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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck bei der Preisverleihung mit Thomas Strobl, stellvertretender Ministerpräsident und Minister des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen des Landes Baden-Württemberg
Verleihung des Hanns Martin Schleyer-Preises
27. November 2025, Stuttgart
Die Hanns Martin Schleyer-Stiftung hat Bundespräsident a.D. Joachim Gauck den Hanns Martin Schleyer-Preis verliehen. Mit der Auszeichnung ehrt die Stiftung Persönlichkeiten, die sich in besonderer Weise für die Stärkung der freiheitlich-demokratischen Ordnung, für gesellschaftlichen Zusammenhalt und verantwortliches Handeln in einer offenen Gesellschaft einsetzen. Im Rahmen der Preisverleihung hielt Joachim Gauck die folgende Dankesrede.
Es gilt das gesprochene Wort.
Rede von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck zur Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises 2024/25 "Demokratie bewahren - Verantwortung übernehmen"
Haben Sie herzlichen Dank für diese schöne Einladung nach Stuttgart. Vor sechs Jahren durfte ich hier die Laudatio auf einen großen Europäer, Timothy Garton Ash, halten. Ich danke der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung dafür, dass Sie diese hohe Auszeichnung nun mir zuteilwerden lassen. Mein Dank gilt auch der Familie Schleyer. Dieser Preis würdigt weniger eine Person als eine Haltung: Den Willen, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde zu schützen – nicht nur im Wort, sondern in der Tat. Und darüber wollen wir heute sprechen.
Der Hanns-Martin-Schleyer-Preis erinnert uns nicht nur an das bewegte Leben eines engagierten Unternehmers und Verbandschefs. Er erinnert uns auch an das Spannungsfeld von Freiheit, Ordnung und Verantwortung, in dem freie Gesellschaften immer wieder ihren Weg finden müssen. Hanns Martin Schleyer wurde Opfer von Terroristen, die unseren Verfassungsstaat treffen wollten. Indem die Stiftung heute Persönlichkeiten auszeichnet, die sich für die Festigung eines freien, verantwortungsbewussten Gemeinwesens einsetzen, stiftet sie Zuversicht: Wir dürfen – und sollen – darauf vertrauen, dass gemeinsame Werte tragen. Wenn wir sie mit Leben füllen. Und wenn wir bereit sind, sie zu verteidigen.
Zunächst allerdings müssen wir uns, so schmerzlich es ist, eingestehen, dass die demokratische Ordnung, in der wir leben dürfen, kein unverrückbares, ungefährdetes Gut ist. Sie ist verletzlich und bedroht: von innen und von außen, im eigenen Land und in den Ländern des westlichen Bündnisses. Die Kräfteverhältnisse auf unserem Kontinent und darüber hinaus sortieren sich neu. Wir sehen eine Weltordnung im Umbruch – und zugleich ein Europa, das oft mehr Objekt dieser Veränderungen ist als ihr Subjekt. Die alte Gewissheit, dass ein starkes Bündnis der Demokratien unsere Sicherheit garantiert, ist brüchig. Der Hauptverbündete, auf den wir uns über Jahrzehnte verlassen konnten, ist schwankender geworden. Demokratisch gewählte Führer stellen internationale Verträge infrage oder suchen einen engeren Kontakt zu Moskau als zu Brüssel. China entwickelt sich von der lange erhofften Balance aus Partner, Wettbewerber und systemischem Rivalen zunehmend zu einem vorherrschend autoritären Gegenspieler, der wirtschaftliche und technologische Macht strategisch nutzt. Und für uns am bedrückendsten: wie der Machthaber im Kreml seit geraumer Zeit mit offener Aggression, neoimperialen Ansprüchen und hybriden Formen der Kriegsführung auftritt. Gerade mich, der ich im Krieg geboren wurde und die Trümmer jener Zeit noch vor Augen hat, erschüttert, dass der Krieg in Europa als Mittel der Politik zurückgekehrt ist.
