Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Interview mit dem "Stern"

11. Oktober 2023, Berlin

Herr Gauck, Sie wurden im Jahr 1940 geboren, mitten im Krieg. Wenn Sie heute abends im Bett liegen und die Welt vor dem inneren Auge vorbeiziehen lassen - haben Sie manchmal Angst?

Angst ist mir nicht so gegeben. Aber ein verstörendes neues Lebensgefühl ist das schon, wenn Spannungen und Kriege die bisherige Weltordnung fast überall bedrohen oder zerstören. Nehmen wir nur den barbarischen Überfall der terroristischen Hamas auf Israel. Nehmen wir den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. So viel Maßlosigkeit, Brutalität und Irrationalität macht einen fassungslos.

 

Die Hamas hat Israel mit einer Terrorwelle überzogen. Wird der Westen an einer zweiten Front angegriffen?

Wir erleben einen Ausbruch von Gewalt, Terror und Hass, dessen Ausmaße nicht nur Israel, sondern den gesamten Westen erneut tief erschüttert - und angesichts der bisherigen Überlegenheit des israelischen Militärs und seiner Geheimdienste zudem völlig überrascht hat. Umfang und Komplexität der Angriffe lassen darauf schließen, dass die Terroristen der Hamas von außen unterstützt wurden. Wir müssen also davon ausgehen, dass diese schrecklichen Angriffe auf Israel Folgen für die Stabilität im gesamten Nahen Osten haben werden, die sie auch aus iranischer Sicht wohl haben sollen.

 

Gibt es eine neue „Achse des Bösen“ aus Iran, Russland, der Hamas und anderen?

Neu wäre diese Achse nicht. Was wir aber bereits seit Längerem feststellen können, ist eine deutliche Verstärkung der Zusammenarbeit und Kooperation derer, die einen teils offenen, teils verdeckten Kampf gegen den Westen, gegen die liberalen Demokratien führen. Wir müssen erkennen, dass uns durch die offensive und aggressive Ablehnung des Westens eine Feindschaft aufgezwungen wird, die sich in absehbarer Zeit nicht einfach weg verhandeln lässt - so sehr wir uns das auch wünschen.

 

Was sollten wir Deutschen mit unserer besonderen Verantwortung für Israel jetzt tun?

Wie bereits geschehen, muss als erstes der Schutz des jüdischen und israelischen Lebens in Deutschland gewährleistet werden. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass dieser brutale Terror in unserem Land bejubelt oder gar unterstützt wird. Dann gilt es zu prüfen, wie wir Israel humanitär, wirtschaftlich und militärisch unterstützen können. Und schließlich sollten wir unsere bisherigen Strategien für den Nahen Osten und im Umgang mit Regimen, die solchen Terror unterstützen, kritisch hinterfragen.

 

Sind wir, die liberalen Demokratien, ausreichend dafür gerüstet, Autokraten entgegenzutreten?

 Wir sind heute noch nicht ausreichend bereit. Ich vermisse einen Geist der Verteidigungsbereitschaft, wie ihn der Westen zu Zeiten des Kalten Kriegs hatte. Wir brauchen die Entschlossenheit eines Helmut Schmidt, der anders als die Mehrheit in seiner Partei - und wohl auch in der Gesellschaft - wusste: Der Gegner nimmt uns nur ernst, wenn wir entsprechend ausgerüstet sind, um ihm zu widerstehen. Im Moment stehen wir am Anfang so eines Prozesses.

 

Autokraten handeln, wir überlegen. Das scheint ein Muster. In Armenien fragen gerade viele: Warum helft ihr nicht?

Dieses Lebensgefühl ist mir vertraut. Ich hatte es am 13. August 1961, als mitten in Berlin die westlichen Schutzmächte nicht anders konnten, als zuzusehen, wie eine Diktatur die Landsleute einmauerte. Es gibt immer eine Abwägung: Wollen wir eingreifen und die Gefahr eingehen, dass es zum Krieg kommt? Ich kann verstehen, dass man es nicht zum Äußersten kommen lassen will. Aber das Ergebnis ist zuweilen bitter.

