Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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©NOZ Sebastian Bolesch

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Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel

23. Februar 2024

SPIEGEL: Herr Gauck, der Überfall Russlands auf die Ukraine jährt sich zum zweiten Mal. Sie werben dafür, den Freiheitskampf der Ukrainer massiv zu stärken. Halten Sie Deutschland noch immer für zu zurückhaltend?

Joachim Gauck: Wenn ich die Botschaften unserer Regierung höre, wie von Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz, bin ich zufrieden, weil ich sehe: Der Kanzler hat verstanden. Er hat die europäischen Partner eindringlich zu einer massiven Unterstützung der Ukraine aufgerufen. Aber wenn ich mir das Kriegsgeschehen in der Ukraine anschaue, sehe ich auch: Die Regierung tut immer noch nicht genug. Sie ist weiterhin zu zögerlich bei der Lieferung von Munition und Waffen. Es gibt offenkundig kein Erkenntnisproblem, zu Teilen aber ein Umsetzungsproblem. Das hat dazu beigetragen, dass Russland in die Vorhand kommen konnte.

SPIEGEL: Deutschland leistet mit Abstand die größte Militärhilfe in Europa. Laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft gibt es Zusagen in Höhe von knapp 18 Milliarden Euro gegenüber 640 Millionen Euro aus Frankreich. Wie viel mehr soll aus Deutschland kommen?

Gauck: Ich bin durchaus stolz darauf, was Deutschland leistet. Dennoch bleibt die Frage: Könnten, oder besser müssten wir nicht noch mehr tun? Nehmen wir mal eine andere Sozialdemokratin, die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen. Die sagt plötzlich: Wir geben alles an Artilleriemunition, was wir haben, weil die Ukraine es jetzt braucht. Eine ähnliche Entschlossenheit vermisse ich in Deutschland. Die Taurus-Marschflugkörper hätten wir längst liefern sollen. Ich frage mich: Was steckt hinter der Zögerlichkeit? Das kann doch kein Zufall sein.

SPIEGEL: Was konkret ist Ihr Verdacht?

Gauck: Möglicherweise will die Bundesregierung ihre Rolle als künftiger Makler, als Vermittler zwischen der Ukraine und Russland, nicht aufs Spiel setzen. Das würde erklären, weshalb wir als militärischer Unterstützer Kiews nicht »all in« gehen. Vielleicht muss die Erkenntnis noch reifen, dass Putin Unentschlossenheit als Ermutigung versteht, weiter zu morden.

SPIEGEL: Der Bundeskanzler würde das sicherlich zurückweisen.

Gauck: Fakt ist: Es gibt Nachbarländer wie Dänemark oder die baltischen Länder, die, gemessen an ihren Möglichkeiten, der Ukraine derzeit deutlich entschlossener helfen.

SPIEGEL: Insgesamt sinkt gerade die Bereitschaft des Westens, der Ukraine zu helfen, insbesondere wenn man auf die USA schaut. Auch in der Ukraine wächst die Kriegsmüdigkeit. Sehen Sie noch einen Weg, wie die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann?

Gauck: Die Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen sich heldenhaft. Das Ziel muss sein, dass die Ukraine aus einer Position der Stärke heraus in Friedensverhandlungen geht, damit Russland nicht die Bedingungen diktiert. Dafür zu sorgen, ist auch unsere Verantwortung.

SPIEGEL: Wie stark befürchten Sie, dass Wladimir Putin als Nächstes einen Nato-Staat angreift? Das, was Donald Trump kürzlich gesagt hat, war eine Einladung dazu: Er will Nato-Mitglieder, die nicht genug zahlen, im Ernstfall im Stich lassen.

Gauck: Entscheidender ist der Blick auf Putin: Er hängt einem imperialen Wahn nach. Das macht die Prognose so schwer. In Deutschland haben wir ihn lange falsch eingeschätzt. Deshalb ist es besser, auf die Warnungen derer zu hören, die Erfahrung mit russischem Imperialismus haben: Neben Moldau sind das etwa die baltischen Staaten, Finnland und auch Polen. Sie trauen Putin alles zu.

