Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

30 Jahre Renovabis

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede Rede anlässlich 30 Jahre Renovabis

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck spricht in München anlässlich 30 Jahre Renovabis

Festakt "30 Jahre Renovabis"

12. September 2023, München

Aus Fehlern lernen – Deutschland und seine Beziehungen zu den östlichen Ländern Europas

Es gilt das gesprochene Wort.

Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein, und Ihnen meine herzlichen Glückwünsche zum 30. Jubiläum auszusprechen.

Seit drei Jahrzehnten unterstützt Renovabis pastorale, karitative und soziale Projekte in 29 Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Lassen Sie mich zwei beeindruckende Zahlen hervorheben: Vor einem halben Jahr waren es 25.800 Projekte mit einem Volumen von über 840 Millionen Euro, die gefördert wurden. Herzlichen Glückwunsch zu diesem beachtlichen Akt der Solidarität!

Als Renovabis 1993 als Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa ins Leben gerufen wurde, befand sich dieser Teil des Kontinents von Estland bis Tadschikistan im Aufbruch und Ihr schönes Motto: „Freiheit, die ich meine“ lässt Erinnerungen wach werden an diese Zeit der Hoffnung und des Neuanfangs.

Alle, die drei Jahre zuvor auf den Straßen in Warschau, Prag, Budapest, Bratislava oder Leipzig mit friedlichen Demonstrationen die Diktaturen von Moskaus Gnaden ins Wanken brachten, werden diesen Moment, als die ersehnte Freiheit errungen wurde, niemals vergessen. Die Wege in die Demokratie und auch die Namen, die wir den Bewegungen gaben waren verschieden. Als Singende, Samtene, als Stille oder Friedliche Revolution prägten sie sich in das Gedächtnis unserer Völker ein. Zudem gab und gibt es ein starkes Band, das uns bis heute verbindet. Es ist die jahrzehntelange Erfahrung von Unrecht und Unterdrückung, die jahrzehntelange Erfahrung von der unbegrenzten und scheinbar unendlichen Macht der Wenigen und der scheinbar endlosen Ohnmacht der Vielen. Und daraus erwächst die Erfahrung der verbindenden Sehnsucht nach Freiheit und die Genugtuung, sie errungen zu haben. Gemeinsam wissen wir, welche Kraft die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie, nach Menschen- und Bürgerrechten haben kann, aber wir wissen auch, wie schnell sich das lähmende Gift der Ohnmacht gegenüber den Mächtigen sich in einer Gesellschaft breit machen kann.

Wir vergessen nicht: Es war auch ein langer und vielfach blutiger Weg bis zur Erlangung von Freiheit und Unabhängigkeit.

Bis 1989 mussten all jene in der sowjetischen Einflusszone, die sich nach Freiheit sehnten, immer wieder bittere Niederlagen einstecken. Wir erinnern uns: 1953 schlugen sowjetische Panzer den Volksaufstand in mehr als 700 Orten der DDR nieder. Wir erlebten die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn und der polnischen Unruhen 1956, den Bau der Berliner Mauer 1961, das Ende des Prager Frühlings 1968. Wir sahen, wie die Streiks der polnischen Arbeiter 1970 von der kommunistischen Parteiführung des Landes niedergeschlagen wurden und wie die freie Gewerkschaft Solidarność 1981 verboten wurde. Die unzähligen Erfahrungen mit brutaler Unterdrückung machten die meisten Menschen zwar immun gegen die Heilsversprechen der kommunistischen Propagandisten, gleichzeitig machte sich in den Gesellschaften eine Lethargie breit. Ein Rückzug in private Nischen und Freundeskreise, eine unüberzeugte Minimalloyalität war lange die Lebensform derer, die sich zwar nach Freiheit sehnten, aber noch nicht sehen konnten, was Vaclav Havel einst so bezeichnete: „die Macht der Mächtigen kommt von der Ohnmacht der Ohnmächtigen“.

