Im Gespräch mit der Wochenzeitung DIE ZEIT
22. Februar 2023
DIE ZEIT: Herr Präsident, vor einem Jahr ist Russland in die Ukraine einmarschiert. Trotz enormer Verluste kann Putin offenbar immer neue Soldaten mobilisieren und startet eine Frühjahrsoffensive. Beschleicht Sie manchmal das Gefühl, aller Widerstand der Ukrainer könne vergeblich sein?
Joachim Gauck: Ich bin realistisch genug, um zu ahnen, dass die Reserven, über die Putin verfügt, den Krieg auch zu seinen Gunsten entscheiden könnten. Doch das erhöht nur meine Entschlossenheit dafür zu werben, die Ukraine entschieden zu unterstützen. Ich hoffe, dass es gelingt, die Ukraine weiter zu stärken. Einen gewissen Ausgleich zu schaffen gegen diese Reserven, über die Putin verfügt.
ZEIT: Deshalb fragten wir nach einem Gefühl der Vergeblichkeit.
Gauck: Ich habe Empathie und fühle Sympathie für ein unschuldiges Opfer. Die führenden Vertreter der westlichen Demokratien sagen: Sie wollen verhindern, dass Putin den Frieden diktieren kann. Das ist eine Zusage, die Folgen haben muss. Wir sollten aufhören mit dem Wunschdenken, Russland sei durch Freundlichkeit zu beeindrucken. Wir müssen den Verteidigungskampf der Ukraine massiv stärken.
ZEIT: Also: mehr Panzer? Auch Kampfflugzeuge?
Gauck: Ohne jede Frage müssen und werden wir mehr liefern! Welche militärischen Fähigkeiten im Einzelnen angezeigt sind, überlasse ich den Fachleuten. Aber beim Nachdenken über neue Waffensysteme ist von Neuem zu beobachten, wie einige Intellektuelle vorsorglich für Putin die roten Linien ziehen. Derartige Aktivitäten enthalten leider ein Element der Selbstentmächtigung, selbst wenn sie von engagierten, wohlmeinenden Menschen stammen. Das passt zum Denken jener anderen, die meinen, durch Wohlverhalten gegenüber dem Aggressor könnten wir alles Unheil abwenden. Die Lehre des Kalten Krieges ist eine andere. Die Entspannungspolitik von Willy Brandt gegenüber dem Osten verzeichnete Erfolge, weil sie aus einer Position der Stärke erfolgte. Er regierte eine Nation, die gut gerüstet und Teil eines abschreckungsfähigen Bündnisses war. Verteidigungs- und abschreckungsfähig müssen wir wieder werden.
ZEIT: Das wahrscheinlichste Ende dieses Krieges bedeutet den Anfang eines neuen Kalten Krieges?
Gauck: Das scheint mir bei einem Fortbestand des russischen Regimes, das unzählige Kriegsverbrechen und unglaubliches Leid verursacht hat, unausweichlich. Wenn Freiheit und Recht, also das, was die Nationen Mittel- und Osteuropas nach langen Jahrzehnten der Unterdrückung errungen haben, von einer neoimperialistischen Macht bedroht werden – dann müssen wir dagegen dauerhaft verteidigungsbereit werden.
ZEIT: Der Kanzler argumentiert, er müsse verhindern, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen wird durch eine Eskalation Putins...
Gauck: Ja, von der Fähigkeit Putins, weiter zu eskalieren, ist viel gesprochen worden.
ZEIT: Ist sie nicht real?
Gauck: Doch. Aber ist sie auch wahrscheinlich? Putin hat massive Schwierigkeiten, eine kleinere und nur unzureichend bewaffnete Nachbarnation zu besiegen. Wird er sich dann mit der gesamten Nato anlegen?
ZEIT: Sie gehen von großer Rationalität auf seiner Seite aus.
Gauck: Nein. Aber mit unserer Neigung zu Zurückhaltung und Furcht geben wir Putins Drohungen eine politische Bedeutung, die ihr bei nüchterner Betrachtung nicht zukommt. Im Grunde funktionieren Putins Drohungen wie ein nichtmilitärisches Waffensystem in den Köpfen der Menschen im Westen. Deshalb hielte ich es für klüger, wenn die westliche Allianz Putin bedeuten würde, dass auf jede neue Eskalation eine Erweiterung der militärischen Unterstützung der Ukraine erfolgt. So wäre es auch dem Bundeskanzler möglich, deutlich zu machen, wer für die Fortsetzung dieses schrecklichen Krieges verantwortlich ist. Und er müsste diese Botschaft damit verbinden, was er schon früher gesagt hat, nämlich, dass wir uns von Ängsten nicht bestimmenlassen dürfen. Ängste sind menschlich, aber wir können sie als Einzelne wie als Gesellschaft relativieren, verringern und sogar Mut fassen, auch das ist menschlich. Es ist jetzt enorm wichtig, dass der Bundeskanzler kommuniziert, was seine Politik ist.