 

Der Krieg gegen die Ukraine stockt. Muss das westliche Bündnis Verhandlungen in Gang bringen?

Erste Aufgabe des Westens ist es, die Ukraine militärisch so zu unterstützen, dass der Aggressor zurückgewiesen werden kann. Der Westen war und ist ja immer zu Verhandlungen bereit, auch unter widrigsten Bedingungen. Und unsere Politiker dürfen die Ukrainer auch durchaus beraten. Aber es ist an der Ukraine, autonom zu entscheiden, wann sich Verhandlungen mit dem Aggressor lohnen beziehungsweise nicht vermeiden lassen. Bei einem Teil unserer Bevölkerung gibt es eine merkwürdige Wunschvorstellung: Wenn du den Diktator nicht allzu sehr ärgerst, dann wird er angemessen reagieren. Bei anständigen Menschen mag dieser Ansatz funktionieren. Bei den Hitlers, Napoleons und Putins wird das nach hinten los gehen. In der Ukraine, wo Putins brutale Kriegsmaschine täglich wütet, macht man sich diese Illusionen nicht.

 

Weil sie einen solchen Ansatz als Schwäche interpretieren?

Ja. Wir dürfen Putin nicht wie eine Mischung aus Turgenjew und Gorbatschow sehen, sondern als das, was er ist: ein Hardliner des imperialen antiwestlichen Denkens, ein Leugner des verbindlichen Rechts. Das zwingt uns zu einer Haltung, die andere als neuen Kalten Krieg bezeichnen. Das klingt vielleicht erstmal verstörend. Aber wir brauchen diese entschlossene Bereitschaft, unsere Demokratie, den Raum unserer Freiheit, den wir unter Mühen erkämpft haben, auch zu verteidigen.

 

Selbst in der Ukraine stellen immer mehr Menschen die Frage: Siegen wir am Ende, und stehen gleichzeitig vor einem ruinierten Land? Sollten wir nicht Land für Frieden opfern? 

Einen Diktatfrieden Russlands müssen wir unbedingt verhindern, weil er die Souveränität der Ukraine gefährden und zumindest bei Teilen der Bevölkerung die nationale Identität bedrohen würde.   Deshalb ist die Verteidigungsbereitschaft der Ukraine so stark und deshalb gibt es die massive Unterstützung durch den Westen, von der ich spreche. Natürlich ist die Ukraine ein Land mit begrenzten Ressourcen. Und wenn die Amerikaner ihre Hilfe zurückfahren sollten und hier in Europa der Rückhalt bröckelt, dann wird die Ukraine über Verhandlungen neu nachdenken müssen. Aber wir können nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden, was sie zu tun hat. Das hielte ich für anmaßend und unsolidarisch.

   

Hierzulande ist die Skepsis gegen Waffenlieferungen vor allem im Osten groß. Dort ist auch der Frust über die Regierung am größten, die AfD besonders stark. Verstehen Sie das noch?

Das ist nicht allein ein ostdeutsches Problem. Früher dachte ich, ich könnte schon mit den richtigen Worten Menschen für die liberale Demokratie begeistern. Heute weiß ich: Naja. Die Bevölkerung ist ziemlich heterogen. Ich habe das in meinem neuen Buch „Erschütterungen“ untersucht. Wir machen uns selten klar, dass ungefähr ein Drittel der Gesellschaft dem Wandel skeptisch gegenübersteht, die Sicherheit wichtiger nimmt als die Freiheit. Forscher sprechen von einer „autoritären Disposition“. 

 

Klingt nicht gesund.

Das ist aber in allen europäischen Gesellschaften so. Auch in den Superdemokratien Skandinaviens sehen wir diesen Drift nach Rechtsaußen. Solch eine Disposition ist an sich nichts Böses. Das Problem entsteht dann, wenn Menschen mit starken konservativen Bedürfnissen zu viel Wandel und viel Krise erleben. Erschütterungen also. Das haben wir jetzt gerade, mit dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise, der rasanten Transformation in vielen Bereichen, wir leben in einer Zeit der Verunsicherung. Und in solchen Zeiten gibt es vermehrt Ängste, die dann regelmäßig von Populisten politisch genutzt werden.