Sehr geehrte Damen und Herren,

nachdem wir vor über 30 Jahren in Mittel- und Osteuropa gemeinsam in Freiheit und Demokratie aufgebrochen sind, hat bei Vielen die Enttäuschung über veränderte Lebenswege oder unterbrochene Karrieren oder die Mängel der Demokratie die Freude über die neue Freiheit verdrängt. Nationalismus und Populismus fanden dort schnell ihren Nährboden und im westlichen Modell ein verbindendes Feindbild. Es ist bedrückend wie erfolgreich diejenigen sind, die sich die Illiberalität auf die Fahne geschrieben haben. Und mit Erschütterung mussten wir feststellen, dass Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Händen des russischen Machthabers keine Chance hatten. Mit dem Angriff auf die gesamte Ukraine hat Putin auch die letzte Hoffnung auf ein friedliches und gemeinschaftliches Europa zunichte gemacht. Und es stellen sich die Fragen: Warum haben wir die Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch Russland und die territoriale Unterwerfung eines demokratischen Staates in Europa nicht kommen sehen? Warum haben wir zu lange und zu naiv allein auf Diplomatie und „Wandel durch Handel“ gesetzt? Warum gab und gibt es bei vielen diese merkwürdige innere Beziehung und emotionale Verbundenheit zu Russland? Abseits romantischer Verklärungen haben zwei Ereignisse unsere Beziehungen zur Sowjetunion in den letzten Jahrzehnten sicher stark geprägt. Die Sowjetunion hat großen Anteil an der Befreiung Deutschlands vom Hitler-Regime. Und: Ohne Gorbatschows Zustimmung hätte es 1989/90 keine deutsche Wiedervereinigung gegeben. Wir schulden Gorbatschow und der Sowjetunion Dank, dass sie mit dem Abzug ihrer Truppen Ostdeutschland wieder zu einem Teil Deutschlands werden ließen. Zudem haben Deutsche mit den Verbrechen an den sowjetischen Völkern im Zweiten Weltkrieg eine tiefe Schuld auf sich geladen, aus der eine besondere Verantwortung für ein friedliches Miteinander in Europa erwächst.

Allerdings dürfen Dankbarkeit und Schuldgefühle nicht dazu führen, die Augen vor der dunklen Seite der Realität zu verschließen. Zu dieser Realität gehört, dass die Sowjetunion, nachdem sie Mitteleuropa und den Osten Deutschlands von der Naziherrschaft befreit hatte, ihrerseits zur Unterdrückung dieser Länder überging. Deswegen trifft die Kennzeichnung „Befreiung“ zwar auf Westdeutschland zu, doch in Ostdeutschland erwies sich der „Befreier“ als der neue verbrecherische Diktator. Während die westlichen Verbündeten aus der Anti-Hitler-Koalition das deutsche Demokratieprojekt förderten, erschuf Stalin mit seinem Panzer- und Geheimdienstsozialismus Gesellschaften, die sich durch anhaltende Ohnmacht der vielen und eine beständige Übermacht der wenigen auszeichnete. Fast ein halbes Jahrhundert lang hat die sowjetische Gewaltherrschaft in Mittelosteuropa das Demokratieprojekt erstickt.

Und was die Rolle der Sowjetunion bei der Wiedervereinigung Deutschlands betrifft, so muss unterschieden werden. 1989/90 handelte es sich bei der Sowjetunion um einen Staat, der sich in der Defensive befand und um Reformen rang. Ein friedliches Zusammenleben schien immerhin im Bereich des Möglichen zu sein. Inzwischen ist Russland eine revisionistische, auf Expansion ausgerichtete Macht geworden. Putin weiter den Dank für die großmütige Reaktion eines Gorbatschow zukommen zu lassen, hieße, den Aggressor für die Verdienste seines friedfertigen Vorgängers zu beschenken. Es hieße, durch Unterstützung des Aggressors einen Krieg zu rechtfertigen, den man nicht verhindern konnte.

Meine Damen und Herren,

heute sehen wir auch deutlich die Fehler einer Ostpolitik, die unbeirrt daran glauben wollte, dass, um des Friedens willens, die Freiheit der Ohnmächtigen hinzunehmen ist. Die daran glaubte, dass allein die Diplomatie imstande sei, ungezähmtes Machtstreben einzudämmen. Es wurde an einer westdeutschen Entspannungspolitik festgehalten, die in ihrer ersten Phase durchaus erfolgreich war. Mit der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Entspannung (KSZE) 1975 in Helsinki wurden zwar zum ersten Mal in einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung die Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert. Nun konnten Oppositionelle von ihren Regierungen einfordern, was jene auf dem Papier versprochen hatten. In Moskau entstand 1976 in der Wohnung des Atomphysikers und Nobelpreisträgers Andrei Dmitrijewitsch Sacharow die Moskauer Helsinki-Gruppe, die älteste Menschenrechtsorganisation Russlands. Weitere Helsinki-Gruppen bildeten sich in der Ukraine, in Estland, Lettland, Litauen und Georgien. In Polen wurden das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und andere unabhängige Gruppen gegründet, später die freie Gewerkschaft Solidarność; in der Tschechoslowakei entstand die Charta 77, und mit etwas Verzögerung bildeten sich auch erste systemkritische Gruppen in der DDR.