SPIEGEL: Mittlerweile hat eine Debatte über die Notwendigkeit einer europäischen Atombombe begonnen. Sie forderten vergangenes Jahr, Deutschland müsse wieder abschreckungsfähig werden. Sind auch Sie für die europäische Bombe?

Gauck: Ich halte ein gemeinsames europäisches Atomprogramm für nicht realistisch. Wir haben so unterschiedliche Interessen in der EU, dass es Jahre dauern würde, sich zu einigen. Großbritannien und Frankreich haben aber Atomwaffen. Und Frankreich hat bereits Angebote gemacht, seine Atomstreitmacht den Europäern im Sinne der Abschreckung zur Verfügung zu stellen. Hier gilt es, genau auszuloten. Allerdings würde das nicht reichen. Was wir brauchen, sind die USA und ihre nuklearen Fähigkeiten. Sollten sie sich von Europa abwenden, wäre das eine Zeitenwende neuer Größenordnung. Deshalb sollten wir alles dafür tun, um unsere amerikanischen Verbündeten bei der Stange zu halten, aber gleichzeitig auch Europa militärisch zu stärken.

SPIEGEL: Das würde bedeuten, das sogenannte Zweiprozentziel in Zukunft immer einzuhalten.

Gauck: Ja – und zwar auf überzeugende Art und Weise. Wenn man unter Zuhilfenahme von smarten Buchungstechniken plötzlich auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausgaben kommt, ist das natürlich ein schönes Symbol. Aber ein noch deutlicheres Zeichen wäre es, wenn es über den regulären Haushalt erfolgte.

SPIEGEL: Was harte Einsparungen an anderer Stelle bedeuten würde.

Gauck: Unsere Demokratie und unsere Freiheit zu verteidigen und damit auch unseren Wohlstand – das muss es uns wert sein.

SPIEGEL: Sie sagen von sich, Sie hätten Putin schon früh durchschaut. Deshalb sind Sie als Bundespräsident nie nach Russland gereist und den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi ferngeblieben. Aber Sie haben Putin 2012 in Schloss Bellevue empfangen. Warum?

Gauck: Er machte damals seinen Antrittsbesuch als wiedergewählter Präsident. Natürlich halte ich mich da an die diplomatischen Gepflogenheiten. Aber ich habe ihm schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte.

SPIEGEL: Wie kann man sich das vorstellen?

Gauck: Man kann bei solchen Terminen ja beim Rein- und Rausgehen ein bisschen persönlich werden. Ich habe auf dem Weg zum Delegationsgespräch auf Deutsch zu ihm gesagt: »Herr Präsident, ist es nicht merkwürdig, dass wir beide uns hier im Schloss Bellevue begegnen – wenn wir uns vorstellen, wo wir beide vor knapp 30 Jahren waren?«

SPIEGEL: Sie meinen, er war damals Offizier des Sowjet-Geheimdienstes KGB in Dresden und Sie Pfarrer in der DDR?

Gauck: Genau. Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker. Er hat auf meine Bemerkung nicht geantwortet. Aber er hat auf diese typische putinsche Art gelächelt. Wissen Sie, ich kann diesen Typus lesen. Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen: das Wegnehmen von Bürger- und Menschenrechten, keine freien und fairen Wahlen, das Missbrauchen des Rechts als Machtinstrument, der Aufbau eines Angstapparates und – wichtig – keine freie Presse.

SPIEGEL: Hätte die deutsche Politik früher erkennen müssen, was in Putin steckt?

Gauck: Sie hätte es jedenfalls wissen können. Aber man hatte sich an eine Art entspannten Abwartens gewöhnt. Wandel durch Annäherung – die Politik von Kanzler Willy Brandt hatte sich ja in einer ersten Phase bewährt. Aber seit den späten Siebzigerjahren wurde sie immer mehr zu einer Appeasementpolitik, der eine positive Beziehung zu den kommunistischen Herrschern wichtiger war als die Unterstützung der entstehenden demokratischen Opposition.

