Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Joachim Gauck im Interview mit dem Schweizer "Tages-Anzeiger"

05. März 2022, Zürich

Wir wähnten uns am Ende der Geschichte. War das, was in Europa geschieht, für Sie je vorstellbar?

Ja, denn ich habe gelernt, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu lesen.

Was haben Sie da gelesen?

Putins Haltung ist vom sowjetischen Denken geprägt, unter anderem von der Negierung innerer Widersprüche, stattdessen Schaffung von Feindbildern.  Das wird kombiniert mit einer neoimperialistischen Gesinnung. Putin hat seit Jahren Anlässe gegeben, an seiner Friedfertigkeit zu zweifeln. Denken Sie an die Kriege in Tschetschenien und in Georgien oder an die Inszenierung der Krim-Besetzung. Da durfte man durchaus pessimistisch sein.

Es überrascht trotzdem, wie sich ein scheinbar kühl kalkulierender Geheimdienstler als Mann mit einer Mission entpuppt. Wie ist es dazu gekommen?

Fanatische Ideologen wie Putin sind oft verrannt in ihre eigenen Denkkonstruktionen. Sie haben sie zwar einst erfunden, um eine aggressive Strategie einzuleiten - aber glauben schliesslich selber daran.

Welche Rolle spielte der Untergang der Sowjetunion für Putin?

Für Putin war das die größte Katastrophe der russischen Geschichte - und eine massive Kränkung. Das erinnert an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, das sich durch den Versailler Vertrag auch gekränkt fühlte. Und diese angebliche Verletzung der Ehre endete in einem Nationalismus mit mörderischen Zügen, der einen massiven Wirklichkeitsverlust offenbarte.

Die Parallele zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs erschreckt.

Es ist in der Tat merkwürdig zu sehen, dass vermeintlich kühle Analytiker besessen sein können von einer Leitidee, die es ihnen erlaubt, das, was andere für Recht und Würde erachten, zu verwerfen. Im Fall Putins ist die Indienstnahme des Rechts durch die Macht eine Mitgift der Sowjetunion. Sie bedeutet, dass weder das Recht noch die Menschenrechte noch das Völkerrecht noch die Verfassung relevant sind, wenn es um die Ausübung von Macht geht. Das ist eine zutiefst leninistische, menschenverachtende Prägung.

Viele haben gedacht, dass man Putin die Krim und die Ostukraine lassen sollte, damit es Ruhe gibt.

Es schien zumindest möglich, dass er sich damit zufrieden gibt. Aber offensichtlich hat sich in seinem Denken ein anderes Narrativ vorgeschoben, das Narrativ von Großrussland. Putins Haltung zur Ukraine erinnert an den Slogan “Heim ins Reich”, mit dem Nazideutschland den Anschluss Österreichs zu legitimieren versuchte.

Warum hat der Westen diese Bedrohung nicht wahrgenommen? War man in der Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu soft?

Mit dem Minsker Abkommen hatte sie in einer heissen politischen Phase auch einen gewissen Erfolg. Aber man muss immer wissen, mit wem man es zu tun hat.

Als einstige DDR-Bürgerin musste sie das doch wissen?

Wir meinten am Ende des Kalten Krieges, eine Friedensdividende einfahren zu können. Dies bedeutete, dass man als deutsche Kanzlerin auf Gewaltlosigkeit setzte und auch darauf, nicht mit Gegengewalt zu drohen. Aber man kann nicht alle Konflikte in einen Dialog verwandeln. Mahnungen ohne Konsequenzen sind stumpfe Waffen. Auf die Machtpolitik des Kremls hätte die deutsche Politik schon eher reagieren müssen. 2014 habe ich an der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt, dass Deutschland als stärkstes Land Europas mehr Verantwortung übernehmen sollte. Aber die Mehrheitsmeinung in Deutschland war in romantischer Weise entfernt von den bruta facta der Realität. Man wollte nicht mehr daran glauben, dass es so etwas wie Feindschaft gibt.

Und jetzt gibt es plötzlich 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr.

Die Politik ist mit Erschrecken aufgewacht.

Es gibt auch einen einstigen Bundeskanzler, der nicht begriffen hat, was Feindschaft ist. 

