Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Interview RND 2022

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©NOZ Sebastian Bolesch

Weihnachtsinterview von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland

24. Dezember 2022, Berlin

Uns steht ein Weihnachten, das Fest des Friedens, in Kriegszeiten bevor. Werden Sie anders feiern als in anderen Jahren?

Ich werde versuchen, Weihnachtsfrieden in mein Gemüt zu bekommen. Ich habe als Kind in der Kriegs- und Nachkriegszeit schon unter sehr problematischen äußeren Bedingungen Weihnachten gefeiert und als Erwachsener wird es mir in diesem Jahr  nicht gelingen, so zu feiern wie in früheren Jahren. Meine Spenden zum Jahresende werden diesmal vor allem Richtung Ukraine fließen. Mit meinen Gefühlen und Gedanken werde ich auch dort sein. Aber wir dürfen uns andererseits nicht von einem kaltblütigen Kriegsverbrecher unsere Lebensart ruinieren lassen.

Ist für Sie persönlich Weihnachten ein wichtiges Fest?

Ja, es ist der Höhepunkt in meinem Jahresablauf. Ich mag Geburtstage und Silvester weniger und Weihnachten sehr. Das hängt mit meiner Kindheitsprägung zusammen – und natürlich mit der christlichen Botschaft.

Der Ukraine steht ein Weihnachten im Krieg bevor. In welcher Phase des Krieges befinden wir uns? Ist das Schlimmste schon überstanden?

Die Hoffnung in mir würde mich das gerne sagen lassen, aber ich glaube es nicht. Wir sehen zu deutlich die Absicht Putins, eine ganze Bevölkerung unterschiedslos zu terrorisieren, sie erfrieren zu lassen; sie um ihre Rechte, sogar um ihr Lebensrecht zu bringen. Auch angesichts des imperialen Wahns, von dem dieser Mann offenkundig besessen ist, ist leider Schlimmes zu erwarten. Deshalb ist nach wie vor eine starke Unterstützung der Ukraine nötig. 

Zuletzt hat die Ukraine eingeräumt, dass sie Ziele auf russischem Boden mit Drohnen angreift. Ist das noch Selbstverteidigung?

Solange es um russische Munitionslager geht und um Ziele, die unmittelbar mit dem Angriffskrieg verbunden sind, halte ich das für legitim. Wenn Panzerverbände vorstoßen würden, um Land zu nehmen, wäre das etwas anderes. Aber nicht die Ukrainer haben russisches Territorium besetzt, sondern es ist umgekehrt. Von daher ist das eine vertretbare Verteidigungsstrategie.

Sollte für den Westen die rote Linie bleiben, dass westliche Waffen für Angriffe auf russisches Territorium auf keinen Fall eingesetzt werden dürfen?

Für mich ist diese Argumentation nicht nachvollziehbar. Egal, was Putin denkt: Wir haben als freie Menschen das Recht, den Willen anderer freier Menschen zu unterstützen, frei zu bleiben. Ein überfallenes Land in seiner Verteidigungsstrategie zu unterstützen, ist unglaublich wichtig. Ich wäre im Gegenteil entsetzt, wenn wir uns von der Solidarität mit einem überfallenen Opfer zurückziehen.

Als Bundespräsident haben Sie bereits 2014 angemahnt, Deutschland müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Wenn Sie heute sehen, welche Rolle die Bundesrepublik in der Allianz gegen Russlands Krieg spielt: Nimmt Deutschland seine Verantwortung jetzt so wahr, wie Sie sich das vorgestellt haben?

Sie haben Recht: Eine Politik der Zurückhaltung gegenüber Krisen, die uns als Demokraten etwas angehen müssen, gefällt mir nicht. Wegen unserer Größe in Europa, wegen unserer wirtschaftlichen Kraft, auch wegen der Stabilität unserer Demokratie müssen wir verlässliche Partner und Verteidiger unserer Werte sein. Als ich das sagte, musste ich mir von gewissen Milieus anhören, ich sei Kriegshetzer. Das bin ich sicher nicht. Ich bin ein Mensch, der den Frieden liebt. Aber leider habe ich Recht behalten: Wir hatten zu lange ein Defizit in der Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes. Ich hätte mir gewünscht, dass wir früher das tun, was der Bundeskanzler mit seiner „Zeitenwende“-Rede Anfang des Jahres angekündigt hat. Ich habe mich gefreut über seine ernsthaften Worte in dieser ernsten Lage der Bedrohung. 