Putins unmittelbarer Angriff richtet sich gegen die Ukraine. Die Ukraine soll ihrer Eigenständigkeit beraubt und Russlands direkten Zugriff unterstellt werden. Aber auch anderen Staaten, die sich zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen, hat Putin seine Gegnerschaft erklärt. Denn die Idee der Freiheit ist der größte Feind des Putinschen Regimes. Erst spät haben wir den hybriden Krieg ernst genommen, den Putin schon seit langem auch gegen uns führt – mit Cyberattacken, Sabotageakten, Drohnen, Desinformationen oder auch mit sogenannten Wegwerfagenten. Russland testet unsere Verteidigungsbereitschaft und unser Verteidigungsvermögen und rüstet massiv weiter auf, um den Krieg auch über die Ukraine hinaus ausweiten zu können.
Manche nicht nur in Deutschland drängen trotz dieser Ausgangslage: Wir brauchen wieder billige Energie, wir müssen die Sanktionen neu denken, wir sollten schnell zu einem Waffenstillstand kommen, um dann zu den alten, vermeintlich profitablen Handelsbeziehungen zurückzukehren. Ich verstehe sehr gut die Sorgen derer, die auf Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit und bezahlbare Energie blicken. Ein freiheitliches Land darf die ökonomische Basis seines Wohlstands nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Aber: Wenn ein Staat in aggressiver, imperialer Weise Grenzen verschiebt, und versucht, mit Gewalt eine „Sphäre“ eigener Herrschaft zu schaffen, dann geht es um die Grundprinzipien der europäischen Friedensordnung, um das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und um die Glaubwürdigkeit all dessen, was wir seit 1945 und seit 1989 gelernt zu haben glauben. Wenn eine fremde Macht zudem danach strebt, unserer Öffentlichkeit ihre Narrative aufzudrücken, unsere Wirtschaft in Abhängigkeit zu bringen und deutsche Politiker gefügig zu machen, dann geht es darum, Einfluss auf unsere demokratische Ordnung auch im Inneren zu gewinnen. Lange hat uns unser Wunschdenken diese Gefahr unterschätzen lassen.
Weder waren die Gasleitungen unter der Ostsee ein rein wirtschaftliches Projekt noch hat sich jeder Konflikt diplomatisch lösen lassen. Unsere Freiheit und unser Wohlstand sind langfristig nur sicher, wenn Macht sich an Recht bindet, wenn diejenigen, die angegriffen werden, darauf vertrauen können, dass wir solidarisch sein werden und nicht beim ersten Wohlstandsverlust unsere eigenen Prinzipien relativieren. Vor allem aber, wenn wir selbst eine Wehrhaftigkeit entwickeln, die stark genug ist, den Feind abzuschrecken.

©Axel Joerß
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält die Dankesrede im Haus Südwestmetall
Mit der erratischen Politik Trumps ist brutal sichtbar geworden, was sich ohnehin angebahnt hat: Wir können nicht auf Dauer unter dem Schutzschirm der „Zieheltern“ verbleiben. Wer politisch erwachsen sein will, muss bereit sein, Verantwortung auch militärisch zu tragen. Das heißt nicht, dass wir das Bündnis mit den USA vorzeitig aufgeben. Im Gegenteil: Wir sollten es so lange wie möglich beibehalten und stärken. Aber wir haben zugleich zu akzeptieren, dass Europa stärker für sich selbst einstehen muss – politisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch.
Daher müssen wir unsere Verteidigungsfähigkeit massiv stärken, unseren Beitrag im Bündnis verlässlich leisten und politisch wie finanziell bereit sein, einen deutlich größeren Teil unserer wirtschaftlichen Kraft in die Sicherung unserer Freiheit zu investieren. Es geht nicht um Militarisierung, sondern um Mündigkeit: Entweder wir werden zu einem Europa, das sich selbst schützen kann – oder wir riskieren, im machtpolitischen Spiel dauerhaft auf der Verliererseite zu landen – mit nur schwer vorstellbaren Konsequenzen. Wollen wir letztlich abhängig werden von dem rechtsfeindlichen Willen eines imperialen Herrschers?