Gerhard Schröder hat als Bundeskanzler wirklich geführt. Seine aktuelle Haltung ist aber ein schlimmes Kapitel. Sie ist Ausdruck eines erschreckenden Substanzverlustes. Schröder hat sich selbst verloren und in eine unmögliche Situation gebracht. Er war unfähig, Putins wahre Absichten zu erkennen.

Er liess sich kaufen.

Es ist tragisch, wenn jemand, der das größte Land Europas geführt hat, sich fragen lassen muss, ob er sich hat kaufen lassen. Das kann man schon als Schande bezeichnen.

Deutschland liefert Waffen an die Ukraine. Sie haben im Bundestag den ukrainischen Botschafter umarmt. Ist Solidarität das Gebot der Stunde?

Ja. Ich wünschte mir, wir hätten bessere und wirksamere Mittel als begrenzte Waffenlieferungen. Aber auch das ist schon Hilfe, die die Ukrainer doch von uns erwarten.

Die Waffenausfuhr in Kriegsgebiete war bisher juristisch und politisch tabu.

Man muss doch zwischen Verbrecher und Opfer unterscheiden! Die Unterstützung des Opfers ist politisch, humanitär und auch militärisch geboten.

Aber die Ukraine soll auch Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Beide Seiten werfen einander Genozid vor.

Es ist in diesem Konflikt absurd, von Genozid durch Ukrainer zu sprechen, und wenn Russland das tut, lügt es und betreibt Propaganda. Wir erleben umgekehrt einen verbrecherischen Angriffskrieg von Seiten Putins, in dem natürlich auch Zivilisten umgebracht werden. Und wir haben Gründe zur Sorge, dass Putin weitere Angriffsziele im Blick hat.

Ihr Vater hat über vier Jahre in sowjetischen Arbeitslagern verbracht. Können Sie deshalb Putin lesen?

Das spielt in meiner Argumentation keine Rolle. Es hat allenfalls dazu beigetragen, dass ich früher als andere angefangen habe, politisch zu denken. Für mich ist wesentlich: Die Sowjetunion hat zwar mit dem Sieg über Hitlerdeutschland eine ruhmreiche Befreiungstat vollbracht, aber anschließend die Hälfte Europas versklavt.. Die Sowjetunion war keine gesellschaftliche Alternative, sondern eine gründliche Absage an den Geist der Demokratie, an die rule of law und an die Wahrheit. Sie hat so das Demokratieprojekt in ihrem Herrschaftsbereich gelöscht. Viele Linke wollten das aus ihrem antikapitalistischen Denken heraus nicht wahrnehmen. 

Eine schmerzliche Einsicht. 

Der Publizist und Schriftsteller Ralph Giordano hat diese Teile der Linken als “Internationale der Einäugigen” bezeichnet. Ich komme aus dem Linksprotestantismus. Im Westen wäre ich ein 68er gewesen, schon aus Protest gegen das Schweigen der Elterngeneration zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Aber durch die gesellschaftliche Realität im Kommunismus bin ich dieser Einäugigkeit nicht anheimgefallen.

Deutschland rüstet wieder auf. Welche Rolle soll es künftig in Europa spielen?

Deutschland pflegte lange Zeit spezielle Beziehungen zu Russland, vertraute auf Wandel durch Annäherung und kritischen Dialog, auch wegen der Abhängigkeit von den Gaslieferungen. Ich habe als Präsident erfolglos daran erinnert, dass man den Appetit von Aggressoren fördert, wenn man zu ihrem Treiben schweigt. Nun dürfen Europa und die freie Welt aber wieder darauf hoffen, dass Deutschland wie zur Zeit der sowjetischen Bedrohung wieder Abschreckung bejaht und Demokratie, Völkerrecht und Autonomie bewusster und stärker verteidigt. 

Europa verlässt sich aber auf den Schutzschirm der USA, die sich immer weniger für Europa interessiert.

Europa dient dem Frieden und der eigenen Sicherheit nicht, wenn es sich schwächer macht. Es muss wieder lernen, sich selbstständiger zu verteidigen und sich stärker in die NATO einzubringen. Es war über viele Jahre nicht einfach, Verständnis für adäquate Aufrüstung zu finden. Aber in den letzten Tagen erlebten wir eine einschneidende Zäsur. Mehrheiten unterstützen nun auch in Deutschland Sanktionen, höhere Verteidigungsausgaben und sind sogar bereit, Einschränkungen hinzunehmen. Wir sind endlich aufgewacht: Freiheit muss verteidigt werden.