SPIEGEL: Sie waren Bundespräsident, als Russland die Krim annektierte. In Ihrem Buch »Erschütterungen« werfen Sie der Bundesregierung vor, mehrfach die Ukraine im Stich gelassen zu haben. Was meinen Sie damit?

Gauck: Da war natürlich das Friedensabkommen von Minsk 2015, das die Illusion aufrechterhielt, Russland sei an Entspannung und Frieden interessiert. Besonders irritiert hat mich aber, dass die Regierung noch nach 2014 meinte, die Gaspipeline Nord Stream 2 durchsetzen zu müssen. Die Kanzlerin, die ich immer respektiert habe, behauptete, das sei ein privatwirtschaftliches Projekt. Die Stimmen der Ukrainer, der Polen, der Balten, der Amerikaner und derjenigen aus dem eigenen Land, die das kritisch sahen, hat man ignoriert. Das Argument, wonach die deutsche Wirtschaft ohne die Gaspipeline so benachteiligt würde, dass es zu sozialen Unruhen und Massenarbeitslosigkeit kommt, fand ich komplett übertrieben. Gleichzeitig hat unser Agieren Putin ermutigt, seinen Neoimperialismus weiter fortzusetzen.

SPIEGEL: Haben Sie Ihre Bedenken seinerzeit gegenüber Kanzlerin Angela Merkel oder auch dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier formuliert?

Gauck: Ich habe gegenüber der Kanzlerin mein Unbehagen geäußert. Aber der Bundespräsident ist ja nicht dazu da, eine Ersatzregierung zu bilden. Ich habe meine Reden gehalten, unter anderem auf der Westerplatte in Danzig – dem Ort, an dem die deutsche Wehrmacht 1939 Polen angriff und der Zweite Weltkrieg begann. Dort habe ich vor Autokraten gewarnt, denen man keine Grenzen setzt. Das erschien einem Teil der deutschen Publizistik und Politik als unbedacht. Als würde ich Krieg wollen. Dabei will ich Frieden. Und genau deshalb muss man Kriegshetzern mit Entschlossenheit und Abwehrbereitschaft gegenübertreten. Leider verstehen das einige bis heute nicht.

SPIEGEL: Haben die Kanzlerin und der Außenminister das auch als unbedacht empfunden?

Gauck: Das weiß ich nicht, aber sie würden es dem Staatsoberhaupt natürlich nicht sagen.

SPIEGEL: Mittlerweile lebt Deutschland in einer neuen Realität. Der Kanzler hat angekündigt, den Wehretat zulasten anderer Ausgaben aufzustocken. Befürchten Sie soziale Verwerfungen angesichts der Einsparungen, die nötig sein werden?

Gauck: Die Populisten in diesem Land werden jedenfalls versuchen, daraus Honig zu saugen, wenn bei Ausgaben für das Soziale oder bei der Bildung gespart werden müsste. Dann wird sich zeigen, ob die Kraft der demokratischen Parteien ausreicht, um zu erklären, dass wir dieses Geld ausgeben müssen, um uns gegen den Diktator im Kreml zu verteidigen. Nachvollziehbare Kommunikation nimmt Populisten den Wind aus den Segeln. Hinzu kommt: Wagenknecht und die AfD haben einen defätistischen Politikansatz. Sie würden sich Russland unterwerfen. Aber das ist doch kein Angebot für Deutschland.

SPIEGEL: Warum ist im Osten Deutschlands die Neigung größer zu sagen: Halten wir uns aus diesem Krieg raus, liefern wir keine Waffen an die Ukraine?

