielgestaltig macht und durch Kompromissbildung einen sozialen Frieden sichert.

Deswegen brauchen wir Pluralität und Toleranz, denn sie schaffen die Voraussetzung für die Lernfähigkeit und die Stabilität des Systems. Deswegen gilt es noch stärker als bisher gegen jene Verrohung von Sprache und Sitten und jenen Hass vorzugehen, der sich auf den Straßen und besonders im Netz immer ungenierter zeigt, der Andersdenkende bedroht und manchmal nicht vor Mord zurückschreckt. Wir haben uns gleichermaßen zu wehren gegenüber Rechts- und Linksradikalen, Islamisten und anderen Fundamentalisten.

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Krieg gegen die Ukraine führt dazu, dass wir uns neu mit sehr ernsten Fragen beschäftigen müssen: Wir werden uns neu vor Augen zu führen haben, was uns lieb und teuer ist: Unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Rechtsordnung, unsere Lebensweise, unser Land, unser geeintes Europa. Wir werden lernen, es verteidigen zu wollen: Auf allen verschiedenen Ebenen, politisch, ökonomisch, kulturell und wo nötig auch militärisch. Viele Menschen in unserem Land wissen es und andere ahnen es: Wir können bedeutend mehr ertragen und leisten, als unsere Ängste es uns einreden.

Und wenn wir heute auf die Ukraine schauen, dann sehen wir nicht nur, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer Opfer eines Angriffskrieges sind. Wir sehen auch, welche Kräfte ihnen erwachsen. Denn sie kämpfen für das, was ihnen wirklich am Herzen liegt – für die Freiheit und die Demokratie ihres Landes. Wenn wir also heute darüber nachdenken, „Welche Zukunft hat die liberale Demokratie?“, dann sollten uns diese tapferen Menschen Mut machen. Wir sehen in ihnen Möglichkeiten, über die auch wir verfügen, wenn auch wir verteidigen, was uns lieb und teuer ist.

So ist es mitnichten eine Phrase, wenn ich sage: Ihr Kampf stärkt auch uns.

Ich weiß, dass die großen globalen Herausforderungen und der Krieg für uns Zumutungen mit sich bringen. Ich weiß, dass es nicht allen Teilen der Bevölkerung leichtfällt, sich dem Wandel und dem Fortschritt zu stellen und dabei die Risiken nicht zu fürchten. Ich weiß um die Macht der Ängste. Ich weiß aber auch um die Kraft, die in den Menschen wächst, wenn sie als Bürger verantwortlich und solidarisch leben.

Aus diesen Fähigkeiten ist unsere Demokratie erwachsen, aufgrund dieser Fähigkeit hat sich unsere Demokratie immer wieder verändert. Demokratie ist also nicht, Demokratie wird. Sorgen wir also miteinander dafür, dass dieses Werden unter uns lebendig bleibt!