Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Europapreis_Politische_Kultur_2023

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©Ringier AG

Preisverleihung: v.l.n.r. Zakhar Navalny, Sohn von Alexei Navalny, Yulia Navalnaya, Ehefrau von Alexei Navalny, Gastgeber Frank A. Meyer und Joachim Gauck, Bundespräsident a.D. (Portrait von Künstlerin Tania Jacobi)

Verleihung des Europapreises für Politische Kultur an Alexej Nawalny

05. August 2023, Ascona

Ich bin der Schweizer Hans Ringier Stiftung mit ihrem Präsidenten Frank A. Meyer außerordentlich dankbar, dass sie den Europapreis für Politische Kultur in diesem Jahr an den Bürgerrechtler, Korruptionsbekämpfer und Politiker Alexej Nawalny verleihen. Auch wenn es nur eine Geste sein kann: aber es bedarf solcher Gesten, um jene im öffentlichen Diskurs präsent zu erhalten, die wegen ihres politischen Engagements aus eben dieser Öffentlichkeit ausgeschlossen werden sollen. Die hinter Gefängnismauern verschwinden, weil sie Unrecht, Korruption und Krieg anprangern. Die sogar um ihr Leben bangen müssen, wenn sie demokratischen Protest organisieren und die Allmacht von autoritären Herrschern durchbrechen. Sie brauchen die Solidarität jener, die offen sprechen können.

Ich begrüße den Preis für Alexej Nawalny auch deshalb, weil Menschen wie er die zweite Front gegen die autoritäre, neo-imperialistische Herrschaft Putins bilden. Den mächtigsten Schlag versetzen dem Kreml augenblicklich die Ukrainer. Seit nahezu anderthalb Jahren verteidigen sie ihre Souveränität und Freiheit mit einer bewundernswerten Ausdauer und einen durch nichts einzuschüchternden Mut. Sie wissen: Unter russischer Herrschaft sollen sie ihrer Geschichte, Sprache und Kultur – sprich: ihrer Identität – beraubt werden, so wie es bereits in den von Russland okkupierten Gebieten geschieht. Das expansionistische Russland zu schwächen, zurückzudrängen und letztlich zu schlagen ist daher die unerlässliche Voraussetzung, um die Existenz einer eigenen ukrainischen Nation zu sichern.

Der Kampf gegen die autoritäre Kreml-Herrschaft wird aber auch von Russen selbst geführt – von jenen, die zum „anderen“ Russland gehören. Wir hören ihre Stimmen, wie die von Viktor Jerofejew und anderen Künstlerinnen und Intellektuellen im Exil:  oder auch aus dem litauischen Wilna, wohin ein Teil des Teams von Alexej Nawalny geflohen ist. Oder aus Berlin, wo kürzlich eine Filiale der Menschenrechtsorganisation Memorial gegründet wurde. Oder aus London, wo Michail Chodorkowski ein Domizil gefunden hat. Wir hören von den „anderen“ Russen aber auch aus Russland selbst, obwohl dort schon das kleinste Aufbegehren zu Festnahmen, Anklagen und teilweise drastischen Strafen führt. Noch aus Lagern und Gerichtssälen dringen die politischen Botschaften der ungebrochenen Angeklagten an die Öffentlichkeit – wie etwa vom 41-jährigen Wladimir Kara-Mursa, der im April 2023 zu 25 Jahren Haft wegen angeblichen Hochverrats verurteilt wurde. Oder vom Kreml-Kritiker Ilja Jaschin, der zu achteinhalb Jahren verurteilt wurde, weil er über die russischen Gräueltaten im ukrainischen Butscha berichtet hatte. Oder wie eben von Alexej Nawalny, dem bekanntesten und laustärksten Kritiker des Putin-Regimes, der gerade gestern wegen angeblichem Extremismus von einer hörigen, verkommenen Justiz zu insgesamt 19 Jahren verurteilt worden ist: Abzusitzen in einer Strafkolonie unter verschärften Haftbedingungen, die dermaßen unmenschlich sind, dass sie uns an die schlimmsten Zeiten des Stalinismus erinnern.

