Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Deutscher Nationalpreis Werner Schulz

Menü Suche

©Deutsche Nationalstiftung

Deutscher Nationalpreis 2022: Laudatio auf Werner Schulz

14. Juni 2022, Berlin

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Was tun wir, wenn wir Preise vergeben? Natürlich: Wir ehrenMenschen, heben sie heraus aus der Allgemeinheit, wir geben ihnen Anerkennung, schenken ihnen Freude. Doch indem wir dies tun, geschieht auch etwas mit uns, der Gemeinschaft: einen Augenblick halten wir inne, blicken auf die Geehrten, nehmen wahr, was sie uns voraushaben – und fragen uns eventuell auch: Was sind eigentlich meine Fähigkeiten, steckt auch in mir etwas Großes, Schönes, Starkes, etwas Unbedingtes? Und so denke ich, dass jede Preisverleihung auch zeigt: Wir ehren und preisen das, wovon wir insgesamt zu wenig haben.

Heute nun ehren wir Werner Schulz. Als Leitmotiv sollten wir daher über Mut sprechen. Wir könnten durchaus auch seine anderen Tugenden und Fähigkeiten nennen, analytisches Vermögen etwa oder rhetorische Begabung; aber gerade in Zeiten, da auf der politischen Handlungsebene ebenso wie im allgemeinen Leben Mut ein oft entbehrtes Gut ist, soll diese Werner Schulz prägende Haltung heute im Mittelpunkt stehen. Manchmal erscheint es, als sei es einem Menschen von der Natur mitgegeben, ob er furchtlos ist oder furchtloser als andere, ob er mehr wagt, auch wenn ihm Nachteile dadurch entstehen können. Wenn ich aber das Leben anschaue, das Werner Schulz geprägt hat, sehe ich etwas schwer Errungenes. Auch etwas Besonderes, nicht Übliches, etwas das in jenen wächst, die  gegen den Strom geschwommen sind.

Wie aber entsteht dieses „Gegen den Strom“? In seinem Fall nicht ohne die Schmerzen der frühen Jahre. Früh zu wissen: „Ich lebe in einem Land ohne Freiheit.“ Seit er elf Jahre alt ist, ist das Land durch den Bau der Mauer zudem ein Areal der Unfreiheit, der Unentrinnbarkeit. Dadurch wird das, was in Diktaturen ohnehin Verhaltensnorm ist – die Anpassung – noch einmal verschärft. So entsteht ein Angst-Anpassungssyndrom, das sich stützt auf eine systembedingte Ratio. Jeder kann erkennen, was die Herrschenden der Bevölkerung vermitteln: Sei der Unsere und für dich ist gesorgt. Zwar können die Einzelnen noch entscheiden, wie weit sie sich anpassen. Aber generell existiert eine ganz eigene Normalität, die Kultur einer Mindestloyalität. Jugendliches Aufbegehren, Eigenständigkeit des  Individuums, künstlerische Freiheit, Meinungsfreiheit – all das gilt in einer solchen Kultur als nicht „normal“.

Werner Schulz erlebte das alles und muss früh die Grenzen seines Widerspruchs austesten. Wir aus dem Osten wissen es alle: Manchmal ging es mit List, manchmal mit Opportunismus, manchmal allerdings nur mit Grundsatzentscheidungen. Nach bestandenem Abitur ließ Werner Schulz sich einen Bart wachsen. Doch der Direktor wollte ihm das Abiturzeugnis nicht aushändigen, wenn er unrasiert zur Zeugnisübergabe käme. Es bedurfte erst des Freundes, der im Geschichtsbuch auf ein Bild von Friedrich Engels von 1848 mit ähnlichem Bart verwies. Er hätte gern Jura studiert, aber ihm war klar: „In diesem Land kannst du das nicht, du müsstest sonst ständig mit ungerechten Gesetzen umgehen.“ Er sympathisierte mit dem Prager Frühling. Doch als er achtzehnjährig ein Studium an der Berliner Humboldt-Universität antreten will, sieht er sich konfrontiert mit der Forderung, er solle den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR 1968 in einer Resolution befürworten. Der 18jährige will studieren – und unterschreibt nach anfänglichem Zögern und aufgrund von äußerem Druck widerwillig. Diesen Schritt hat er später als einen „Genickbruch“ beschrieben. Er hatte sich von sich selbst entfernt, hatte gegen seine Überzeugung gehandelt.