Entscheidend ist ja: Ist auf die Rede zur Zeitenwende eine Politik der Zeitenwende gefolgt? 

Darüber gibt es in Deutschland unterschiedliche Meinungen. Viele bemängeln, dass auf die Worte des Kanzlers nicht genug Taten folgen in Form von Unterstützung der ukrainischen Kampfkraft. Ich kann aber auch die verstehen, die zur Vorsicht mahnen. Kein Regierungschef will und darf zu leichtfertig sein, wenn uns ein bestimmtes Vorgehen in in diesen schrecklichen Krieg unmittelbar hineinzieht.

Zu welcher Gruppe gehören Sie?

Ich bin noch der Ansicht, dass der Kanzler auch zukünftig weitergehend entscheiden wird, was wir liefern müssen, um der Ukraine substanziell zu helfen.

Haben wir Sie richtig verstanden, dass Ihnen die Unterscheidung zu akademisch ist zwischen Panzerhaubitzen – die aussehen und schießen wie Panzer, aber nicht so heißen und die wir deshalb liefern – und den Kampfpanzern, die wir nicht liefern? Sollten wir das liefern, worum die Ukraine bittet?

Wenn ich mit Militärexperten spreche, ist offenkundig, dass eine Panzerhaubitze eine wirkmächtige Waffe ist, auch im Vergleich zu Kampfpanzern. Deshalb ist es etwas künstlich, dass wir ein Waffensystem mit großen Reichweiten und hohem Bedrohungspotenzial als lieferbar hinstellen, während wir es bei einem anderen verneinen, das den Gefechtswert des erstgenannten nicht grundsätzlich überbietet. Die Debatten der letzten Tage haben zudem gezeigt, dass die Amerikaner die Lieferung bestimmter Waffensysteme nicht grundsätzlich ausschließen. Es wird also weiter darüber zu reden sein, wie wir die Ukraine militärisch unterstützen können. Der Erfolg der ukrainischen Streitkräfte ist auch in unserem eigenen Interesse.

Direkt nach dem russischen Überfall war die Solidarität der Deutschen groß: Geflüchteten Ukrainern wurden private Häuser geöffnet, eine große Mehrheit der Deutschen war für Waffenlieferungen. Inzwischen bröckelt die Stimmung. Wie widerstandsfähig sind wir, in ein nächstes Kriegsjahr zu gehen?

Was Sie beschreiben, ist keine überraschende Entwicklung.  Bei einer spontanen und unerwarteten Katastrophe wie bei einer Flut oder Feuersbrunst ist die Hilfsbereitschaft enorm. Mit einer Dauerbelastung wie bei einem Krieg und Flüchtlingszustrom, ist es schwieriger. Dann muss der Staat mehr helfen. Dennoch muss ich unserer Bevölkerung meine Bewunderung ausdrücken, weil es eine unwahrscheinlich große Hilfsbereitschaft gibt. Das Gefühl der Leute im Land stimmt noch. Wir haben eine sehr große Zahl von Menschen, die unbedingt helfen wollen, das Land ist durchzogen von einem Netzwerk der Guten und des Guten. Das vergessen wir oft, wenn wir die negativen Meldungen lesen. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben sich nicht nur eine stabile sondern auch eine solidarische Demokratie geschaffen.

Sie sind als Bundespräsident nicht zu den Olympischen Winterspielen nach Russland gefahren. Und es war auch immer klar, wie Sie über Putin denken. Finden Sie es richtig, dass der Bundeskanzler noch regelmäßig mit ihm telefoniert?