Es geht unter Putin - wie einst zu KGB-Zeiten - wieder um Zersetzung und Vernichtung derer, die sich der absoluten Macht nicht beugen wollen, es geht darum, sie physisch und psychisch zu brechen. „Solange Putin an der Macht ist“, haben Sie, liebe Julia Nawalnaja sehr realistisch geurteilt, „ist es nur schwer vorstellbar, dass Alexej freikommt.“ Denn dieser Mann ist Putins Angstgegner. Die Ikone der Putin-kritischen Opposition.

Als Jurist und Blogger trat Nawalny zunächst auf als Anwalt der russischen Mittelschicht, die auf dem Aktienmarkt ihr Geld an die Korruption verlor. Dann deckte er mit Hilfe des Internets die Veruntreuung von Staatsgeldern in großem Stil auf. Seine 2011 als Nichtregierungsorganisation gegründete Stiftung landete ihren größten Coup mit einem Video über die pompöse Privatresidenz von Putin am Schwarzen Meer - auf einem Grundstück, in dem 39 Fürstentümer von Monaco Platz finden könnten. Das Video erreichte 120 Mio. Klicks. Auch als Politiker hat Alexej Nawalny versucht, in der russischen Gesellschaft aktiv zu werden; 2013 kandidierte er zur Bürgermeisterwahl in Moskau und erreichte über 27 Prozent der Stimmen. 2017 trat er als Putins Gegenkandidat zur Präsidentschaftswahl im April 2018 an, wurde allerdings wenige Monate vor der Wahl von der Zentralen Wahlkommission ausgeschlossen. Wichtiger als ein fest umrissenes Programm war es ihm immer, möglichst viele verschiedene Strömungen zusammenführen, wenn sie denn gegen die Regierungspartei „Einiges Russland“ gerichtet waren.

Alexej Nawalny kann sich ein System nach Putin nur als parlamentarische Republik vorstellen, mit Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Pluralismus. Ohne den – wie er schreibt - „imperialen Autoritarismus“, der die Bürger im eigenen Land terrorisiert und die Länder außerhalb in ihrer Existenz bedroht. Nur ein demokratisches Russland werde Frieden schaffen. Und ein demokratisches Russland müsse die Grenzen der Ukraine so akzeptieren, wie sie beim Zerfall der Sowjetunion 1991 vereinbart worden sind – was indirekt eine Anerkennung der von Russland 2014 annektierten Halbinsel Krim als ukrainisches Territorium einschließt. Nawalny ist der Gegenpol zum Kreml-Herrscher.

Das erste Mal wurde er 2011 verhaftet. Weil er gegen Fälschungen bei den Parlamentswahlen protestiert hatte, kam er 15 Tage in Haft. 2013 erhielt er wegen angeblicher Unterschlagung fünf Jahre Haft auf Bewährung, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht auf ein faires Verfahren verletzt sah. Im Laufe der Zeit wurden die Strafen und Schikanen immer drakonischer. 2017 schütteten ihm unbekannte Täter eine Säureflüssigkeit ins Gesicht; Nawalny konnte sein verätztes rechte Auge nur durch eine Operation in einer spanischen Spezialklinik retten. Im Sommer 2020 entging er dem Tod nur knapp, weil er nach einem hinterhältigen Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok ins künstliche Koma versetzt und zur Behandlung in die Berliner Charité ausgeflogen wurde. Im Exil zu bleiben, kam für ihn allerdings nicht in Frage, - auch wenn er wusste, dass er für seine Rückkehr einen hohen Preis würde zahlen müssen. Kaum angekommen wurde er noch auf dem Flughafen verhaftet.