Gauck: Es scheint erst mal ein Widerspruch zu sein, nicht wahr? Ohne die sowjetischen Panzer wäre Deutschland nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ein vereintes demokratisches Land geworden. Ohne die Sowjetunion hätte der DDR-Politiker Walter Ulbricht die Mauer 1961 nicht bauen können. Die Sowjetherrschaft hat dafür gesorgt, dass wir im Osten keine freien Wahlen, keine freien Medien und keine unabhängige Justiz hatten. Warum sollte irgendjemand im Osten positive Gefühle gegenüber Moskau hegen? Ich glaube, dass ein Teil der Menschen im Osten eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt hat – ein gewisses inneres Einverständnis mit jenen, die sie jahrelang unterdrückt haben. Daraus resultierte bei vielen das Gefühl: »Leg dich nicht mit denen an, die wieder Macht über dich gewinnen könnten.« Und zugleich spielt auch ein antiwestliches Ressentiment eine Rolle.

SPIEGEL: Inwiefern?

Gauck: Teile der Ostdeutschen tragen weiter eine antiamerikanische Haltung in sich und fühlen sich zudem von Westdeutschland immer noch nicht richtig gewürdigt. Dazu kommt bei einigen der Egoismus, der diese Haltung befeuert: »Das ist doch gar nicht unser Krieg.« Da ist diese Vorstellung, dass bei uns alles so weiter gehen kann wie immer, wenn wir der Ukraine nicht helfen in ihrem Kampf gegen Russland. Manche sehen nicht, dass die Ukraine auch uns verteidigt. Und was es bedeuten würde, den gefährlichen Aggressionsfantasien Putins nichts entgegenzusetzen.

SPIEGEL: Welche Rolle spielen die mittelbaren Folgen dieses Krieges – Energiekrise, Inflation, wirtschaftliche Unsicherheit – für das Erstarken der AfD?

Gauck: Der Hauptfaktor für den Aufstieg der AfD war die Zuwanderung, die nicht genügend geregelt wurde. Wenn bestimmte Probleme, wie etwa die offenen Fragen im Bereich Migration, zu zögerlich angegangen werden, dann führt das zu einem Vertrauensverlust in die Regierung. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine sind die Zeiten noch unsicherer geworden. Das fällt zusammen mit handwerklichen Fehlern und Kommunikationsdefiziten der Regierenden. Populisten behaupten einen Kontrollverlust, sie schüren Ängste. In solchen Zeiten brauchen liberale Demokratien eine erkennbare, tatkräftige, entschlossene Führung. Aber wenn die Wahlbevölkerung den Eindruck hat, die Regierung wisse selbst nicht so genau, was zu tun sei, sie mache zu viele Fehler oder vernachlässige die Interessen wichtiger Bevölkerungsgruppen, dann können Populisten punkten.

SPIEGEL: Wozu raten Sie beim Umgang mit der AfD?

Gauck: Ich bin ein 84-jähriger Deutscher, der im Krieg geboren ist und weiß, in welche Tiefe dieses Land durch Nationalismus gestürzt ist. Ich will niemals, dass dieses Land wieder nationalistisch wird. Deshalb sage ich: Wir brauchen eine politische Auseinandersetzung, die deutlicher um die wirbt, die sich angesichts von Krisen und technischem wie kulturellem Wandel wünschen, dass alles bleibt, wie es ist. In jedem Land gibt es nachweislich einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der strukturkonservativ geprägt ist. Diese Menschen finden Sicherheit wichtiger als Freiheit. Sie fürchten sich vor der Moderne und dem Wandel, die ihnen zu viel zumuten und fühlen sich von den traditionellen konservativen Parteien bei uns – wie übrigens in unseren Nachbarländern auch – nicht mehr ausreichend vertreten. Es nützt nichts, all diese Wähler pauschal in Naziverdacht zu bringen. Vielmehr muss man ihnen ihre Ängste nehmen – etwa indem man ihnen zeigt, dass Zuwanderung nicht Entheimatung bedeutet. Im Raum Stuttgart oder in Köln sieht man doch, wie Zusammenleben und Integration funktionieren können. Köln ist eben kölsch geblieben.

SPIEGEL: Zeigen Sie nicht ein bisschen viel Verständnis für AfD-Wähler? In Berlin hat bei der Wiederholungswahl deren Kandidatin Birgit Malsack-Winkemann noch zugelegt – dabei sitzt sie gerade im Gefängnis und steht unter Terrorverdacht.

