Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

interview mit dem südkurier

Menü Suche

©Sächsische Landeszentrale für politische Bildung

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch mit dem SÜDKURIER

30. März 2022

Herr Gauck, Sie sind im Krieg geboren und haben als Kind die Not der Nachkriegszeit erlebt. Jetzt erleben vielen Angehörige Ihrer Generation im Alter erneut die Angst vor dem Krieg. Teilen Sie dieses Gefühl?

Ich erinnere mich sehr gut an das Kriegsende und dunkel auch an die Sirenen in meiner Heimatstadt Rostock. Als Kind habe ich die Angst gesehen in den Augen der Mutter und der Großmutter. Aber es ist nicht so, dass mich das so geprägt hätte, dass es jederzeit wieder hochkommt. Ich spüre diese Angst nicht so, wie viele Menschen in meiner Alterskohorte, die fürchten dass der Krieg auch uns betreffen wird.

Können Sie diese Menschen beruhigen?

Ich wünschte, ich könnte es. Angst ist menschlich. Was wir tun können, ist, dass wir auch die Phasen wahrnehmen, in denen unsere Ängste uns nicht getrieben haben, in denen wir standgehalten haben. Dass Ängste existieren, ist normal. Dass wir unseren Ängsten folgen, muss nicht sein. Aus der Phase der Nachkriegsängste und der kompletten Erschütterung ist Schritt für Schritt ein Gemeinwesen gewachsen, in dem heute die meisten Menschen gerne leben. Wir haben gelernt, dass wir unseren Hoffnungen und unserer Tatkraft trauen können.

Sie haben kürzlich in einem Interview den Stopp russischer Energie-Importe angesprochen und an die Bundesbürger appelliert, Energie zu sparen – mit den Worten: Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Wenn Sie auf die empörten Reaktionen schauen: Würden Sie das noch einmal so sagen?

Die Formulierung wirkte in der medialen Verkürzung  ein bisschen zu salopp. Ich verkenne ja nicht die Ernsthaftigkeit des Problems.  Als ein politischer Realo kann ich meinen Bundeskanzler verstehen und auch Wirtschaftsminister Habeck. Ja, es kann sein, dass ein sofortiger Importstopp für russisches Öl und Gas schwerwiegende Folgen für unser Land haben kann – das ist die eine Ratio, die zu mir spricht. Dann aber gibt es den Bürger und Mitmenschen, der hört eine andere Stimme. Das ist die Stimme der Menschen, die unter einem Angriffskrieg und unter mörderischen Verbrechen leiden. Bei ihnen ist nicht der Wohlstand bedroht, sondern das Leben. Die Bedrohung von Menschenleben zählt bei mir stärker als die Bedrohung des Wohlstandes. Ich glaube, dass sehr viele Menschen in unserem Land das Gespür haben, wenn wir schon nicht kämpfen wollen, weil wir uns vor einem großen Krieg fürchten, dann sollten wir wenigstens das uns Mögliche tun, selbst wenn es uns Opfer abverlangt. Wir müssen beiden Stimmen Gehör schenken. Dann muss die Politik abwägen, was können wir tun, um den Opfern eines Angriffskrieges beizustehen und was ist das Zumutbare für unsere Bevölkerung.

Fürchten Sie soziale Unruhen, wenn es wegen eines sofortigen Importstopps zu einer Wirtschaftskrise kommen sollte? Wirtschaftsminister Habeck hat davor ja gewarnt.

Ich kann Herrn Habecks Sorgen teilen, ich kann seine Argumentation zutiefst verstehen. Augenscheinlich gebietet ihm sein Amt, uns die Probleme vor Augen zu stellen, die bei einem sofortigen Stopp eintreten würden, bis hin zu Protesten oder Unruhen. Aber ich sehe unser Land auch als Land, das gelernt hat, solidarisch zu handeln. Wir sehen ja erneut große Hilfsbereitschaft. Jetzt brauchen wir eine im gegenseitigen Gespräch gewachsene Überzeugung, dass wir mehr tun können für Menschen, die ohne jeden Grund einer aggressiven Vernichtungspolitik ausgesetzt sind. Wenn wir jetzt nicht entschlossen handeln, weiß ich nicht, ob wir für eine  möglicherweise wachsende Bedrohung gewappnet sein werden.

Halten Sie Deutschland insgesamt für zu unentschieden und im Bündnis zu zögerlich? Diesen Vorwurf hören wir ja aus Polen, aus den baltischen Staaten und nicht zuletzt aus der Ukraine selbst.

