Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Interview mit der BILD

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch mit der BILD

30. Mai 2022, Berlin

BILD: Bundeskanzler Olaf Scholz hat gesagt: Ich will nicht, dass die Ukraine den Krieg verliert. Würden Sie das unterschreiben?

Joachim Gauck: „Ja. Diesen Satz kann in unterschreiben.“

BILD: Warum spricht er nicht von einem Sieg für die Ukraine?

Gauck: „Weil es viel Raum für Überlegungen lässt, wie ein Sieg über die Militärmacht Russland aussehen könnte.“

BILD: Was ist für Sie ein Sieg und was wäre eine klare Niederlage Putins?

Gauck: „Eine Niederlage wäre es, wenn er sein Kriegsziel nicht erreichen kann. Putins erstes Ziel war ja wahrscheinlich nicht allein Landnahme, sondern vor allem das „Entnazifizieren“ und „Entmilitarisieren“ der Ukraine. Dahinter steht die Negierung der Ukraine als Nation, das Auslöschen des Nationalgefühls und eine Eingliederung in die „Russkij Mir“. Das wird ihm nicht gelingen. Ich verstehe, dass sich viele fragen: Welche Art der Niederlage wird der Aggressor akzeptieren. Das haben nicht wir zu beantworten, sondern die Ukraine. Wir haben der Ukraine keine Empfehlungen zu geben, ob sie Gebiete abtreten oder andere Bedingungen akzeptieren soll, um in Frieden und Freiheit zu leben.“

BILD: In einem offenen Brief warnen Intellektuelle vor Waffenlieferungen. Ein guter Beitrag zur Debatte?

Gauck: „Für die Debatte ist der Brief eigentlich positiv. Wenn über schwierige Fragen geschwiegen wird, die viele bewegen, dann ist das nicht gut. Ich teile die Meinung der Briefschreiber allerdings ganz und gar nicht. Und es gab ja auch Antworten, wie den offenen Brief von Ralf Fücks und anderen Intellektuellen. Die Debatte kann uns helfen zu erkennen, dass wirklicher Frieden nicht auf verordneter Unfreiheit aufgebaut werden kann.

Ich stehe auf der Seite derer, die den unschuldigen Opfern des Krieges alle nur mögliche Unterstützung zukommen lassen wollen.

BILD: Kann man mit Waffen Frieden schaffen?

Gauck: „Ja. Ohne die Waffen der Alliierten im Weltkrieg hätte es  ein Europa unter Nazi-Herrschaft gegeben. Aber auch ohne diesen historischen Rückblick sollte uns klar sein, dass wir in der jetzigen Situation zuerst die Ukraine zu Wort kommen lassen sollten. Was braucht ihr für euren Freiheitskampf? Wenn uns die Menschen dann sagen: Wir möchten für unsere Freiheit kämpfen, wir riskieren sogar unser Leben, dann steht es uns nicht zu, vom sicheren Ort aus ihnen zu erklären, was das Richtige ist. Das wäre gefühlskalt und in einem hohen Maße arrogant. Außerdem gilt es im Auge zu behalten: Die Ukrainer verteidigen Freiheit und Frieden auch in unserem Teil Europas. Nur ein Erfolg der Ukraine dürfte Putin von weiteren imperialen Angriffen auf europäische Nachbarländer abhalten.“

BILD: Die Friedensbewegung in der DDR wollte Schwerter zu Pflugscharen schmieden. Brauchen wir jetzt Pflugscharen zu Panzern?

Gauck: „Ja, leider. Wir tun gut daran, nicht abstrakt und allgemein über die Lage zu sprechen, sondern konkret: Gut und Böse fallen in diesem Krieg klar auseinander. Es gibt einen Angreifer und ein Opfer. Deshalb können und wollen wir nicht diejenigen im Regen stehen lassen, die ihr Recht auf Unversehrtheit und Freiheit verteidigen. Mit einem Opfer NICHT solidarisch sein zu wollen, ist ein Zeichen von Inhumanität. Es ist für mich ein humanes Gebot, Hilflosen zu helfen. Den Panzern und Raketen der Rechtsbrecher muß man etwas anderes entgegensetzen als Pflugscharen.

BILD: Sie haben Russland als Präsident nie besucht. Wie ist ihr Verhältnis zu Russland?