ZEIT: Das tut er zu wenig?
Gauck: Ich bin noch gefüllt mit Zutrauen zum Kanzler...
ZEIT: Noch?
Gauck: ... vor allem, weil er sich deutlich an die Seite der Ukraine gestellt und die militärische Unterstützung schrittweise ausgeweitet hat. Aber in diesem Land kommt es jetzt auf Führung an. Wir sind ein sicherheitssuchendes Land, das über einen langen Zeitraum wohlstands- und friedensverwöhnt war.
ZEIT: Sie verstehen schon, dass ein Bundeskanzler innenpolitisch Rückendeckung braucht?
Gauck: Von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger erhält er sie auch, wenn wir auf die aktuellen Umfragen schauen. Aber politische Führung ist auch gegen eine aktuelle Mehrheit möglich und in schwierigen Zeiten notwendig. Darf ich zum Beispiel daran erinnern, dass Helmut Schmidt, gegen eine Mehrheit in der SPD und in der Bevölkerung, mit dem Nato-Doppelbeschluss – Aufrüstung mit neuen Atomraketen bei gleichzeitig verstärkter Rüstungskontrolle – ein militärisches Kräftegleichgewicht wieder hergestellt hat, das von vielen in Deutschland-West als Bedrohung des Friedens gewertet wurde? Es war in den achtziger Jahren aber nicht die Friedensbewegung, die den Frieden in Europa gesichert hat. Es war die Entschlossenheit Schmidts. Das muss wahrscheinlich jede Generation neu lernen. Weil die Freiheit lange nicht bedroht war, brauchen wir in Deutschland eine Rückbesinnung auf diese Entschlossenheit, selbstbestimmt und in Freiheit leben zu wollen.
ZEIT: Und ausgerechnet Putin weist uns darauf hin?
Gauck: Er zeigt uns: Da ist einer, der die Art, wie wir leben, verachtet und in der Ukraine zeigt, dass er sie zerstören will.
ZEIT: Wenn Scholz mehr erklären würde, würden sich dann die Zustimmungswerte ändern?
Gauck: Es gibt verfestigte Ideologen, die man vermutlich nicht erreichen kann. Aber es gibt auch viele Menschen, die einfach unsicher sind. Und wenn ein Regierungschef in solch einer Lage eine Richtung vorgibt, kann er Stimmungen beeinflussen und Rückhalt für seinen Kurs gewinnen.
ZEIT: Helmut Schmidt hat wegen des Doppelbeschlusses letztlich die Kanzlerschaft verloren.
Gauck: Aber den Frieden in Freiheit gesichert. Seine Politik ist nicht gescheitert, andere haben sie fortgesetzt.
ZEIT: Sind die deutschen Interessen in diesem Krieg identisch mit denen der Ukraine?
Gauck: Nein, denn hier wird eine andere Nation existentiell bedroht, die nicht zu unserem Bündnissystem gehört, so dass wir weder rechtlich noch politisch verpflichtet sind, ihr beizustehen. Dennoch sind es nicht nur moralische Gründe, die uns bewegen, einem überfallenen Opfer beizustehen. Vielmehr ist es auch im nationalen Interesse, einer demokratiefeindlichen Ideologie und Angriffskriegen gegen Nachbarländer abwehrbereit gegenüberzustehen.
ZEIT: Sind die Kriegsziele des Westens identisch mit denen der Ukraine?
Gauck: Soweit die Ukraine auch für uns, für die freie Welt, die neoimperialen Ambitionen Russlands zurückschlägt, ja. Die Ukrainer werden irgendwann vor der Frage stehen, was für sie ein Sieg ist.
ZEIT: Es gibt Intellektuelle, zuletzt Jürgen Habermas, die sagen: Lasst uns nicht so sehr über militärische Lösungen sprechen, sondern mehr über Verhandlungen.