Sie wissen, dass ich schon 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz angemahnt habe, Deutschland müsse außenpolitisch mehr Verantwortung übernehmen, notfalls auch militärisch. Das wurde von der Linken angegriffen und von der politischen Mitte gelassen zur Kenntnis genommen. Die notwendigen Folgerungen daraus habe ich nur ansatzweise gesehen – aber jetzt habe ich sie sehr deutlich gesehen, in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Ich hätte mir gewünscht, dass wir früher und substantieller unsere Verteidigungsbereitschaft erhöht hätten, mit dem Ziel, den Frieden in Europa zu bewahren. Ich hoffe, dieser Lernschock ist nun nachhaltig. Selbst als Nation des Friedens werden wir niemals unsere liberale Demokratie nur durch Hoffen und Wünschen am Leben erhalten. Mit einem romantisierenden Blick auf die Wirklichkeit können wir uns der Konflikte nicht entledigen.

Wie kann Deutschland denn den Menschen in der Ukraine wirksam helfen? Indem wir die Waffen liefern, um die sie bitten?

Wir brauchten eine Zeit, um zu begreifen, dass es ein Unterschied ist, ob man irgendjemandem Waffen liefert oder man einer Nation oder einer Gruppe von Menschen, die ohne Grund verfolgt wird, Waffen gibt zur Selbstverteidigung. Das ist ethisch und auch rechtlich gerechtfertigt. Wir haben in dieser Situation lange gezögert, aber immerhin liefern wir jetzt.

Aber bei weitem nicht so viele, wie die Ukraine haben möchte...

Auch darüber kann und muss man streiten. Wenn verfolgte Menschen unseren Bezeugungen, dass wir an ihrer Seite stehen, glauben sollen, dann müssen wir das uns Mögliche tun. Es kann sein, dass Putin uns bedeutend mehr zumuten wird. Zum einen wirtschaftlich -  er könnte uns selber das Gas abstellen und zum anderen militärisch  - er könnte seinen Angriffskrieg noch deutlich ausweiten. Dann müssten wir all die Dinge tun, vor denen wir jetzt noch zurückschrecken.

Wie beurteilen Sie die Forderung der Ukraine nach einer Flugverbotszone. Bundeskanzler Scholz sagt, das wäre ein Eingreifen in den Krieg, die Nato wäre damit Kriegspartei.

Das ist ein Argument, dem ich folgen kann. Auf diesem Gebiet bin ich in der gegenwärtigen Situation auf der Seite derer, die die militärischen und politischen Bedenken in den Vordergrund stellen. Niemand möchte in einen Krieg zwischen Russland und der Nato geraten.

Putin begründet sein Vorgehen mit seiner Sorge um russische Sicherheitsinteressen wegen der Nato-Osterweiterung. Nehmen Sie ihm das ab?

Nein. Es gibt bei ihm seit langem einen neoimperialen Gestus, eine Kette von Anwendung von Gewalt gegenüber Schwächeren und eine Missachtung des Völkerrechts. Die Russland-Fachleute können genau datieren, ab wann er das Nato-Thema gespielt hat. Er hat über Jahre dieses Thema überhaupt nicht bedient. Es ist eine seiner vielen Lügen. Dieses Lügen hat er in Sowjetzeiten gelernt. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Die selbstständigen Staaten, die 1990 ihre Freiheit erlangt haben, sind nicht Staaten zweiter Klasse. Sie haben das Recht, selber entscheiden zu dürfen, welchem Bündnis sie angehören möchte.

Wie viel sowjetisches Erbe steckt in Putins Regime?

Putin und seinesgleichen wurden in der Sowjetunion durch mehrere Elemente geprägt, diese leben weiter, wenn auch ohne die Ideologie des Kommunismus: Erstens: Die Rechte der einzelnen Menschen sind nicht gesichert. Freie Wahlen, wie sie in einer Demokratie üblich sind, gibt es in seinem Herrschaftsbereich in dieser Form nicht, die Möglichkeit eines Machtwechsels ist nahezu ausgeschlossen. Zweitens: Die Rolle des Rechts ist eine völlig andere als in freien Gesellschaften. Das Recht ist Diener der Macht. Drittens: Die Macht darf man nie abgeben, wenn man sie einmal hat. Das ist ein leninistisches Mantra. Das kommt aus dem Kernbereich der kommunistischen Weltanschauung. Deshalb haben Kommunisten, wo immer sie auch herrschten, immer einen Machtapparat geschaffen, der mit Terror und mit Mord Menschen einschüchterte bis zur Handlungsunfähigkeit. Viertens: Meinungsfreiheit und Pressefreiheit werden eingeschränkt oder gänzlich eliminiert, eine demokratische Opposition wird dadurch unmöglich gemacht.

Dieses Machtverständnis sehen Sie auch bei Putin?