Gauck: Ich habe eine emotionale Nähe zum russischen Volk, das niemals in der Geschichte auch nur eine Wahlperiode eine funktionierende Demokratie erlebt hat. Ich liebe russische Schriftsteller, Musiker, Maler. Aber ich habe unter Schmerzen gelernt, was Kommunismus bedeutet. Und die Kinder des Kommunismus, die als Geheimdienst-Elite unterwegs waren, die kann ich auch ziemlich gut erkennen. Da finde ich die zentralen Prägungen von einst wieder: erstens das leninistische Mantra, Macht nie wieder abzugeben, wenn man sie einmal errungen hat. Zweitens: die Macht herrscht auch über das Recht. Drittens: offene Debatte und Meinungsfreiheit werden abgeschafft. Viertens:  Geheimdienste schaffen Kontrolle über die Öffentlichkeit, um Angst und Anpassung hervorzubringen. Wenn man sich diese  Prägungen vor Augen hält, dann sehen wir heute in Russland das gleiche Muster, nur ohne kommunistische Ideologie. Statt dessen eine neue Form des Nationalismus mit einem imperialen Gestus. Das Ganze verbindet sich mit einem gekränkten Führer und einer gekränkten Gesellschaft, die der einstigen Größe nachtrauern. Das ist eine gefährliche Mischung.“

BILD: Lohnt es sich derzeit, mit Putin zu reden?

Gauck: „Verantwortliche Politik muss auch mit Diktatoren reden. Wir dürfen niemals auf  Diplomatie verzichten. Wichtig ist allerdings, aus einer Position des Selbstbewußtseins und auch der Stärke heraus zu verhandeln. Das hat sich im Kalten Krieg als richtig erwiesen.“

BILD: Sind wir zu schwach?

Gauck: „Wir sind zu spät aufgewacht. Gerade viele Intellektuelle aber auch Politiker haben Wunsch mit Wirklichkeit verwechselt und die nackten Tatsachen - etwa das rechtsstaatliche Ausbluten Russlands, die Grausamkeiten gegen die eigene Bevölkerung, die politischen Morde und die neoimperialen Ambitionen und Aggressionen des Kreml ignoriert oder verniedlicht.“

BILD: Wie erklären Sie sich die Russland-Nähe vieler Ostdeutscher heute?

Gauck: „Die Mehrheit im Osten wählt und denkt wie der Rest im Land. Es gibt aber eine auffällige Minderheit, die fremdelt mit verschiedenen Elementen der freiheitlichen Gesellschaft, mit Offenheit, mit Liberalität, mit Vielfalt. Sie vermissen auch eine stärkere Autorität. Dazu gehört auch, dass man sich plötzlich nicht mehr daran erinnert, dass uns die Sowjets drangsaliert und beherrscht haben, uns eine nicht gewollte SED-Regierung aufgedrückt und den Volksaufstand 1953 brutal unterdrückt haben. Die Stasi als Angst-Apparat analog zum KGB gerät in Vergessenheit – eine Gefahr von einst. Heute aber fühlen sich Teile Ostdeutschlands als vom Westen dominiert. Sie wollen dann ganz bewußt ostdeutsch sein, und das Verhältnis zu Russland soll dann zeigen: Ich bin eigenständig, kein Ossi, der zum Wessi geworden ist. Unterbewusst könnte es allerdings auch eine Art nachholendes Stockholm-Syndrom sein, sich mit den Unterdrückern von einst lieber freundlich zu verbinden, damit nicht Schlimmes passiert. Und dazu gibt es noch eine kleine Gruppe der ehemaligen Unterdrücker, die ihrem System nachtrauern. Das alles ist bitter. Diktatur hat Langzeitfolgen.“

BILD: Wie wirken die sowjetischen Ehrenmale in Berlin auf Sie?

Gauck:  Zum Treptower Ehrenmal bin ich als DDR-Bürger nie hingegangen, weil es für mich Herrschafts- und Einschüchterungsarchitektur war. Als Präsident habe ich andere Orte gesucht, um die gefallenen Sowjetsoldaten zu würdigen. Ich bin auf Friedhöfe sowjetischer Gefallener gegangen oder habe in der Gedenkstätte Schloss Holte-Stukenbrock an das Leid und das Sterben der sowjetischen Kriegsgefangenen erinnert.“

BILD: Viele Ukrainer greifen heute aus Überzeugung zur Waffe. Haben Sie sich mal überlegt, ob sie es auch tun würden?