Für Werner Schulz war es ein Wendepunkt, ein demütigendes, aber heilsames Erleben. Es machte sein Ich stärker. "Entweder", sagte er einmal, "man spürt den Schmerz im Rückgrat und will ihn nie wieder spüren. Oder man verdrängt ihn und lebt von nun an in dauerhaftem Opportunismus." Es war das, was Vaclav Havel ähnlich für sich reklamierte, nämlich den Vorsatz, „in der Wahrheit zu leben“. Für Werner Schulz begann hier der Weg in die Opposition.

Als er später, nach dem 1980 abgeschlossenem Studium als wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan protestiert, muss er kurz vor Abgabe der Dissertation die Universität verlassen. Karriere und Aufstieg waren ihm nun weniger wichtig als Selbstachtung und Freiheitsliebe. Dies führte ihn dann in die Sphäre der Widerständigen, die zum größten Teil in kirchlichen Gruppen  organisiert waren. Im Pankower Friedenskreis traf er auf Menschen, die nicht einfach  ohnmächtig dahinlebten, sondern Alternativen zur Unterwerfung entwickelten. Im Jahr 1989 sehen wir Werner Schulz politisch aktiv im öffentlichen Protest gegen die gefälschten Kommunalwahlen und als Gründungsmitglied des Neuen Forum. Und als aus dem ersten Aufstehen im Herbst 1989 eine friedliche Revolution geworden war, als Vertreter des Neuen Forum am zentralen Runden Tisch in Berlin. 1990 nach den ersten freien Wahlen in der DDR, ist Werner Schulz Mitglied der Fraktion Bündnis90/Grüne. Dort lernte ich ihn kennen. Er gehörte zu denen, die sich mit Klarsicht und Mut einerseits gegen die Nostalgiker im postkommunistischen Milieu und andererseits gegen unrealistische politische Träumer wendeten. Sein Selbstbewusstsein wie seine revolutionären Erfahrungen halfen ihm auch nach der  Wiedervereinigung im Deutschen Bundestag, dem Typus des „Besserwessi“, den es  durchaus auch in höheren Politikersphären gab, zu widerstehen. Er hatte eine größere Liebe zur freiheitlichen Demokratie als so mancher gesellschaftskritische Altlinke bei den Grünen.

So gelangte der eigengeprägte Ostmensch mit westlichen Idealen in die Rolle eines Chefs der Bündnis 90/Grünen, die 1990 nur deshalb in den Bundestag einzogen, weil sie im ostdeutschen Wahlgebiet 6 Prozent erhielten, während die westdeutschen Grünen, die überwiegend kritisch zur Wiedervereinigung standen, an der 5-Prozent-Hürde scheiterten und eine Parlamentspause einlegen mussten. Während der Zeit der rot-grünen Koalition sehen wir Werner Schulz als wirtschaftspolitischen Sprecher der Fraktion und als Sprecher für die Angelegenheiten  Ostdeutschlands. Unvergessen sein Auftritt auf dem Sonderparteitag der BündnisGrünen im Oktober 1993 zum Bosnienkrieg. Wieder agierte er gegen den Strom. Nur wenige Delegierte mochten seinem Werben für ein militärisches Eingreifen zustimmen. Natürlich war er enttäuscht. Aber später, im Kosovo-Krieg hat sich seine Meinung durchgesetzt.

Es ist die Zeit, in der er als scharfzüngiger Redner bekannt und bei einigen auch gefürchtet ist. Seine Meinungsstärke und sein Temperament, manchmal vielleicht sogar sein Übermut, hinderten ihn allerdings nie an der Sacharbeit. Früh hatte er gelernt, dass Niederlagen und Kränkungen (ich denke hier an sein vergebliches Eintreten für den Einigungsprozess 1990 nach Art. 146 GG) verarbeitet werden müssen. So lernt er mit Anderen oder anders als Andere Frustrationen positiv zu beantworten und Kompromisse, wo sie verantwortbar erscheinen, zu akzeptieren. 

Unbedingt gewürdigt werden muss auch seine Fähigkeit, strategisch zu denken. Wahrscheinlich hätte es ohne Werner Schulz Bündnis 90/Die Grünen als Partei nicht gegeben. Schon 1989 hatte er dafür gekämpft, dass sich das Neue Forum mit den anderen Bürgerrechtsgruppen zum Bündnis 90 zusammenschließt. Nach der Einheit dann, als statt der Grünen nur noch acht ostdeutsche Bündnis-Abgeordnete im Deutschen Bundestag saßen, hat er die Vereinigung mit den ziemlich zerstrittenen Grünen vorangetrieben und dafür gesorgt, dass der Name und die Themen von Bündnis 90 erhalten blieben. Manch alter Bundesgenosase im Osten mochte diesen Weg nicht mitgehen, aber Werner Schulz wollte unbedingt aus einer 1989 wichtigen Bewegung eine Partei der  Zukunftsthemen machen. Die Vereinigung und ein ausgehandelter Grundkonsens haben der Partei dann einen Realitätsschub gegeben. Sie zog wieder in den Bundestag ein, und wenn unser Preisträger heute auf sie schaut, wird er wahrscheinlich ziemlich zufrieden mit seinem damaligen Engagement sein.