Ich weiß, dass vielen in unserem Land alles Militärische fremd ist, ja Angst macht. Das kommt nicht von ungefähr. Dieses Land war zweimal der große Unheilsstifter, der Kriegstreiber, der Europa mit unermesslichem Leid überzogen hat. Aus dieser Schuld ist der Ruf „Nie wieder!“ erwachsen – als moralischer Kompass auch gegen aktuelle Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenrechtsverletzungen. Aber „Nie wieder“ darf nicht heißen: Nie wieder Bereitschaft zur Verteidigung. Es gibt eine gefährliche Form des Wunschdenkens, die sich einredet, Gewalt verschwinde aus der Welt, wenn wir nur jede Bereitschaft zur Gegenwehr aufgeben. So verlockend diese Vorstellung sein mag – so wenig entspricht sie der Wirklichkeit. Ohne Soldaten und Waffen wären Hitler und seine Verbündeten nicht besiegt worden. „Kriegstüchtig“ zu werden bedeutet nicht, kriegslüstern oder kriegssüchtig zu sein. Es bedeutet, so vorbereitet und so stark zu sein, dass ein möglicher Angreifer die Folgen eines Angriffs mehr fürchten muss als seinen eventuellen Nutzen. Ich begrüße daher mit voller Überzeugung die Investitionen in unsere Verteidigungsfähigkeit, materiell und personell und die Überlegungen zur Reaktivierung eines der Situation angemessenen Wehrdienstes – nicht um Krieg zu führen, sondern um Krieg zu verhindern.
Schon diese äußere Bedrohungslage stellt unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen. Und als wäre das nicht schon genug, kommt noch die Bedrohung der Demokratie von innen hinzu. Wir befinden uns in einer großen historischen Umbruchsituation und sind neu oder auf neue Weise konfrontiert mit langfristigen, übergreifenden Entwicklungen wie der demographischen Entwicklung, dem Klimawandel, der Migration, der Künstlichen Intelligenz etc. Und allgemein wird konstatiert: Die Politik auch in unserem Land ist der krisenhaften Wirklichkeit zu oft nicht gewachsen. Es fehlen die großen Antworten, es fehlt eine Zukunftsvision, es fehlt – davon wird augenblicklich am meisten geredet – Vertrauen in die Regierenden.
Enttäuschung hat bei vielen Bürgern Groll oder auch Wut ausgelöst, Groll und Wut haben leider relativ viele zur Wahl von extremen, meist rechtsradikalen Parteien bewegt. Ein Teil von ihnen vertritt offen völkische, fremdenfeindliche, verfassungsfeindliche Positionen. Und eine verunsicherte Öffentlichkeit fragt sich: Was tun, wenn sich die extreme Rechte und ihre Ideologie nicht mehr kleinhalten lassen – nicht im Parlament, nicht auf Landes- und kommunaler Ebene, nicht in der Gesellschaft und den sozialen Medien? Ist die Demokratie wirklich imstande, sich selbst zu schützen und die großen Fragen zu lösen, um Vertrauen zurückzugewinnen?
Ich gestehe: Ich mache mir Sorgen. Sorgen um eine Regierung, die den Erwartungen der Wähler sehr häufig nicht entspricht. Sorgen um eine Koalition, in der die Partner oft mehr darauf aus sind, das eigene Profil zu schärfen, als an das gemeinsame demokratische Ganze zu denken. Sorgen um einen Zustand des Landes, der nach vielen Jahren der Vernachlässigung nicht von einem Tag auf den anderen verbessert werden kann. Sorgen auch um eine Demokratie, die durch Überregulierung und Überforderung nicht effektiv funktioniert. Dabei liegt offen zutage, was die Gesellschaft in dieser Situation braucht: sachgerechte und stringente Führung. Eine offene, liberale Gesellschaft und starke Führung sind kein Widerspruch.