Doch diese neuen Akteure „von unten“ passten nicht ins Konzept westdeutscher Entspannungspolitiker. Während sie nur die kommunistischen Führungen als die Träger von Veränderungen ansahen, und diese stabilisieren wollten, hatten sich viele Oppositionelle von der Illusion verabschiedet, Veränderungen würden von oben kommen.  Es hatte schließlich nicht geklappt, mit Reformkommunisten einen Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen: weder in Ungarn 1956 mit Imre Nagy noch mit Alexander Dubĉek 1968 in der Tschechoslowakei. Aus der Partei heraus, so die übereinstimmende Meinung von enttäuschten Kommunisten und demokratischen Antikommunisten, sei eine Reform des Staates ebenso wenig denkbar wie eine Aufweichung des Eisernen Vorhangs. Von unten, aus der unterdrückten Bevölkerung heraus müsse das ganze System verändert werden. Doch die westdeutsche Entspannungspolitik blieb strategisch auf die Übereinkunft mit den Regierungen und die Sicherung des Status quo ausgerichtet.

Václav Havel schrieb in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1989, die Entspannungspolitik habe Hoffnung auf ein Europa ohne Kalten Krieg und Eisernen Vorhang geweckt; zugleich aber habe sie „nicht nur einmal den Verzicht auf Freiheit und damit auf eine grundlegende Voraussetzung jedes wirklichen Friedens“ gefordert. Es habe westdeutsche Freunde gegeben, die ihm zu Beginn der 1970er-Jahre aus dem Weg gingen, weil sie fürchteten, derartige Kontakte könnten die Regierung provozieren und „die zerbrechlichen Fundamente der aufkeimenden Entspannung bedrohen“. Das muss man sich heute mal vorstellen!

Ebendiese Angst beherrschte auch Bonner Regierungskreise, als Mitte August 1980 Fernsehstationen aus aller Welt über streikende Arbeiter auf der Danziger Lenin-Werft und die Gründung der „Freien und Unabhängigen Gewerkschaft Solidarność“ berichteten. Persönlich hätten sie diese Männer für ihren Mut bewundert, erzählte später der damalige Regierungssprecher und Kanzlerberater Klaus Bölling: „Doch wir haben uns sehr zurückgehalten, weil wir die regierenden Machthaber nicht provozieren wollten.“

Was die einen beunruhigte, beflügelte die anderen: Ermutigt durch den Freiheitskampf der Polen begannen ab dem Frühsommer 1989 die Menschen in immer mehr Ländern Ost- und Mitteleuropas ihre Angst zu verlieren. Auch in der DDR gingen schließlich Zehntausende, ja Hunderttausende von Menschen auf die Straße, trotz der Erinnerung an die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking. In ihren Händen hielten sie nichts als brennende Kerzen, die sie aus den Kirchen mitgebracht hatten. So stellten sie sich der bewaffneten Staatsmacht entgegen. Und der schönste Satz der deutschen Politikgeschichte ertönte: „Wir sind das Volk!“.

Die Ereignisse von 1989 zeigten, dass Freiheit und Demokratie nicht durch die Wahrung des Status quo, sondern durch den Druck von unten erreicht wurden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute wissen wir: Nach der Wende von 1989/90 hat sich das so oft beschriebene „Ende der Geschichte“, verbunden mit einem unaufhaltsamen Siegeszug von Freiheit, Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft so wenig eingestellt wie ein dauerhaftes Ende der Ost-West Konfrontation. Fast alle haben sich geirrt, als sie glaubten, Stabilität und Frieden hätten endgültig Vorrang gewonnen gegenüber imperialem Machtstreben. Stattdessen haben wir uns leichtgläubig und auch nicht uneigennützig dem Glauben hingegeben, dass wirtschaftliche Verflechtung automatisch zu Liberalisierung und Annäherung mit Putins Russland oder auch anderen autokratischen Staaten führen würden. Diese Vorstellung hat sich als Wunschdenken erwiesen.

Es fragt sich natürlich, warum es Russland nicht gelang, den Weg der mittelosteuropäischen Länder einzuschlagen, die ebenso wie Russland nach dem Zerfall des Sowjetreiches vor der Aufgabe standen, Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen. War es unvermeidlich, dass Russland als autoritärer, neoimperialer Staat endete? Hätte es mit anderen Führungspersonen eine liberale Variante des russischen Weges geben können? Wäre die Integration Russlands in ein gemeinsames europäisches Haus möglich gewesen? Ich habe keine endgültigen Antworten auf diese Fragen. Ich vermag nur Bausteine zusammenzutragen, die zu erklären versuchen, warum die Transformation in Ostmitteleuropa nach einem anderen Muster verlief als in Russland.