Und noch etwas möchte ich erwähnen: Wir erkennen seine politische Leidenschaft besonders dann, wenn er Gefahren für Freiheit und Demokratie benennt.  Er sieht ja die Freiheit nicht nur von außen bedroht, sondern weiß, es gibt Gefahren für die Freiheit aus der Freiheit heraus. Da schont er weder politische Wettbewerber noch Parteifreunde noch Koalitionäre. So, als er 2005 Bundeskanzler Gerhard Schröder dafür angriff, dass er eine „unechte Vertrauensfrage“ stellte in der Absicht, diese zu verlieren. Schulz war einfach zu „gerade“, zu gewissenhaft, um  anzuerkennen, dass Schröders Entscheidung innerhalb des demokratischen Kräftemessens durchaus erlaubt war, wenn auch ein – wie sich in diesem Fall herausstellen sollte – riskantes Spiel. Menschen wie Werner Schulz mögen solche Möglichkeiten nicht, die bei den Wählern den Eindruck erwecken können, die Politik spiele mit gezinkten Karten. Da hatte einer eben früh gelernt, dass es lebbar und auch wahrhaftiger ist, eigenen Werten zu folgen, anstatt eigenes Reden und Tun den Karrierewünschen oder taktischen Spielen unterzuordnen.

Werner Schulz kann ertragen, nach der Neuwahl 2005 nicht mehr Bundestagsabgeordneter zu sein. Aber dann gibt es eine Möglichkeit der Rückkehr in die ausübende Politik: 2009 hören die Bündnisgrünen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz eine  fulminante Bewerbungsrede – Werner Schulz wird Kandidat für die Europawahl, wird gewählt, und macht fortan Politik auf europäischer Ebene als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, im Wirtschafts- und Währungsausschuss und als stellvertretender Vorsitzender der Russland-Delegation des Europaparlaments.

Diese seine Position führt mich zu dem Thema, das in diesen Zeiten beständig im Gespräch ist: Russland unter Putin. Es lohnt sich, den Blick, die Perspektive wahrzunehmen, mit der unser Preisträger auf Putin und das System Putin seit je schaut. In einer Mischung aus Realitätssinn, Erfahrung und Analysefähigkeit vermochte er Putin und sein System früh als autokratisches, rechtsfernes, aggressives Konstrukt zu beschreiben. Seit Putins Amtsantritt hat Werner Schulz vor dessen Skrupellosigkeit und Nationalismus, vor dessen Großmachtambitionen und Manipulationen gegenüber dem Westen gewarnt.

Wer Kommunismus gelebt und studiert hat, dem fällt es meist leichter, das Fortwirken des sowjetkommunistischen Erbes unter der neuen neoimperialistischen Firmierung zu erkennen. Wir sehen es in der Haltung von Polen, Tschechen oder in den baltischen Staaten. Sie kennen von Innen heraus diese leninistische Absolutsetzung der einmal errungenen Macht, die Verachtung der Herrschaft des Rechts, die Nichtgewährung von Bürger- und Menschenrechten, das Auslöschen der Meinungsfreiheit, die Gleichschaltung der Medien, die Verfolgung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und zudem das Wirken geheimdienstlicher Angstapparate – ein wahrlich schreckliches Ensemble von Werkzeugen zur Aufrechterhaltung von Ohnmacht der Vielen und der Übermacht der Wenigen. All das, was wir in den letzten Jahren in Russland beobachten konnten.

Und nach außen das Festhalten an imperialen Ambitionen, verschleiert unter der Ideologie einer russischen Mission, das Festhalten an Gebietsansprüchen auf alte russische Groß- und Kolonialreiche, ehemalige Sowjetrepubliken und abhängige Vasallenstaaten. Aktuell am gewalttätigsten kommt dieser imperiale Anspruch in der Invasion in die Ukraine zum Ausdruck, im Versuch zur Inkorporation eines Territoriums und einer Tradition, um einen eigenständigen ukrainischen Staat und eine eigene ukrainische Identität auszulöschen.