Ja, das kann ich akzeptieren. Ich gehe davon aus, dass der Kanzler keine Signale der Unterwürfigkeit an Putin sendet und auch kein Verständnis für dessen Vorgehen äußert, sondern Klartext spricht. Und er hat ja hierzulande auch Klartext gesprochen als er die Zeitenwende ausrief und damit ausdrückte, dass wir neu lernen müssen, uns zu verteidigen. Die Regierung stellt dafür erhebliche finanzielle Mittel bereit und liefert Waffen an die Ukraine. Das Gespräch mit Diktatoren kann außerdem wichtig sein, weil nicht jede Information bei ihnen ankommt. Das zeigte sich schon, als Putin zu Beginn seines Krieges glaubte, die Ukrainer würden seine Truppen freundlich begrüßen.

Was heißt das für einen Waffenstillstand: Wie wäre der möglich? 

Für mich persönlich wäre ein Waffenstillstand heute besser als irgendwann. Ich möchte sehen, dass das Morden aufhört. Wir müssen aber bedenken, dass ein Waffenstillstand im Moment dem übermächtigen russischen Aggressor die Gelegenheit gibt, seine Truppen neu zu organisieren und für Nachschub zu sorgen. Deshalb kann die Ukraine über einen Waffenstillstand nur mit der klaren Perspektive zu einem Frieden verhandeln. Sie braucht zuerst eine Versicherung, dass ein Waffenstillstand nicht zu ihren Lasten geht.

Ist das aus Ihrer Sicht überhaupt mit Putin möglich? 

Ich sehe im Moment nicht, wie Putin abgesetzt werden könnte. Die Oppositionellen haben scharenweise Russland verlassen oder sitzen im Gefängnis. Nun fehlt die Hefe, die in der Zivilgesellschaft aufgeht und Widerstand organisiert. Eher ist damit zu rechnen, dass Widerstand aus dem Schmerz von Müttern erwächst, die ihre Söhne im Krieg verloren haben.

Die frühere Bundeskanzlerin Merkel wird für ihre Russlandpolitik des Eindämmens inzwischen viel kritisiert. Teilen Sie die Kritik?

Ich kann die Kritiker in diesem Punkt verstehen und kritisiere auch Teile dieser Russlandpolitik. Nach 2014, also nach der Annexion der Krim durch Russland, NordStream 2 weiter als  privatwirtschaftliche Sache zu betrachten, war gewagt. Da hätte man besser auf die Stimmen unserer östlichen Nachbarn gehört, der Polen, der Balten und unserer atlantischen Partner.

Wie erklären Sie, dass es gerade im Osten Menschen gibt, die gegen diesen Krieg auf die Straße gehen, aber dabei russische Fahnen schwenken?

Rational ist das nicht zu erklären. Denn diese Menschen, vor allem die älteren, sind über viele Jahrzehnte ihres Lebens daran gehindert worden, in Freiheit ihre Meinung zu äußern und frei zu wählen. Das hat uns die Herrschaft der Sowjetunion gebracht. Ohne die Sowjetpanzer wäre nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 schon der Weg zur Einheit und Demokratie beschritten worden. Bei vielen Ostdeutschen scheint aber im Bewusstsein verankert zu sein: ‚Leg dich nicht mit denen an, die Macht über dich haben oder Macht gehabt haben. Das könnte übel ausgehen.‘

Steckt nicht auch eine Ablehnungshaltung gegenüber dem Westen hinter diesen Protesten?

Ja, das kommt hinzu. Das sehen wir auch bei anderen Protesten in Ostdeutschland. Ein Teil der Ostdeutschen – besonders diejenigen, die in der DDR in guten Positionen waren – hat verdrängt, dass es eine große Mehrheit war, die eine schnelle Wiedervereinigung mit dem Westen wollte. Sie haben eine Kränkung verarbeiten müssen und mussten mühsam neue Positionen erringen. Und da sind sie dem Westen eigentlich böse. Wie gesagt: Ich spreche nur von einem Teil der Ostdeutschen. Der größere Teil ist angekommen und hat sich in bewundernswerter Weise in diese neuen Verhältnisse hineingelebt, hat Verantwortung übernommen.

