Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Claudia Höhne

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland

30. März 2024

Herr Bundespräsident, in Ihrer Autobiografie „Winter im Sommer, Frühling im Herbst“ schildern Sie Ihre Jugend in der Diktatur und Ihr Alter in der Demokratie. Welche Jahreszeit trifft auf die aktuelle Lage zu?

Wir sind gerade in einer gefährlichen Zeit. Im Herbst weiß man nicht genau, ob noch einmal eine warme Phase kommt - oder ein früher Wintereinbruch. Wir sollten das Gefühl dafür behalten, was verloren geht, wenn man nicht in einer Demokratie lebt. Wie manche Leute heute nostalgisch auf die DDR zurückblicken, kann ich nicht verstehen.  Ja, es gibt in Diktaturen immer auch Dinge, die normal oder erfreulich waren. Aber die DDR war immer von Rechtsferne und Einschränkungen der Bürger-und Menschenrechte geprägt. Eingesperrte Menschen erlebten dauerhaft die politische Ohnmacht der Vielen und eine verewigte Übermacht der Wenigen; es gab ja keine Wahlen, die das ändern konnten.

In dem aktualisierten Vorwort schreiben Sie, Sie müssten Ihren Geschichtsoptimismus relativieren. Was bedeutet das?

Meine Alterskohorte ist im Krieg geboren und in der DDR sozialisiert. Wir haben es ausgehalten, es war unsere Heimat. Und dann plötzlich öffnete sich das Land, weil wir unsere Ängste überwanden und als Volk auf die Straße gingen. Wir erlebten: Freiheit ist möglich. Wir waren überzeugt, nun ist Freiheit für alle Völker der Welt möglich. Jetzt würden langdauernder Frieden und die Ausweitung der parlamentarischen Demokratie das Modell des menschlichen Zusammenlebens. Und was sehen wir heute? Es geht zum Teil wieder um die Macht des Stärkeren statt um Recht und Völkerrecht.

In Deutschland tobt eine Debatte darüber, wie wir auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine reagieren sollen: mit maximaler Abschreckung oder mit Beschwichtigung, Stichwort Appeasement. Wozu neigen Sie?

Wer meint, das sei nicht unser Krieg und die Kosten seien zu hoch, der kann ein übles Erwachen erleben. Wenn wir der Ukraine nicht helfen, sich zu verteidigen und den Aggressor zurückzudrängen, dann gerät die europäische Friedensordnung insgesamt ins Wanken – mit unabsehbaren Folgen auch für weitere Länder.  Wenn Putin die Ukraine unterwerfen kann, werden zusätzlich Millionen ukrainischer Flüchtlinge nach Deutschland kommen – das sollte auch in die Köpfe von AfD und Sahra Wagenknecht hineingehen. Setzt man dem Diktator keine Grenzen, ermutigt man ihn, seine imperiale Aggressionspolitik fortzuführen. Ein überfallenes Opfer braucht den Beistand der Anständigen. Es darf nicht sein, dass die Gewissenlosen ihre Waffen hemmungslos einsetzen, und die Friedfertigen fragen sich, ob sie überhaupt welche liefern dürfen. 

Aber Deutschland liefert sehr viele Waffen und ist zweitgrößter Geber für die Ukraine nach den USA. Müssen wir noch mehr machen?

Wir sind nicht am Ende unserer Möglichkeiten. Deutschland kann noch mehr tun. Der Bundeskanzler hat mit seiner Zeitenwende-Rede ein wichtiges Anfangssignal gesetzt. Das war aus dem sozialdemokratischen Milieu nicht unbedingt zu erwarten. Er hat das mutig getan. Aber noch wichtiger ist die Umsetzung seines wiederholten Versprechens, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf. Entscheidend ist, ob unsere Unterstützung ausreicht, damit die Ukraine ihre Unabhängigkeit bewahren kann. Ja, wir tun mehr als europäische Nachbarn, aber gemessen an Wirtschaftsleistung und Bevölkerungsstärke ist etwa der Beitrag der baltischen Länder höher. Tritt gar die Schreckensvision ein und Amerika steigt aus der Solidarität aus, kommen auf uns noch viel größere Herausforderungen zu. Ich hoffe, dass unsere Regierung die richtigen Worte findet, um die Deutschen zu überzeugen, dass jetzt eine glaubwürdige Verteidigungsfähigkeit zu errichten ist.

Sind wir Deutsche zu ängstlich?

Putin weiß, dass sich viele Deutsche schneller fürchten als etwa Polen und Franzosen. Und er nutzt diese Neigung aus. Die Furcht ist ein Helfer des Aggressors. Mein Appell ist, sich nicht zu früh zu fürchten, etwa vor der Drohung Putins mit Atomwaffen. Damit kann er einen Teil der deutschen Seele schnell beeindrucken. Aber Angst macht kleine Augen und legt nahe, zu flüchten, obwohl man standhalten könnte. Eingeschränkt durch Angst kann man dann keine Lösungsmöglichkeiten mehr sehen. Wir müssen erkennen, dass Angst zwar zum Menschenleben gehört, die Relativierung von Angst und das Gewinnen von Mut ist aber ebenso Teil unserer Lebenswirklichkeit.