Russland ist zum Paria geworden. Wie kann man es wieder einbinden? 

Zuerst braucht es ein Signal der Friedensbereitschaft der Russen. Man muss hoffen, dass Putin in der Ukraine nicht das veranstaltet, was er in Tschetschenien oder Syrien getan hat und dass er nicht weitere Länder bedroht. Aber auch das es ist im Bereich des Denkbaren. Wenn es soweit kommen sollte, wird es eine lange Eiszeit geben. 

Ein neuer Kalter Krieg mit gegenseitiger Aufrüstung?

Das ist zu befürchten, wenn Russland nicht auf den Pfad des Völkerrechts zurückkehrt.  

Muss der Westen eine demilitarisierte und neutrale Ukraine akzeptieren?

Ich wünsche das der Ukraine nicht, der wir auch in dieser Situation nicht absprechen können, selbst über die Zukunft zu bestimmen. Aber es kann wohl kein Zukunftsszenario ausgeschlossen werden - insbesondere dann, wenn es dazu führt, einen Weltkrieg zu verhindern.

Damit wird aber die Missachtung grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien akzeptiert?

Wir können das auch anders sehen: Die Verurteilung von Putins Angriffskrieg durch eine überwältigende Mehrheit in der UN- Vollversammlung zeigt mir, dass friedliebende Staaten sich fester zusammenschließen und völkerrechtlichen Prinzipien ausdrücklich bekräftigen. Es geht nicht allein um die Ukraine: Es geht darum, ob in Zukunft eine regelbasierte Weltordnung oder das Recht des Stärkeren herrschen soll.

Nun steht aber die Drohung mit Atomwaffen im Raum. 

Daraus entsteht eine dramatische Situation. Wir müssten massiver eingreifen, um die Aggression erfolgreich abzuwehren. Andererseits entsteht durch eine unmittelbare Konfrontation von NATO- und russischen Truppen die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation – letztlich die Gefahr eines Atomkrieges. Es ist schrecklich, das Leiden der ukrainischen Bevölkerung nicht stoppen zu können, um noch größeres Leiden zu vermeiden. Umso bewundernswerter ist es, wie entschieden und opferbereit die Ukrainer für eine freie, demokratische und unabhängige Ukraine kämpfen!

Die Ukraine hat ein EU-Beitrittsgesuch gestellt, Die Schweiz hat das Rahmenabkommen gekündigt. Hat die Schweiz nicht begriffen, dass die EU auch ein Friedensprojekt ist?

Das Beitrittsgesuch der Ukraine ist ein Ruf nach Beistand. Und was die Schweiz betrifft: Ich wünsche mir ja schon immer, dass das Land als Teil Europas auch Teil der EU wäre. 

Das ist höchst unrealistisch.

Das mag sein, zumal es in der Schweiz eine starke nationalkonservative teils populistische Strömung gibt, die durch die SVP repräsentiert wird. Aber wenn es solche Parteien nicht gäbe, würden sich diese Strömungen andere Formen der Repräsentanz suchen, was für die Demokratie wesentlich gefährlicher werden könnte. 

Sie sehen die SVP als Auffangbecken für nationalpopulistische Strömungen?

Diese Funktion haben solche Parteien ja nicht nur in der Schweiz. Wobei die AfD in Deutschland wesentlich unappetitlicher und zunehmend rechtsextremistischer ist als die SVP. Letztlich geht es darum, wie man in freien Gesellschaften mit der Sehnsucht von Menschen umgeht, geführt zu werden. Diese Sehnsucht ist in Zeiten von starkem Wandel und Umbruchs besonders groß. 

Immerhin macht die Schweiz nun bei den EU-Sanktionen gegen Russland mit.

Auch die Schweiz hat realisiert, dass es Situationen gibt, in denen man Partei sein muss. Darüber freue ich mich und beglückwünsche die Schweiz.

Das gesamte Interview ist auch hier zu lesen.