Ja. Dieser Mann vertritt ein System, das eine grundsätzliche Absage an das Demokratieprojekt und der freien Welt darstellt. Wegen dieser grundsätzlichen Feindschaft gegenüber der Demokratie werden wir immer wachsam und stärker auch verteidigungsbereit sein müssen. Das Grundproblem ist die Absolutsetzung von Macht und die Gestaltung der Ohnmacht der vielen, gleichzeitig die Sicherung der Übermacht der wenigen. Im Herrschaftskommunismus wurde das mit einer kommunistischen Ideologie ummantelt, so wie wir das heute noch in China sehen. Putin ummantelt es mit einer neonationalistischen, imperialen Ideologie.

Wie erklären Sie sich die Unterstützung durch die Spitze der russisch-orthodoxe Kirche?

Das ist erschütternd. Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass die Anwesenheit des KGB innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche eine sehr bedeutende war. Da gibt es möglicherweise eine Verbindung zu Putin, die enger ist als die Geschwisterlichkeit unter Christen. Ich will nicht weitergehen.

In der russischen Bevölkerung gibt es aber auch Proteste. Haben Sie die Hoffnung, dass sie etwas bewirken können?

Ich bin voller Bewunderung für den Mut derer, die es in diesem repressiven System wagen zu protestieren, die Priester, Wissenschaftler, Künstler und die jungen Menschen, die auf die Straße gehen. Skeptisch bin ich dennoch. Das Land ist dermaßen eingeschüchtert und desinformiert, dass es mich an die Sowjetzeiten erinnert.

So gesehen, führt Putin ja auch Krieg gegen die eigene Bevölkerung...

Das ist so. Das ist das Tragische. Wir dürfen niemals vergessen, dass wir es mit einer Bevölkerung zu tun haben, die in ihrer Geschichte nie über längere Zeit eine Demokratie gehabt hat.

Teile der deutschen Linken haben Putin mit verharmlost. Wie erklären sie sich das?

Zunächst: Dies ist kein Alleinstellungsmerkmal der Linken, aber insbesondere in diesen Kreisen gibt es noch alte Anhänglichkeiten und  Personennetzwerke. Einige in Ostdeutschland lebende frühere Stasi-Leute kennen Putin noch von früher. Die Unterdrücker von einst verstehen sich untereinander. Aber ganz generell gefragt: Wie kann ein Mensch, der links denkt, ein Regime, wie Putin es etabliert hat, akzeptieren? Vor allem auch, weil Putin in Europa ja nicht die linken Bewegungen stützt, sondern die rechten. Marine Le Pen und die AfD sind in Moskau wohlgelitten.

Wie erklären Sie sich denn die Putin-Verehrung im rechten Lager?

Das ist interessant. Wenn man sich in die Denke der rechtsnationalistischen Bewegungen hineinbegibt, dann können die eher mit autoritären Feinden umgehen als mit liberalen Landsleuten. Die eigentliche Bedrohung ist für sie das liberale Denken und die liberale Demokratie. Sie lieben autoritäres Gebaren. Da steckt ein tiefes Misstrauen gegenüber der Demokratie dahinter.

Ihr jüngstes Buch hat durch den Krieg in der Ukraine eine unerwartete Aktualität gewonnen. Sie werben dort für Toleranz und loten dort die Grenzen der Toleranz aus. Wo ziehen Sie diese Grenzen? Wann muss man in einer pluralistischen Demokratie sagen, jetzt ist aber genug?

Als das Buch vor drei Jahren rauskam, hat mich diese Frage sehr bewegt. Ich habe in dem Buch für eine erweiterte Toleranz geworben, sogar gegenüber rechts. Das fiel mir nicht leicht, denn ich halte z.B. die AfD für überflüssig. Ich finde allerdings, dass man Gruppierungen und Parteien, die noch auf dem Boden des Grundgesetztes stehen und noch die Rechtsordnung akzeptieren, zwar bekämpfen kann, aber nicht verbieten muss. Demokratischer Streit ist dann angesagt, wenn eine Aushöhlung der Demokratie zu politischer Praxis wird. Dieser Streit ist aber noch eine Form von Toleranz, kämpferische Toleranz. Aber irgendwo ist Schluss mit dem Streit. Wo Verschwörungsdenken verbreitet und Haß propagiert wird, wo Nazi-Propaganda und Menschenfeindlichkeit in die öffentliche Auseinandersetzung eindringt, ist selbst kämpferische Toleranz nicht mehr ausreichend. Wer selber intolerant ist und das Recht verachtet, der muss gestellt werden, muss sanktioniert, muss strafrechtlich verfolgt werden. Intoleranz muss mit Intoleranz beantwortet werden.