 

Wollen Sie damit sagen: Dass die AfD so viel Zuspruch hat, ist logisch?

Es gibt in dieser Bevölkerungsgruppe eben nicht nur Nazis und Demokratieverächter sondern viele, denen es nicht genügt, wertkonservative Wähler der Mitte zu sein. Das ist ein großes Problem. Aber ich bin sicher: Bei der Auseinandersetzung mit Nationalpopulisten hilft Alarmismus weniger als linke Aktivisten glauben. Manche scheinen zu glauben, das rechtsextreme Problem erledige sich von selbst, wenn es nur ausreichend linksliberale Wähler gibt. Das ist eine Illusion.

 

Wie kommen Sie darauf?

Wir dürfen nicht so tun, als wäre der Anfang vom Übel das konservative Denken. Wir brauchen für heimatlose Konservative dringend ein glaubwürdiges, wertkonservatives Angebot, aber ohne jedes Ressentiment. Dafür ist bei uns die Union zuständig. Aber sie tut sich damit gerade sehr schwer. Niemand sollte Friedrich Merz schelten, wenn er versucht, ein konservatives Profil zu entwickeln. Damit meine ich nicht, den Populisten nachzulaufen. Aber jede Gesellschaft braucht das konservative wie das fortschrittliche Element. Aus der Debatte dieser beiden Richtungen entstehen die Grundlinien, denen unsere Demokratie folgt.

 

Sie haben mehrfach „einfache Botschaften“ von der Politik gefordert. Guter Populismus also?

Nein, ich nenne das erhellende Vereinfachung, nicht verführende Vereinfachung. Ich kann Menschen schwer ab, die Ressentiments schüren, statt Probleme anzugehen. Nehmen wir die Migration. Es ist ein Unterschied, zu wissen, dass wir ein Einwanderungsland sind, gleichzeitig aber die Notwendigkeit von Steuerung zu sehen. Oder aber aus Abneigung gegenüber Fremden zu sagen: Das ist alles viel zu viel, wir wollen, dass alles wieder so wird, wie es früher einmal war, “Ausländer raus“.

 

Aber genau dieser Ansatz scheint gerade gut zu funktionieren in der Politik.

Ich glaube das nicht. Nationalpopulisten machen keine Zukunftsangebote. Sie führen uns mit ihren Konzepten nicht ins Früher, sondern ins Verderben. Sie faseln etwa vom Austritt aus der EU. Das muss man sich mal vorstellen, was das bedeuten würde – allein in der Verteidigung, beim Klimawandel, in der Zuwanderungspolitik. Leider haben wir in einer Zeit des forcierten Wandels die bindende Kraft des wertkonservativen Denkens weitgehend verloren. Ich bin ein Wechselwähler, ich mache hier keine Werbung für die CDU. Und der AfD stehe ich mit tiefer Abneigung gegenüber. Aber man erreicht Menschen, die das Bedürfnis nach Beheimatung haben, nicht mit einer linksliberalen Begeisterung für progressive Ideen, Globalisierung und einer Sicht auf Zuwanderung, die nur als Bereicherung dargestellt wird. 

 

„Deutschland. Aber normal“ lautete mal eine AfD-Kampagne. Sollte das der Sound der CDU sein?

Die CDU darf ruhig kritisch sein, wenn es modernistische Entwicklungen gibt, die viele überfordern,   darf etwa auch mal gegen das Gendern sein. Bedeutende Autoren des Landes verwahren sich ja auch gegen bestimmte Neuerungen im sprachlichen Bereich. Man muss den Mut haben zu sagen: Kann sein, dass auch fragwürdige Leute das vertreten – wir finden das trotzdem richtig.

 

So argumentiert auch die Thüringen-CDU, die kürzlich eine Steuersenkung mit der AfD durchsetzte. Ist das kein Tabubruch aus Ihrer Sicht?