Gauck: Ich zeige kein Verständnis, ich bin entschiedener Gegner dieser Partei. Aber ich versuche zu analysieren, wie der Aufstieg der AfD zustande kommt und wie es gelingen könnte, Teile der Wählerschaft davon zu überzeugen, dass sie mit ihren Sorgen und Ängsten bei dieser Partei nicht gut aufgehoben sind. Natürlich müssen Volksverhetzer, Terroristen und andere Rechtsbrecher ins Gefängnis. Aber mit Irrenden oder Verunsicherten müssen wir anders reden, sie mit Argumenten konfrontieren und sie in politischen Debatten stellen. Ein Teil der Berliner Wählerschaft wollte offensichtlich sagen: Ihr könnt uns mal! Darüber kann ich mich ärgern. Aber das ist noch keine substanzielle Bedrohung für unsere starke Demokratie mit ihrer wachen Zivilgesellschaft. Je nationalistischer und nazimäßiger die AfD auftritt, desto weniger können die demokratischen Parteien mit ihr koalieren.

SPIEGEL: Können Sie verstehen, wenn sich Menschen mit Migrationsgeschichte zunehmend unwohl fühlen in Deutschland?

Gauck: Ja. Aber das müssen sie nicht, wenn ihnen ihre Mitmenschen zeigen: Wir brauchen euch und ihr gehört zu uns. Wenn irgendwelche klandestinen Runden Vertreibungsfantasien ausarbeiten, dann sagen wir Demokraten: Das werden wir nicht zulassen. Die Rechtsradikalen haben nicht die Macht, die deutsche Politik zu bestimmen. Und sie werden sie auch nicht bekommen. Wir sind nicht in Weimar. Denn anders als Weimar, als wir Demokratie hatten, aber zu wenig Demokraten, hat dieses Land Demokratie und Demokraten – und dazu noch wachsame, die in den vergangenen Wochen in großen und kleinen, in west- und ostdeutschen Städten deutlich Flagge gezeigt haben. Das sollte uns mit Zuversicht auf die Widerstandskraft unserer Demokratie blicken lassen.

SPIEGEL: Sie melden sich seit einer Weile häufig zu Wort, man könnte das Gefühl bekommen, Sie seien mit dem aktuellen Bundespräsidenten unzufrieden. Besonders deutlich wurde es, als Sie vergangenes Jahr eine Warnung vor einer Überforderung Deutschlands durch die Migration aussprachen, was Steinmeier bis zu dem Zeitpunkt nicht getan hatte. Sind Sie eine Art Schattenbundespräsident?

Gauck: Natürlich nicht. Ich bin einfach ein bewusster Bürger und ein politischer Mensch, der sich in die öffentlichen Debatten einbringt, wenn seine persönlichen und politischen Erfahrungen von Nutzen sein könnten.

SPIEGEL: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Steinmeier beschreiben? Ihre Kritik an der Russlandpolitik der früheren Merkel-Regierung trifft ihn als ehemaligen Außenminister ja auch.

Gauck: Unser Verhältnis ist geprägt von gegenseitigem Respekt, und ich bin besonders einverstanden, wenn er etwa über die Wichtigkeit eines aufgeklärten Patriotismus oder in Zusammenhang mit Putins Krieg von der Existenz des Bösen spricht. Das ist eine Kategorie, die an Deutlichkeit nicht zu überbieten ist.

SPIEGEL: Steinmeier hat sich zuletzt auch relativ deutlich zu den kommunikativen Defiziten der Ampel geäußert. Fänden Sie es gut, wenn er sich künftig häufiger derart einmischen würde?

Gauck: Unser Bundespräsident ist ein erfahrener politischer Fahrensmann – er ist imstande, selbst genau zu definieren, was er als Präsident zu tun hat.

 

Das Interview führten Maria Fiedler und Florian Gathmann.