Allerdings: Unsere Ordnung ruht nicht allein auf den Schultern von Regierung und Parlament, sie ruht ebenso auf der Kraft einer lebendigen Bürgergesellschaft: auf Bürgern, die sich zum Eintritt in eine Partei entschließen; auf Ehrenamtlichen, Menschen, die Vereine führen oder Verantwortung in ihrer Kommune übernehmen; auf Schülerinnen und Schülern, die sich in Vertretungen engagieren; auf Nachbarn, die widersprechen, wenn am Stammtisch oder im Netz gehetzt wird. Ich habe in meinem Leben auf beglückende Weise erfahren dürfen: Wir sind nicht bloße Getriebene der Geschichte. Wir sind Menschen, die handeln können. Wo eine Bürgergesellschaft stark ist, haben Extremisten es schwer. Die wichtigste Schutzlinie gegen Manipulation und Hass ist am Ende kein Paragraf, sondern der Bürger, der den Schritt vom Zuschauer zum Akteur vollzieht.
So, wie ich mir also wünsche, dass unsere Politiker und Parteien nicht den wöchentlichen Umfrageergebnissen hinterherlaufen, sondern sich mutig zur Umsetzung nicht nur kleiner, sondern auch großer Schritte durchringen und Hoffnung auf Zukunft begründen, so wünsche ich mir Menschen, die sie auf diesem Weg unterstützen und sagen: Ich überlasse mein Land nicht den Destruktiven und Radikalen, ich lasse nicht zu, dass aus verständlicher Angst eine Haltung der Ohnmacht oder der Wut wird – ich mische mich ein.
Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine lebendige Demokratie. Wir brauchen die Auseinandersetzung, wir brauchen leidenschaftliche, manchmal auch schmerzhafte Debatten über den richtigen Weg. Wir wissen um unsere Fehleinschätzungen in der Vergangenheit und sollten uns deshalb immer wieder fragen: Führen wir denn jetzt die Debatten, die nötig sind – mit Klarheit in der Sache? Nutzen wir nun unsere Freiheit, um dieses Land zukunftsfähig zu machen? Nehmen wir unsere Verantwortung wirklich ernst, in Politik, in Medien, in Wirtschaft oder in der Zivilgesellschaft?
Ja, die Ordnung, in der wir heute leben, ist kein Paradies auf Erden, aber sie ist ein Gut von hohem Wert – wir und unsere Vorfahren haben es gemeinsam errungen. Diese Demokratie hat uns Freiheit gebracht und die Überwindung der Teilung, sie garantiert uns Menschen- und Bürgerrechte und hat einen Wohlstand und einen Sozialstaat ermöglicht, den frühere Generationen sich kaum vorstellen konnten. Sie hat Versöhnung mit unseren Nachbarn geschaffen und uns eingebunden in eine europäische Friedens- und Wertegemeinschaft. Wer dies nicht sieht oder gar behauptet, das alles sei nichts wert, macht aus der Wirklichkeit ein Zerrbild.
Bewahren wir uns etwas, was dieses Land immer wieder getragen hat: ein Vertrauen in unsere Fähigkeit, mit Mut und Vernunft zu handeln. Wir können uns dabei stützen auf die kostbaren Erfahrungen, Ängste gebannt und Krisen bewältigt zu haben. Wir dürfen darauf vertrauen, auch Auswege in gegenwärtigen und künftigen Krisen zu finden.
Wenn ich heute diesen gewichtigen Preis empfange, empfinde ich große Dankbarkeit, aber vor allem stärkt dieser Tag mit seinen Preisverleihungen meine Zuversicht. Denn ich sehe mich verbunden mit den unzähligen Menschen im Land, die die Freiheit, Demokratie und Menschenwürde lieben und sie entwickeln und verteidigen wollen.