Nein, das ist kein Tabubruch. Bei Sachfragen ist manchmal nicht zu verhindern, dass die AfD ähnlich stimmt. Allerdings begründen Demokraten ihre Forderungen anders: nicht ressentimentgeladen, nicht rassistisch, nicht nationalistisch, nicht homophob. Als Tabubruch würde ich eine Verabredung sehen. Eine Duldung einer CDU-Minderheitsregierung durch die AfD würde ich nicht akzeptieren. Da würde ich protestieren.

 

Und wenn jemand den Nationalsozialismus einen „Vogelschiss in der Geschichte“ nennt? Dann nehmen Sie das so hin?

Niemals. Ich empfinde dafür tiefste Abscheu. Aber es ist ein Fehler, einfach zu rufen: Wer Björn Höcke wählt, ist Nazi. Wenn wir die Auseinandersetzung so vereinfachen, machen wir einen Fehler. Viele Menschen fühlen sich wegen des vielfältigen Wandels gerade nicht mehr beheimatet. Das kann man politisch ändern. Der Rechtspopulismus ist keine uneinnehmbare Burg.

 

Aber so normalisieren Sie die AfD. 

Die Nazis kriegen wir nicht bekehrt, die sollten wir bekämpfen, und die Rechtsbrecher einsperren. Aber mit den anderen streiten wir. Hoffentlich offensiv, ohne ihnen unsere Ängste zu schenken. Man muss sich da mitunter auch auf Politikangebote einlassen, die auf den ersten Blick unappetitlich aussehen. Nehmen wir die dänischen Sozialdemokraten: Das passt nicht zu meinem liberalen Weltbild. Aber die haben verstanden: Nur mit einer restriktiven Asylpolitik bleibt das Land liberal. Wenn wir in der politischen Mitte zu vornehm sind, Probleme anzusprechen, brauchen wir uns nicht wundern, wenn der Zuspruch schwindet. Die dänischen Sozialdemokraten haben Akzeptanz von Mehrheiten zurückgewonnen und die Nationalpopulisten sehr deutlich geschlagen.

 

Im kommenden Jahr sind drei Landtagswahlen in Ostdeutschland. Mal angenommen, die AfD wird in Sachsen oder in Thüringen stärkste Kraft - haben wir dann ein Demokratie-Problem?

Wir haben erstmal ein Problem einer Übergangsgesellschaft. Anders als der Westen hat der Osten wenig Zeit gehabt, um die Rolle des einzelnen Bürgers in der Demokratie zu lernen. Es gibt eine schwächere Zivilgesellschaft im Osten. Nicht weil „der Ossi“ einen schlechteren Charakter hat. Sondern weil er weniger Zeit hatte, die Rolle eines freien, gestaltungsfähigen und eigenverantwortlichen Bürgers zu lernen. Zu wenige können sich vorstellen, was sie als Sekretär einer freien Gewerkschaft, als freie Journalistin oder als ein Unternehmer in einer Demokratie zu gestalten vermögen. In der DDR waren Anpassung und Gehorsam angesagt. Deshalb fremdeln viele Menschen mit einer offenen Gesellschaft.

 

Nochmal: Was passiert, wenn plötzlich die AfD vorne liegen sollte? 

Wenn die AfD bei einer Landtagswahl vorne liegen sollte, müssen sich alle demokratischen Parteien zusammentun, um zu verhindern, dass die AfD regiert. Von der CDU bis zur Linken.

 

Die CDU wäre gezwungen, mit der Linken zu koalieren?

Ich bin gescholten worden, als ich ein gewisses Unbehagen hatte, dass jemand aus der Linkspartei Ministerpräsident wurde. Wenn ich aber heute seine Worte und sein Wirken sehe, dann kann ich nur sagen: Da ist ein Wandel erkennbar. Ich habe nach der letzten Wahl gesagt, die CDU sollte die Ramelow-Regierung dulden. Wir müssen bei dieser AfD schon das klare Signal aussenden: Die kommen nie an die Macht. Hier muss sich die liberale Demokratie als wehrhaft erweisen.

 

Das Interview führten: Moritz Gathmann und Veit Medick