Gauck: Es wird fortwährend verhandelt. Es gab keinen Regierungschef in Deutschland, der nicht mit Russland dauernd im Gespräch wäre. Ich möchte auch, dass wir Deutschen diejenigen sind, die immerfort abklopfen, was möglich ist. Auch die USA nutzen Gesprächskanäle. Nur: auf der Gegenseite muss auch einer reden wollen. In dieser Situation sind wir nicht, wir haben keinen Gorbatschow in Moskau als Gegenüber, sondern einen Mann, der von den Prinzipien und Machttechniken des Kommunismus geprägt ist, nun aber eine neoimperialistische Politik verfolgt
ZEIT: In Ostdeutschland, wo man den Kommunismus kennt, ist die Skepsis gegen Waffenlieferungen besonders groß. Wieso?
Gauck: Die Mehrheit der Menschen im Osten unterscheidet sich nicht von denen im Westen. Es gibt aber eine nennenswerte Minderheit, die mit der freiheitlichen Gesellschaft erkennbar fremdelt. Sie vermissen etwa eine starke Autorität und blenden in ihrer anti-westlichen Haltung aus, dass sie durch die sowjetischen Kommunisten und deren SED-Handlanger unterdrückt wurden. So entsteht aus der Ablehnung der liberalen Demokratie ein zu großes Verständnis für den anti-liberalen Despoten. Zusätzlich gibt auch so etwas wie ein Stockholm-Syndrom, also jene psychische Verhaltensweise, die eine eigentlich unerträgliche Situation durch Wohlverhalten gegenüber dem Terroristen, Vergewaltiger oder Aggressor, manchmal sogar durch Identifikation mit ihm, erträglich machen will. Ein Teil der ostdeutschen Menschen hat aufgrund jahrzehntelanger eigener Ohnmacht innerlich, manchmal auch unbewusst, das Gefühl, leg dich nicht mit denen an, die dich kaputtmachen könnten.
ZEIT: Die Ostdeutschen sind allerdings auch die einzigen Deutschen, die sich von russischer Dominanz freigekämpft haben.
Gauck: Ja, irgendwann war es ihnen zu viel, da haben wir von den Polen gelernt. Der Unterschied: Die Polen kämpfen, auch wenn sie nicht genau wissen, ob sie gewinnen. Es gibt eine polnische Redensart: Glaube nicht, dass du nicht mit dem Kopf durch die Wand kommst. Das Negative an dieser Haltung ist nur, dass man manchmal vergisst, nach Türen zu schauen (lacht).
ZEIT: Die Westdeutsche Alice Schwarzer und die Ostdeutsche Sahra Wagenknecht haben sich zusammengeschlossen.
Gauck: Es gibt Formen von Fehlwahrnehmung, die passen zueinander.
ZEIT: Finden Sie es gut, in dieser Weise übereinander zu sprechen? Sie sind doch ein Mann, der dafür steht, dass es offene Diskurse gibt.
Gauck: Die Dinge müssen offen besprochen werden, in Briefen, Aufrufen, Debatten, auf Demonstrationen, das ist doch selbstverständlich.
ZEIT: Es gibt den Vorwurf, dass Menschen, die für Waffenlieferungen eintreten, in deutschen Medien viel häufiger vorkommen als die Skeptiker. Und wir interviewen hier ja auch wieder Sie, als klaren Verteidiger dieser Politik. Sehen Sie da ein Ungleichgewicht?
Gauck: Das steht einer liberalen Zeitung gut zu Gesicht.
ZEIT: Das Ungleichgewicht?
Gauck: Nein, sehr wohl aber die Absicht, durchscheinen zu lassen, dass liberales Denken auch ein verteidigungsbereites Denken sein kann. Und was die Skeptiker betrifft: sie sind medial wahrlich ausreichend präsent.
ZEIT: Sie waren Präsident in der Zeit, in der Russland die Krim annektierte. Wurde Deutschland damals entschlossen geführt?
Gauck: Der Präsident hat nur die Macht des Wortes.
ZEIT: 2014, nach der Annexion der Krim, haben Sie in einer Rede gesagt: „Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern“. Im Nachhinein können Sie sich bestätigt fühlen.
Gauck: Ja, und? Kann ich mich darüber freuen? Nein. Man hätte damals sehen können, was kommt, aber man wollte es nicht sehen.
ZEIT: Warum nicht?
Gauck: Es gab schöne Aussichten auf mächtig gute Geschäfte. Wenn eine ganze Sparte der deutschen Wirtschaft super findet, wie schön die Preissituation ist bei Gas und Öl ….