In der vergangenen Woche gab es eine große Razzia gegen „Reichsbürger“, bei der auch eine Richterin, Polizisten und Soldaten festgenommen wurden. Ist der Staat aus der Mitte der Gesellschaft bedroht?

Nein. Der Staat selbst wird durch diese Leute nicht gefährdet, die politische Mitte  ist stabil. Aber wir wollen auch keinen Staat, der jedem Unfug tatenlos zuschaut. Wer Hass und Feindschaft in die Gesellschaft trägt, muss mit allen Mitteln des Rechtsstaats bekämpft werden. Vor allen Dingen dürfen wir den teils skurrilen Vertretern einer antidemokratischen Denkweise nicht unsere Angst schenken. Sie werden niemals in der Lage sein, die Herrschaft an sich zu reißen. 

Der Verfassungsschutz stellt fest, dass es eine wachsende Gruppe von Leuten gibt, die den Staat delegetimieren und ihm feindlich gegenüberstehen.

Die Gefahr, die von der AfD ausgeht, ist größer als die Gefahr durch Reichsbürger. Denn in der AfD findet sich eine Mischung aus Feinden der Demokratie und Protestwählern, die nicht die Demokratie an sich, wohl aber Elemente der liberalen Moderne ablehnen. Aktuell driftet die Partei immer weiter nach rechts, die Professoren, die die AfD mitgegründet haben, sind fast alle draußen. Wir sollten diese Partei und ihre demokratiegefährdenden Angststrategien immer wieder öffentlich entlarven. Zudem werden Staatsanwaltschaften und unsere Sicherheitsorgane diejenigen sanktionieren, die unsere Rechtsordnung verlassen haben.

Sie haben einmal über sich selbst gesagt, dass Sie ein linker liberaler Konservativer seien. Was damals fehlte war "grün". Ist die Klimakrise ein Thema für die nächste Generation? 

Mein Schwerpunkt war und ist es, den fundamentalen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur klarzumachen. Aber selbstverständlich ist die Klimafrage ein vordringliches Thema für jetzt. Bei einigen Aktivisten gibt es aber einen missionarischen Überschuss. Dass sich einige von ihnen irgendwo festkleben, halte ich für einen strategischen Fehler. Diese Protestmaßnahmen sind nicht zielführend, weil die Mehrheit sie total ablehnt und sagt: Euer Anliegen – akzeptiert. Aber eure Protestform, das könnt ihr mal vergessen.

Aber dahinter steckt ja eine gewisse Verzweiflung darüber, dass das Thema nicht ernst genug genommen wird. Können Sie das verstehen oder ist es Hysterie?

Psychologisch ist das für mich nachvollziehbar. Aber wenn sie rufen wollen, ,Liebe Eltern und Großeltern, begreift doch endlich, was passiert’, sind die Methoden von Fridays For Future wirksamer. Sie können Sympathien mobilisieren.

Fühlen Sie selbst sich so angesprochen, dass Sie mitlaufen würden?

Das nicht, aber ich habe mich total gefreut, dass eine junge Generation, der man unterstellt, nichts zu tun als ständig an ihren Smartphones rumzufummeln, auf die Straße rennt und sagt ,Wir sind hier!` Sie fühlen sich nicht als Zuschauer, sondern wollen Akteure werden. Bei einer solchen Selbstermächtigung dürfen sie auch mal übertreiben und anders sprechen als Erwachsene oder gar Großväter.

Und was sagen Sie zu den Anliegen der jungen Klimaschutzbewegung?

Mir gefällt dieses Lebensgefühl, sich zu interessieren für den Raum und für die Zeit, in der ich lebe. Daraus erwächst jene Haltung, die aktive  Bürgerinnen und Bürger brauchen, sich zuständig und verantwortlich zu fühlen für die Fragen, Aufgaben und Probleme in ihrer Zeit.