Der Kanzler sagt, wenn Deutschland Kiew Taurus-Marschflugkörper liefert, gehe das nur mit Bundeswehrbeteiligung, dann würden wir „Kriegspartei“. Ab wann werden wir Ihrer Ansicht nach Kriegspartei gegen Russland?

Eine Kriegsbeteiligung durch Taurus sehe ich nicht. Relevante Völkerrechtler und Militärexperten auch nicht. Es sind auch nicht alle in der Regierung oder in der SPD der Auffassung von Bundeskanzler Scholz. Aber er hat nun einmal die Richtlinienkompetenz. Ich hege die Hoffnung, dass er seine Meinung noch ändert, wie seinerzeit vor der Lieferung der Panzer, obwohl er das derzeit ausschließt.

Kann man den Krieg „einfrieren“? Diese Debatte wollte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich anstoßen.

Es ist problematisch, politisch hier mit einem Begriff wie „Einfrieren“ zu argumentieren, weil es Putins Gefährlichkeit nicht gerecht wird. Wer ein aggressives Gegenüber nur durch die Brille eigener guter Absichten betrachtet, kann leicht einen Realitätsverlust erleiden. Man bewertet die Feindschaft des Kriegsbrandstifters nicht exakt genug. Und: ein Einfrieren brächte Gewinne für Putin, er behält erobertes Land, kann in Ruhe aufrüsten und dann wieder zuschlagen. Einfrieren hat schon 2014 mit dem Minsker Abkommen nicht funktioniert. Wenn wir über einen Frieden debattieren, dann bitte nicht über die Köpfe derer hinweg, die ihre Freiheit verteidigen. Auch wir brauchen diese Bereitschaft, die Freiheit und damit den Frieden glaubwürdig zu verteidigen. Verteidigungsminister Pistorius hat eine wichtige Botschaft gesetzt: Deutschland muss wieder kriegstüchtig werden.

Was macht eine Nation aus, die kriegstüchtig ist?

Kriegstüchtig heißt nicht kriegssüchtig. Der Verteidigungsminister hat bewusst ein Wort gewählt, in dem „Tüchtigkeit“ vorkommt. Er will nicht die deutsche Friedenspolitik aufkündigen, sondern er will, dass wir aufwachen und unsere Fähigkeiten zur Abschreckung, die wir früher hatten, wiederherstellen. Kriegstüchtig meint, Recht, Freiheit und Demokratie so zu schützen, dass wir unsere Lebenswelt erhalten können.

Die Zustimmung zur Hilfe für die Ukraine sinkt laut Umfragen - insbesondere in Ostdeutschland, wo im Herbst drei Landtagswahlen anstehen. Kann die Bundesregierung die Ukraine gegen diese Stimmung unterstützen?

Wir haben in Deutschland noch eine Mehrheit, die die Unterstützung der Ukraine mit Waffen befürwortet. Etliche Eventualdemokraten aus AfD- oder linken Milieus begreifen nicht, dass wir uns dem Unterdrücker Putin nicht unterwerfen dürfen. Wir müssen das gerade auch im Osten geduldig weiter erklären.

Noch ein anderer Konflikt treibt die deutsche Politik um: Die grausame Attacke der Hamas auf israelische Zivilisten im Oktober und Israels militärische, unerbittliche Antwort. Wie nehmen Sie die Auswirkungen auf das Zusammenleben von Juden und Palästinensern in Deutschland wahr?

Viele Zugewanderte aus dem arabischen Raum sind zutiefst geprägt von einer Verachtung gegenüber Israel und damit gegenüber dem Judentum. Das werden wir immer bekämpfen, auch weil es eine Gefährdung unseres inneren Friedens ist. Es ist wichtig, dass sich die Bevölkerung zwei Dinge einprägt. Erstens: Aus der Geschichte dieses Landes ergibt sich, dass unsere Regierung immer das Existenz- und Selbstverteidigungsrecht Israels unterstützen wird. Zweitens: Diese Grundeinstellung sollte uns nicht hindern, eine Politik zu kritisieren, die wie jetzt beim Vorgehen in Gaza nicht mehr von Verhältnismäßigkeit geprägt ist. Ebenso eine Siedlerpolitik im Westjordanland, die den Frieden gefährdet. Das zu sagen, ist nicht antisemitisch. Ich würde auch unsere militärische Unterstützung für Israel nicht infrage stellen. Wir leiden mit denen, die Opfer der widerwärtigen, mörderischen Attacken der Hamas geworden sind. Aber zugleich dürfen wir die Leiden der palästinensischen Bevölkerung nicht übersehen, dürfen kritisch auf eine Gegenwehr reagieren, die nicht ausreichend im Blick hat, wie nach dem Kriegsende eine gemeinsame Zukunft beider Völker gesichert werden kann.

In Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegt die AfD vor allen anderen Parteien. Rechnen Sie damit, dass diese drei Bundesländer unregierbar werden, weil sich keine demokratischen Mehrheiten mehr finden lassen?

Die AfD kann uns im Osten in Schwierigkeiten bringen. In Thüringen oder in Sachsen könnte es passieren, dass sich zur Abwehr einer AfD Regierung Parteien zusammenfinden müssen, die überhaupt nicht zusammengehören. Das kann man sich nicht wünschen, es kann aber eintreten.

Die CDU hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss für eine Zusammenarbeit mit der Linken. Ist die Linke eine demokratische Partei? Und sollte die CDU im Fall der Fälle mit ihr zusammenarbeiten?

Ich bin nicht verdächtig, ein Liebhaber der Linken zu sein, der Ex-PDS. Die Linke hat sich aber entwickelt. Die Mehrheit in der Partei verteidigt die Demokratie. Wenn die CDU einst einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst hat, kann unter neuen politischen Aspekten und in einer neuen Problemlage ein solcher Beschluss auch revidiert werden. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow hat gezeigt, dass die Linke dort anschlussfähig geworden ist. Da werden sich neue Koalitionen bilden, an die wir uns gewöhnen müssen.

Wie schätzen Sie das Bündnis Sarah Wagenknecht ein?

Ich bin einer Persönlichkeit wie Wagenknecht nicht zugeneigt. Aber jede populistische Partei greift Probleme und Ängste auf, die von etablierten Parteien nicht ausreichend bearbeitet werden. Ein Drittel der Bevölkerung ist so stark verunsichert, dass ihnen die traditionellen Parteien in Zeiten starken Wandels nicht mehr genug Haftung und Stütze geben. Dann fällt die Wahl auf Rechtspopulisten, wie die AfD oder eben auf Linkspopulisten, wie die Partei von Sahra Wagenknecht. Ob deren Putin-freundlicher Kurs und ihre Vorstellungen über Europa und die europäische Sicherheit dann zu den Vorstellungen der demokratischen Mitte passen, ist eine offene Frage. 

Sie verweisen auf die vielen Krisen - Krieg, Konflikte, Klimawandel – Viele Menschen sprechen von Belastungen. Befürchten Sie eine große Depression?

Die Menschen suchen Trost. Rechte Parteien haben Erfolg damit, den Leuten zu sagen: „Das ist alles zu viel, das haben wir immer gesagt.“  Persönlich sind viele Menschen zufrieden, nur generell sind sie unzufrieden. Und da kommt dieses Gefühl von Ohnmacht auf. Deshalb ist es so wichtig, dass wir aus dem politischen Raum Stimmen der Ermutigung hören, die den Menschen auch sagen: „Hört mal zu, Leute, wir haben doch was geschafft. Wir haben eine Menge Krisen gemeistert.“ Ein Land muss wenigstens an das glauben, was es schon geschafft hat. Noch schöner wäre es, wenn es auch an das glauben könnte, was noch zu schaffen ist. Diese positive Botschaft braucht unser Land.

Wer macht das gerade?

Verteidigungsminister Boris Pistorius zeigt, dass man mutig und ohne Angst in die Zukunft blicken kann. Das Besondere an ihm ist seine Furchtlosigkeit.

Sehen Sie die Demokratie zerbröseln durch viele kleine Parteien?

Bisher hat bei Wahlen immer noch eine Partei der demokratischen Mitte Erfolg gehabt. Unsere Sozialdemokraten sind gebeutelt. Unsere Union ist nicht mehr das, was sie unter Konrad Adenauer war. Aber beide stehen immer noch besser da als ihre Schwesterparteien in Frankreich, Griechenland oder Italien. Wir sind nicht in einer Situation, dass morgen Nazis die Macht ergreifen.

Müssen wir das Bundesverfassungsgericht vor Extremisten schützen und etwa die Zweidrittelmehrheit im Bundestag für eine Richterwahl im Grundgesetz absichern?

Ich wünschte mir, dass dies nicht nötig wäre. Aber es erscheint mir sinnvoll, die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz zu stärken, damit es durch eine Zweidrittelmehrheit besser abgesichert ist gegen etwaige extremistische Einflussnahme.

Haben Sie eine Botschaft von Hoffnung zum Osterfest?

Unsere Nation war völlig ruiniert, als ich Kind war. Ich mochte diese Nation nicht. Man konnte sie nicht mögen – wegen all der Schuld. Mein heutiger Blick auf sie zeigt, dass die Überwindung von Hass und Unrecht möglich ist. Ich habe erlebt, wie sich schlechte Verhältnisse in gute Verhältnisse verändern lassen. Und das passt zur Botschaft der Auferstehung. Das ist eine Botschaft, die sich Menschen nicht nehmen lassen dürfen. Und die Geschichte lehrt uns, dass ein Leben in Freiheit und mit Rechten nicht nur ein Traum ist, sondern Realität werden kann.

Da sind wir dann beim Frühling im Herbst.

Das Interview führten: Kristina Dunz, Eva Quadbeck