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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck in Polen - ARCHIVBILD
Grußwort zum Nationalfeiertag der polnischen Verfassung
05. Mai 2025, Berlin
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Einladung zu diesem Empfang anlässlich des Nationalfeiertages, der die Verfassung vom 3. Mai 1791 würdigt, habe ich sehr gern angenommen - auch wenn es sich um einen völlig „unrunden“ Jahrestag handelt. Genau „krumme“ 234 Jahre ist es nämlich her, dass der polnische Sejm eine Verfassung verabschiedete, die nicht nur historische Bedeutung erlangte, sondern von außerordentlicher Aktualität geblieben oder wieder geworden ist. Für Polen – aber auch für Deutschland und Europa.
Bei der Verfassung des 3. Mai handelt es sich weltweit um die zweitälteste moderne Verfassung – die amerikanische Verfassung entstand noch gut dreieinhalb Jahre früher. Europaweit belegte Polen sogar den ersten Platz – die französische Verfassung wurde erst vier Monate später verabschiedet. Polen bildete also die Avantgarde in der konstitutionellen Entwicklung unseres Kontinents. Das Deutsche Reich zog erst 1848 mit der Paulskirchenverfassung nach und das Russische Kaiserreich erhielt sogar erst 1906 eine Verfassung. Leider ist Polens damalige Vorreiterrolle heute außerhalb des Landes kaum bekannt.
Die Maiverfassung reformierte den Staat, führte die Gewaltenteilung ein und war inspiriert vom Geist der Aufklärung. In ihr zeigte sich der feste Wille der aufklärerischen Elite, sich selbst zu regieren – sich nicht als Untertanen zu verstehen, sondern als freie Bürger. Dieser Geist der Freiheit ist ein zentraler polnischer Beitrag zur europäischen Idee.
Wir wissen heute, dass das reformerische Polen damals keine Chance erhielt, die Realität im Sinne der Verfassung zu gestalten. Der konservative, „landesverräterische“ Teil des polnischen Adels fand in Zarin Katharina II. eine nur allzu willige Verbündete, der „französischen Pest an der Weichsel“ den Garaus zu machen. Nach nur 13 Monaten wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Es kam zur zweiten und dritten Teilung Polens, der Staat geriet unter russische, preußische und österreichische Herrschaft und verschwand für 123 Jahre von der europäischen Landkarte.
Aber – und jetzt komme ich zu einer für mich als Deutschen verblüffenden Tatsache: Obwohl die Maiverfassung nicht umgesetzt werden konnte, entwickelte sie Wirkung. Zwar nicht im Bereich der Realpolitik, wohl aber in den Köpfen der Menschen. Auch die Verfassung ließ in Polen jenes patriotische Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen, das die Nation gegen fremde Okkupanten und kommunistische Ideologie immunisierte. Es war nur folgerichtig, dass das freie, demokratische Polen 1990 den Jahrestag der Maiverfassung zum Nationalfeiertag erklärte: Nicht nur, weil Polen stolz sind auf ihre historische Vorreiterrolle, sondern weil sie bis heute festhalten an dem konstitutionellen Bekenntnis zu Recht und Freiheit und zu Unabhängigkeit und Souveränität.
Und hier komme ich zu einem zweiten Grund, warum ich die Einladung gern angenommen habe. Damals haben die polnischen Reformer ihre Möglichkeiten überschätzt. Polen wurde seine geopolitische Lage und die politische und militärische Stärke der Nachbarstaaten zum Verhängnis. Bis heute rechnet Moskau Polen zu seiner Einflusssphäre.
Doch heute ist Polens Lage grundsätzlich anders. Polen ist nicht allein, sondern Teil von Europäischer Union und Nato, es hat also Verbündete. Der polnische Staat ist heute auch nicht schwach, sondern stabil und militärisch gerüstet. Und im Unterschied zu damals finden Polens bittere historischen Erfahrungen heute Eingang in das strategische Denken anderer europäischer Staaten, selbst solcher, die – wie Deutschland – einst zu seinen Feinden zählten. Zum wiederholten Mal kann das Land die Rolle eines Lehrmeisters übernehmen.
Polen war uns und anderen ostmitteleuropäischen Gesellschaften schon Vorbild im Kampf für Freiheit und gegen die kommunistische Diktatur. Seine Gewerkschaft Solidarność war ein Fanal – sie hat in der DDR-Hoffnung gestiftet. Polen war auch eines der ersten Länder, die uns die Wiedervereinigung als positives Ziel sehen lernten und es politisch unterstützten – auf der Basis klarer Prinzipien: Rechtssicherheit, Grenzanerkennung, europäische Perspektive. Und nun ist uns Polen Vorbild, die Idee einer wirklich wehrhaften Demokratie in der Gesellschaft zu verankern.
Freiheit und Demokratie – das lehrt nämlich die polnische Geschichte - sind nur zu erhalten, wenn der Staat unabhängig ist und sich keiner fremden Einflussnahme beugen muss. Wer Freiheit und Demokratie erhalten will, muss den Staat deshalb verteidigungsfähig machen. Freiheit und militärische Stärke sind kein Gegensatz. Umgekehrt. Freiheit und militärische Stärke bedingen einander. Also: Wer Frieden wirklich nachhaltig sichern will, der muss den Gegner abschrecken können, damit dieser auf die Aggression verzichtet, weil der Preis dafür zu hoch würde.
Die Realität der russischen Bedrohung wird in Polen heute weit deutlicher erkannt als in Deutschland. Schon die territoriale Nähe rückt das Land stärker in den Radius russischer Aktionen. Aber unsere Schicksale sind miteinander verknüpft. Polen verteidigt an seiner Ostgrenze nicht nur sein eigenes Land, sondern jenes freiheitliche, liberale Europa, dem das autoritäre und imperiale Russland seine Feindschaft erklärt hat. Und Europa wird dem russischen Hass und Zerstörungswillen nur dann wirklich Einhalt gebieten können, wenn es unverbrüchlich zu seinen Verpflichtungen zu gegenseitiger Solidarität und gegenseitigem Beistand innerhalb des Militärbündnisses steht.
Dies ist es, was Polen während seiner augenblicklichen Ratspräsidentschaft den europäischen Gesellschaften nahe zu bringen versucht. Wir haben gemeinsame Sicherheitsinteressen. „Security, Europe!“ ruft Warschau den anderen europäischen Ländern zu. „Sicherheit, Europa!“ Nur ein geeintes Europa kann stark, wehrhaft und zukunftsfähig sein.
Das ist die große gemeinsame Aufgabe unserer Zeit.