All das sah und sieht Werner Schulz ganz klar und in jeder Lebenssituation. Er sieht es auch schon 2001 an jenem Tag im Deutschen Bundestag, als Wladimir Putin seine Rede hält, auf die  sich jetzt viele beziehen, weil sie eine Annäherung Russlands an Deutschland und Europa auf demokratischer Basis zu ermöglichen schien, eine Rede, auf Deutsch gehalten, die damals der Bundestag mit standing ovations beklatschte. Da steht Werner Schulz auf, als einziger Abgeordneter verlässt er den Raum. Wer so empfindet, versteht deutlicher als andere, was uns von Putin droht.

2014, nach der Annexion der Krim und den kriegerischen Aktionen im Donbas verwies Werner Schulz darauf, dass man Putin hätte stärker in die Schranken verweisen müssen wegen des eindeutigen Bruchs des Völkerrechts, auch wegen der Verletzung des Budapester Memorandums, das der Ukraine für die Herausgabe ihrer Atomwaffen territoriale Integrität garantierte. Die Aufnahme von Georgien und die Ukraine in die Nato hätte nach Meinung von Werner Schulz die  folgenden Kriege vermeiden können. Wir haben kürzlich gehört, dass Angela Merkel an diesem Punkt ganz anderer Meinung war und weiterhin ist. Wir wissen nicht, ob Werner Schulz mit seiner Meinung, die ja auch von der Ukraine vertreten wird, recht hat. Aber ganz eindeutig hat Europa, hat die freie Welt nach der Annexion der Krim zu wenig für den Schutz der Ukraine und zur Eindämmung der Putinschen Aggression getan. Der frühe klare Blick unseres Preisträgers wurde damals von vielen, vielleicht sogar den meisten, als störend empfunden. Sie wollten festhalten an ihren Illusionen über einen Wandel durch Handel und an der Wirksamkeit von Argumenten auch bei skrupellosen Aggressoren. Dass Gewalt von Gewalttätigen manchmal nur mit Entschlossenheit und Gegengewalt zu stoppen ist, müssen wir in Westeuropa und besonders in Deutschland erst wieder lernen.

Eingangs habe ich darüber gesprochen, dass wir das ehren, von dem wir zu wenig haben. Und im Fall des Preisträgers von Werner Schulz ist dies der Mut. Seine Positionen im deutsch-russischen Verhältnis zeigen es besonders deutlich. Unser Preisträger erkannte sehr früh, was sich jetzt – immer noch langsam, immer noch zögerlich - in der Bevölkerung als Erkenntnis durchsetzt: Wir dürfen früher, entschiedener und aktiver verteidigen, was unsere Freiheit, unsere Demokratie ausmacht. Wir danken all denen, die mahnen für ihre Weckrufe. Und heute danken wir ganz konkret Werner Schulz, der zu ihnen gehört. Wir preisen seine Entschlossenheit, seine Klarheit, seinen Mut. Und wir sehen, wenn wir auf Werner Schulz schauen, ein nur auf den ersten Blick  merkwürdiges Beziehungsgeschehen: Sind wir mutig, ermächtigen wir uns zum Handeln, dann können wir uns mögen, auch achten. Unser Selbst gewinnt Form und Format, und im selben Moment verlieren unsere so menschlichen Ängste an Bedeutung. Und umgekehrt: Wer sich seiner selbst sicher ist, dem fällt der Mut leichter. Wir zeigen der jungen Generation mit Werner Schulz somit etwas von der Würde und Schönheit einer Bürgerexistenz, auch von dem Glück, das jene erfahren, die Freiheit als Verantwortung leben.

Manchmal – so hat er es selbst einmal gesagt – wirkt er wie ein „Überzeugungstäter“. Aber dieser „Täter“ mag die Menschen, er verteidigt ihre Freiheit und ihre Selbstverwirklichung. Und er liebt und sucht die Wahrheit und fürchtet die Debatte um die Wahrheiten nicht. Er redet daher offen, oft kämpferisch, wo  andere schweigen, beschönigen, relativieren, vielleicht sogar lügen. Sein Leben hat ihn gelehrt, dass unsere Ängste nicht das letzte Wort haben dürfen, wenn wir tun, was wir tun müssen. Und er wird hoffentlich – spitz oder geduldig – weiter mit uns reden, gerade in Zeiten wie diesen, in denen so viel unsicher geworden ist und in denen neue Orientierungen erworben werden müssen. So jedenfalls wünsche ich mir das von dem Anreger, dem Mitbürger und dem alten Freund.

Herzlichen Glückwunsch, lieber Werner, zum Deutschen Nationalpreis 2022!