Was Sie, liebe Frau Nawalnaja, damals auf dem Rückflug angesichts der zu erwartenden Repression empfunden und was Sie mit Ihrem Mann besprochen – oder umgekehrt auch ausgeblendet - haben, wissen wir nicht. Solche existentiellen Situationen betreffen den Kern einer Identität. Sie lassen jede Kommentierung von außen als übergriffig erscheinen. Aber wir erinnern uns sehr deutlich an das Bild, wie Ihr Mann, dieses wieder und wieder verfolgte Individuum, kostbare Momente menschlicher Nähe erlebt, als seine Frau ihn im Flugzeug begleitet. Beide wissen, dass er sehr bald Erniedrigung und Einsamkeit erfahren wird. Dutzende von Journalisten begleiten ihn jetzt noch. Sie werden bald weder Bild noch Ton übermitteln können. Und Sie, liebe Frau Nawalnaja wissen da nicht, wann und wie Ihrer beider Hände einander wieder finden werden. Für Ihren Mann stand aber offensichtlich unerschütterlich fest: Wer etwas verändern will, der muss am Ort des Geschehens sein. Und sei es hinter den streng bewachten Mauern von Gefängnissen und Straflagern.                                                                                                           

Alexej Nawalny hat durch seine Entscheidung nicht verloren, sondern in den Augen all jener Landsleute gewonnen, die noch Gut und Böse zu unterscheiden vermögen: Durch seine Unbeirrbarkeit und seinen ungeheuren Mut. Und durch seine Entscheidung, mit der Mehrheit durchzustehen, was das repressive System ihr auferlegt. Unter solchen Bedingungen können Aufenthalte im Gefängnis oder in der Verbannung zu Beweisen einer nahezu religiösen Hingabe an „die Sache“ werden, und die Märtyrer werden zu Ikonen einer Anklage gegen unmenschliche Herrschaft. Für manche Oppositionelle ist Selbstaufopferung auch nicht nur eine Konsequenz ihres moralischen Selbstverständnisses. Sie folgen auch einer grundlegenden Einsicht, wie sie etwa der Soziologe Grigori Judin formulierte: Was würde denn geschehen, wenn alle Kritiker Putins das Land verließen? Wenn sie ihre Heimat aufgeben würden? Wenn Putin einfach im Kreml bliebe – und sich irgendwann wieder alles „normalisieren“ würde?

Letztlich muss der Kampf vor Ort ausgefochten werden. Und zweifellos zählt Nawalnys langjähriger Kampf gegen die korrupte Elite zu den wichtigsten delegitimierenden Faktoren des Putin-Systems. Kein anderer Oppositioneller ist so charismatisch wie er. Kein anderer konnte Zehntausende zu Protesten auf die Straße bringen. Keinem anderen ist es gelungen, über viele Jahre mit unorthodoxen Methoden die Regierung so herauszufordern. Es gibt auch nicht viele andere Oppositionelle, die in ähnlich exponierter Lage so unbeirrt, angstfrei und ungebrochen an ihren Zielen festhalten - trotz permanenter Schikanen und Einschüchterungen, trotz rechtswidriger Trennung von der Familie, trotz körperlicher Schwäche und fehlender medizinischer Betreuung, trotz Isolationshaft in einer Einzelzelle, die Nawalny einmal als „Hundezwinger“ beschrieb. Ihn brach nicht einmal ein infamer Mordversuch durch den russischen Inlandsgeheimdienst. „Einen mutigeren Menschen“, so sagte es einmal ein Wahlkampfhelfer aus Jekaterinburg, „habe ich noch nicht getroffen.“

Dank Nawalny ist ein alternatives politisches Netzwerk entstanden, das nicht in den allgegenwärtigen Klientelbeziehungen wurzelt. Selbst wenn seine über ganz Russland verteilten Regionalbüros und sein „Fond zur Korruptionsbekämpfung“ inzwischen verboten wurden, so konnte seine Bewegung doch nicht mundtot gemacht werden. Regelmäßig meldet sich Nawalny mit Videobotschaften selbst aus dem Lager. Und 140 seiner Mitarbeiter im Wilnaer Exil versorgen über soziale Medien jeden Monat zwischen 18 und 20 Millionen Menschen in Russland mit Fakten und Kommentaren, und ermutigen jeden einzelnen zur Selbstbefragung: Was kann ich persönlich tun, um widerständig gegenüber dem System zu sein? Denn – davon ist Nawalny überzeugt: „Jeder kann etwas tun. Rede mit dem Nachbarn. Hänge einen Flyer auf. Berichte anderen von unseren Recherchen. Spende Geld.“ Ja: Es gibt ein „anderes“ Russland, ein Russland außerhalb des Systems Putin. Das ist die Hoffnung aller Demokraten für die Zukunft.