ZEIT: Es gab auch eine Kanzlerin, die so argumentiert hat.
Gauck: Ja. Auch die Bundeskanzlerin wurde wahrscheinlich weniger durch Putin als durch die deutsche Wirtschaft davon überzeugt, die Politik zu machen, die sie diesbezüglich gemacht hat. Die Bundeskanzlerin wusste ansonsten um Putins Lügen.
ZEIT: Sie hat daraus keine Politik gemacht.
Gauck: Sie hat offensichtlich andere Prioritäten gesetzt.
ZEIT: Wünschen Sie ihr nachträglich mehr Einsichtsfähigkeit?
Gauck: Ich habe großen Respekt vor Angela Merkel, da fällt es mir schwer sie zu kritisieren. Wichtiger ist es, dass wir aus den Fehlern, die es gab, lernen. Nord Stream II zum Beispiel. Man hat sich für eine Politik schwacher Sanktionen und für Wohlstandssicherung entschieden.
ZEIT: Ist es nicht auch vorstellbar, dass Angela Merkel hoffte, im Umgang mit Putin etwas zum Positiven wenden zu können?
Gauck: Selbstverständlich, jeder verantwortliche Politiker würde diese Gespräche suchen. Aber es wird sehr unterschiedlich bewertet, was zum Beispiel die Abkommen von Minsk bedeuten.
ZEIT: Das waren Waffenstillstandsvereinbarungen für den Osten der Ukraine, ausgehandelt unter Beteiligung von Deutschland und Frankreich. Merkel sagt heute, sie habe der Ukraine damit Zeit gekauft.
Gauck: Es stimmt, damals war die Ukraine nicht so verteidigungsfähig wie heute. Dennoch kann man eine völkerrechtswidrige Annexion von Territorium...
ZEIT: ... also der Krim ...
Gauck: ... anders beantworten als nur mit Sanktionen und einer erhöhten Abhängigkeit von russischem Gas. Und wir hätten uns neben den Amerikanern und anderen Ländern daran beteiligen können, die ukrainischen Truppen auszubilden und auszurüsten. Ich halte es für erforderlich, dass wir über Fehler und Versäumnisse sprechen. Damit wir uns nicht erneut in eine solche Abhängigkeit begeben und kurzfristige wirtschaftliche Interessen wichtiger nehmen als unsere außen- und sicherheitspolitischen Ziele.
ZEIT: Sind Sie Putin persönlich begegnet?
Gauck: Selbstverständlich, er machte einen Antrittsbesuch bei mir, nachdem er wieder zum Präsidenten gewählt worden war.
ZEIT: Wie haben Sie ihn erlebt?
Gauck: Ich habe ihm beim Reinkommen in die Augen geschaut und gesagt, Herr Präsident, ist dies nicht eine äußerst merkwürdige Begegnung, wenn wir uns vorstellen, wo wir beide vor dreißig, vierzig Jahren waren? Ich war ja oppositioneller Pfarrer in Rostock, er KGB-Offizier in Dresden. Da war klar, wie das Gespräch verlaufen würde (lacht).
ZEIT: Was hat Putin geantwortet?
Gauck: Er hat putinesk gelächelt.
ZEIT: Im Kanzleramt kann man immer wieder hören, zu Russland werde man, wie immer der Krieg ausgehen mag, auch künftig ein Verhältnis brauchen.
Gauck: Ich habe eine sehr klare Vorstellung von diesem Verhältnis. Wir werden deutlich machen: Ihr werdet uns nicht besiegen, wir werden unsere liberale Demokratie verteidigen. Wir schützen unsere Grenzen und unsere Werte. Und über alles andere können wir reden.
ZEIT: Herr Gauck, falls wir in einem Jahr wieder hier bei Ihnen sitzen, stehen die Dinge dann besser?
Gauck: Ein Jahr ist kurz. Ich denke, Putin wird realistisch genug sein, sich nicht mit der Nato anzulegen. Aber wie erfolgreich sind seine Destabilisierungsstrategien in den westlichen Gesellschaften? Er hat überall seine Andockpunkte, in Italien, in Österreich, in Frankreich, und irgendwann beginnt der amerikanische Wahlkampf. Ich fürchte also, wir werden in einem Jahr in einer ähnlichen Situation sein wie heute, egal, wo die Front dann verläuft. Gleichzeitig hoffe ich aber auch, dass die Entschlossenheit der Ukrainer und eine substantielle Unterstützung des Westens verhindern werden, dass meine Befürchtungen wahr werden.