Da war als Erstes die Art und Weise der Machtübernahme. In Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und der DDR ebneten sogenannte Runde Tische einen friedlichen Weg zur Demokratie. Die kommunistischen Herrscher zogen sich gewaltfrei zurück, während sich gleichzeitig überall demokratische Kräfte organisierten, die Teil einer pluralistischen politischen Landschaft wurden und sogar die Regierungen übernahmen. In Russland hingegen wurde der Systemwechsel als Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen der Kommunistischen Partei ausgefochten. Und es gab keinen Führer, der aus den Reihen liberaler Dissidenten kam: keinen Lech Wałęsa, keinen Václav Havel und keinen Árpád Göncz.

Die so andere Entwicklung in Russland hängt auch mit einer zweiten Besonderheit zusammen. Anders als die mittelosteuropäischen Staaten konnte Russland nicht auf historische Demokratieerfahrungen zurückgreifen.

Als die dramatische und zum Teil buchstäblich kriminell ablaufende marktwirtschaftliche Transformation in den 1990er-Jahren nicht durch eine starke zentrale Macht ordnungspolitisch aufgefangen werden konnte, setzte sich in der Bevölkerung vor allem ein Wunsch durch: Wir wollen wieder Ordnung und Stabilität. Den Zusammenhalt, den in der UdSSR die Kommunistische Partei erzwungen hatte, sollte in der Russischen Föderation ein starker Präsident sichern.

Russland ist mittlerweile faktisch ein Ein-Mann-Regime. Und anders als in der Ukraine, in Moldawien und Georgien ist in der russischen Gesellschaft nur ein geringes Bedürfnis zu erkennen, diese autoritär geführte Struktur zu durchbrechen. Zu schwach ist die Zivilgesellschaft, die sich in den Großstädten herausgebildet hat und die durch massenhafte Emigration von unabhängigen und oppositionellen Geistern nach dem russischen Überfall auf die Ukraine weiter geschwächt worden ist. Zu stark ist die Tradition verinnerlichter Ohnmacht in den Weiten des Landes. Und so fehlen den veränderungswilligen, meist jungen Menschen die Unterstützer, die in den mittelosteuropäischen Ländern jeweils die friedliche Revolution trugen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

warum wollten wir nicht wahrhaben, nicht sehen, mit welchen imperialen Interessen Putin agiert? Die Warnungen der Balten und Polen, fußend auf den historischen traumatischen Erfahrungen mit Russland und der Sowjetunion galten hierzulande nicht als hilfreich, sondern als störend in den Beziehungen zu Russland. Zu negativ, zu unversöhnlich, zu misstrauisch, zu sehr geprägt von antirussischem Ressentiment. Wie sich inzwischen aber zeigt, vermochten Polen, Litauer, Letten, Esten und Ukrainer ihren russischen Nachbarn besser einzuschätzen als wir. Sie wussten früher, dass für Putin eine andere Logik gilt als für den Westen, dass für den Kremlchef die Erfüllung der russisch-imperialen Mission entscheidender ist als die Erhöhung der Wirtschaftskraft seines Landes und dass er sich von Verträgen und Abmachungen nur so lange binden lässt, wie sie ihm bei der Erweiterung seiner Einflusssphären nicht im Wege stehen.

Die baltischen Staaten hatten doch recht, als sie wegen ihrer exponierten Lage die dauerhafte Stationierung einer größeren Anzahl von NATO-Gefechtsverbänden in ihren Ländern forderten.

Polen hatte doch recht, als es vor dem Bau der Nord-Stream-Pipelines warnte und selbst ein Flüssiggas-Terminal baute, das seit 2015 in Betrieb ist. Unbegrenzter Dialog und Telefondiplomatie als alternativlos? Ungetrübter Handel trotz hoher Abhängigkeiten?

Das waren für die mittelosteuropäischen Staaten schon seit Längerem die Illusionen von gestern.     Und dann der neoimperialistische Überfall auf die Ukraine, Frühjahr 2014. Erst annektierte Putin die Krim, dann intervenierte er mit seinen „grünen Männchen“ im Donbas. Deutschland war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass sich erstmals in der Nachkriegszeit ein Land Teile eines anderen souveränen Landes in Europa einverleibte. In den intensiven Debatten jener Zeit wurde schnell klar: „Sterben für die Krim“ wollte niemand im demokratischen Westen. Dennoch gab es unter den NATO-Mitgliedsstaaten erhebliche Differenzen über die Reaktionen auf Putins Landnahme.