An dieser Stelle möchte ich kurz auf eine Irritation eingehen, die mich seit einiger Zeit begleitet. Es tut mir leid, wenn das Kriegsgeschehen verhindert, dass viele Ukrainer in Nawalny noch keinen Verbündeten zu sehen vermögen. Aber ich weiß: So wie einst Thomas Mann mit seinen Reden gegen das Hitler-Regime objektiv ein Verbündeter der von Hitler besetzten Staaten war, so ist Nawalny heute ein Verbündeter der widerständigen Ukraine. Diese Erkenntnis in Politik umzusetzen, würde die Kampfmoral auf beiden Seiten stärken.

Ich möchte unsere heutige Begegnung und die Preisverleihung auch nutzen, um auf eine Verpflichtung derer hinzuweisen, die das Glück haben in Freiheit leben und sprechen zu können. Wenn die Opfer autoritärer und imperialer Herrschaft selbst daran gehindert sind, ihre Stimme gegen die Unterdrückung zu erheben, dann sind wir in den freien Gesellschaften verpflichtet, uns auch in ihrem Namen zu Wort zu melden: einzutreten für ein Leben in Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung. Auch von uns wird es abhängen, was mit Nawalny und anderen politischen Gefangenen im Putin-Russland zukünftig geschieht. Auch von uns wird es abhängen, was aus Maria Kolesnikowa, Viktor Barbariko, Sergej Tichanowski und anderen politischen Gefangenen in Belarus geschieht.

Freunden gegenüber hat Alexej Nawalny einmal gesagt, die Berichterstattung im Westen über seine Verfolgungen sei seine Lebensversicherung. Das ist das Mindeste, was diese Preisverleihung heute ausrichten kann: Mit der Berichterstattung über seine Verfolgung dazu beizutragen, sein Leben zu sichern. Und dadurch auch all jene Kräfte in Russland zu stärken, die Widerstand leisten und für ein demokratisches Russland kämpfen.

Aber auch für uns im westlichen Europa enthält der Blick auf Alexej Nawalny eine bedeutende Botschaft, eigentlich sogar zwei: der bewusste Gang unseres Preisträgers ins Lager und die Entwürdigung offenbaren uns einen Glauben und eine Hingabe an die Idee der Freiheit, die uns Freiheitsverwöhnten geradezu übermenschlich erscheint. Wer von uns könnte diesem Beispiel schon folgen? Aber eines könnten wir doch sehr wohl: den Wert der Freiheit neu begreifen und bewusster verteidigen, was wir in unseren freiheitlichen Gesellschaften geschaffen haben.      

Und die zweite Botschaft richtet sich an uns als Individuen, geprägt von mannigfachen Ängsten, Sorgen und Unzulänglichkeiten. Sie lautet: glaube daran, dass du ein Mensch mit ungeahnten Möglichkeiten bist, entdecke, dass du nicht gezwungen bist, nur deinen Ängsten zu folgen. Du musst den Mut des Mutigen nicht kopieren oder gar überbieten. Aber du musst dir seine Frage gefallen lassen: Tust du, was du zu tun vermagst?

Ich sehe die Preisverleihung an Alexej Nawalny als einen Versuch, diese Frage heute so zu beantworten: Wenn wir morgen mehr tun können als heute, um unsere Solidarität und Freiheitsliebe zu bezeugen, dann werden wir es tun.

Wir versprechen es und sind dankbar mit dem verbunden, den wir heute ehren.