Gauck:  Ja durchaus. Ich habe damals in der DDR die Losung ,Schwerter zu Pflugscharen‘ aus taktischen Gründen mitgetragen und die Symbole auch an kritische Jugendliche verteilt. Viele von uns haben damals in der DDR einen taktischen Pazifismus an den Tag gelegt. Wir waren nicht prinzipiell gegen Waffen, aber unter den Umständen einer Diktatur, oder gar für sie, wollten wir nicht kämpfen. Für Freiheit zu kämpfen und nicht nur um Frieden zu beten, habe ich immer als eine Möglichkeit der menschlichen Existenz akzeptiert. Menschen und Staaten sind nicht nur gut. Es ist ein Mangel an Realitätssinn, wenn man glaubt, dass fundamentaler Pazifismus Frieden herbeiführen könne. Dass wir diejenigen, die Freiheit und Demokratie verachten, in eine Position bringen, in der sie mit ihren Waffen die alleinige Gewalt über die Welt haben, kann nicht unser Ziel sein.“

BILD: Die Bundesregierung spricht von Wohlstandsverlusten als Folge des Krieges. Was wird das für die Generation unserer Kinder konkret bedeuten?

Gauck: „In meiner Generation haben viele Menschen nicht nur Wohlstand sondern alles verloren: Leben, Vermögen, Heimat. Wir sind alle durch tiefe Täler gegangen. Wir sollten bei einer eventuell drohenden Wohlstandsdelle nicht in Panik geraten. Wir leben in einem Sozialstaat, in dem nicht gleich Aufstände drohen, wenn das Bruttosozialprodukt stagniert. Wir werden in Krisenzeiten doch nicht die vergessen, die sich auch bisher auf die Unterstützung des Sozialstaats verlassen konnten. Die Politik braucht nicht nur Gegenstrategien bei Krisen sondern auch bei aufkommenden Zukunftsängsten."

BILD: Was meinen Sie konkret?

Gauck: „Wir brauchen Politiker, die begreifen, dass die Art und Weise, wie wir mit den Menschen sprechen, ein zentrales Element des Politischen ist. Man muss mit den Menschen so sprechen, dass sie ein Gefühl dafür bekommen, gemeinsam die Herausforderungen zu schaffen. Es gibt da  gute Ansätze in der Bundesregierung. Wenn Sie sich etwa die Kommunikation  von Wirtschaftsminister Robert Habeck anschauen, sehen Sie, dass man das durchaus lernen kann. Man kann erklären: Ja, wir geben viel Geld für Rüstung aus. Aber was passiert, wenn wir es nicht tun? Kommen wir dann nicht in eine Gefahr, die viel schlimmer ist als eine Delle im Einkommen oder zeitweilige Mangelsituationen.“

BILD: Den Bundeskanzler haben Sie eben nicht genannt…

Gauck (lächelt): „Angst darf uns nicht lähmen, hat Olaf Scholz in seiner TV-Ansprache gesagt. Das war ein guter Satz. Ich gehe davon aus, dass er sich diesen Satz auch selber zuspricht. Gerade in den nächsten Wochen bricht für die Ukraine eine besonders schwierige Zeit an, wir werden unzählige Opfer der brutalen Aggression zu beklagen haben. Da ist es wichtig zu erkennen, dass sich Besonnenheit und Mut nicht ausschließen. Es ist ein Unterschied, ob wir Angst haben, oder ob die Angst uns hat. Wir dürfen nicht angststarr werden und so denen in die Hände spielen, die damit Politik betreiben.“

BILD: Ein großes Thema Ihrer Präsidentschaft war die Freiheit. Was hat Corona mit der Freiheit in Deutschland gemacht?

Gauck: „Ich gehöre nicht zu denen im Land, die hysterisch geworden sind. Ich habe mich immer frei gefühlt trotz der Regierungsmaßnahmen. Ich habe den Protest dagegen für mich nie so recht nachvollziehen können. Wenn ich unter Regierungen wie der ungarischen oder türkischen gelebt hätte, wo man die Verengung der Freiräume permanent erlebt, hätte ich Verständnis gehabt für die Proteste. Ich habe eine Regierung erlebt, eher zurückhaltend und nie übermütig gewesen ist, die weniger hart eingegriffen hat, als es möglich gewesen wäre. Es wurden womöglich Fehler gemacht, aber eine Gefährdung der Freiheit habe ich nie gesehen.“

BILD: Letzte Frage: Alt-Kanzler Gerhard Schröder bekommt jetzt Büros und Mitarbeiterstellen gestrichen. Eine Regel, die alle Alt-Kanzler- und Präsidentenbüros betrifft. Ist das in Ordnung?

Gauck: „Ich will das nicht kommentieren. Wenn es darum geht, Ex-Kanzler Schröder zu delegitimieren, dann besorgt er das schon selbst. Es ist eigentlich eine sehr traurige Geschichte, für seine Partei, seine ehemaligen Kabinettskollegen und für eine große Zahl von Deutschen, die ihn einst unterstützt haben und ihn heute überhaupt nicht mehr verstehen können.