Die USA, Polen und die baltischen Länder forderten auf dem NATO-Gipfel Anfang September 2014 eine stärkere Präsenz des Verteidigungsbündnisses an der Ostflanke. Berlin und Paris hingegen versuchten alles zu vermeiden, was Russland zum Gegner gestempelt hätte. Polen könne nicht auf Deutschland zählen, kommentierte desillusioniert ein Berater des polnischen Präsidenten Bronisław Komorowski. Es habe aber immerhin das Recht zu erwarten, dass Deutschland „unsere Bemühungen um eine Stärkung der NATO-Ostflanke, die sowohl in unserer historisch-geopolitischen Erfahrung als auch in der gegenwärtigen Politik Russlands begründet ist, nicht behindert“.

Der Beginn des Krieges im Februar 2022 gegen die Ukraine markierte schließlich das Ende des Kleinredens russischer Ambitionen. Die transatlantische Gemeinschaft hat angesichts des von Putin gegen die Ukraine entfesselten Krieges geeint reagiert. Und Entschlossenheit statt Beschwichtigung bleibt auch das Gebot der Stunde: Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Daher ist der Anspruch auf Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine richtig. Unsere finanzielle, humanitäre und militärische Unterstützung für die Ukraine müssen wir daher fortsetzen. Denn wir müssen auch sehen, dass Russland sich entschieden hat, diesen Krieg nicht ausschließlich um das Staatsgebiet der Ukraine zu führen.

Auch wir, die liberalen Demokratien in der EU und der NATO, werden implizit – mitunter auch explizit - zu Feinden erklärt. Das Ziel des Krieges gegen die „Hegemonie des Westens“ ist nicht zwingend die physische Zerstörung, sondern die innere Aushöhlung unserer Strategiefähigkeit, unseres Willens und unserer Werte. Die Wahrnehmung dieser neuen Dimension der Konfrontation mit Putins Russland nimmt zu. In Deutschland sprechen wir von einer „Zeitenwende“. Und doch spüren wir, dass uns vielfach noch eine gemeinsame Sprache fehlt, um den Epochenbruch in den Köpfen der Menschen zu verankern. Ebenso fehlen an einigen Stellen noch politische Instrumente und Verfahren, um ihm adäquat zu begegnen.

Denn Russland hat die Kriegsführung im 21. Jahrhundert ausgedehnt auf nicht-militärische Ansätze - Desinformation und Propaganda, wirtschaftliche, kulturelle und humanitäre Sabotage. Auch nukleare Drohungen zählen dazu. Als wehrhafte Demokratien müssen wir uns an diese Herausforderung anpassen und Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Wir dürfen nicht in Angst erstarren. Angst als eine anthropologische Konstante des menschlichen Daseins zu verstehen, ist das eine. Ein anderes ist es zu erkennen, dass Menschen ihre Ängste relativieren, ja sogar besiegen können, wie vor über 30 Jahren in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Mut kann auch dort wachsen, wo er lange eine ungelebte Lebensform war.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir wissen nicht, auf welche Art und Weise dieser Krieg zu Ende gehen wird. Wir wissen aber, was auf dem Spiel steht - für die Ukraine, aber eben auch für uns, für die freien Nationen insgesamt. In den 1990er Jahren haben wir wiederentdeckt, dass Europa zusammengehört als ein Raum der Freiheit – für die Kleinen wie für die Großen. Als ein Raum, in dem Wunden aus der Vergangenheit im Geiste der Menschenrechte, der Sicherheit, der Teilhabe, der Solidarität und der Demokratie geheilt werden können. Im westlichen Europa tun wir gut daran, den Blick des östlichen Europas, Ihren Blick, stärker wahrzunehmen. Das westliche Europa braucht etwas von dem Geist der Zuversicht und der Freiheitsliebe, der etwa im Baltikum, in Polen aber auch in Moldau vorherrscht.

Gemeinsam werden wir am Recht festhalten, weil wir es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird.

Und noch etwas lernen wir aus der Geschichte: Wir müssen jene unterstützen, die bereit sind, ihre Freiheit zu erkämpfen oder – wie jetzt – zu verteidigen.

Wir müssen solidarisch bleiben mit ihnen, solidarisch auch dann, wenn uns erhebliche finanzielle Opfer abverlangt werden.

Ich bin dankbar dafür, dass durch das Engagement von Renovabis Menschen ermutigt werden, aktiv die Rechte ihrer Mitmenschen zu wahren und zu sichern.