Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

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©Rolando de Sousa

Dankesworte anlässlich der Verleihung des Hambacher Freiheitspreises

29. Mai 2022, Hambacher Schloss

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck ist mit dem erstmals verliehenen Hambacher Freiheitspreis 1832 geehrt worden. Er erhielt die Auszeichnung während eines Festakts auf dem Hambacher Schloss. Veranstalter war die Stadt Neustadt an der Weinstraße. Der Festakt war eingebunden in das dreitägige Demokratiefest der Stadt mit dem Leitgedanken «Mut zur Freiheit».
 

Die Dankesrede im Wortlaut:

Änderungen vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Zu Beginn möchte ich sehr herzlich Danke sagen. Zunächst Ihnen, Herr Staatsminister und Stiftungsratsvorsitzender Lewentz, und an Sie, Herr Oberbürgermeister Weigel sowie an die gesamte Jury, die mir diesen Preis zugesprochen hat. Ich freue mich, den Preis hier auf dem Hambacher Schloss, an dem Ort entgegenzunehmen, an dem die Deutschen im 19. Jahrhundert so intensiv begannen, um ihre Nation zu ringen, um die Republik und damit um die Demokratie. Ich fühle mich geehrt, dass Sie, liebe Dorothee Wüst, so freundliche und ergreifende Worte zur Übergabe dieses Preises gefunden haben.

Sehr herzlich möchte ich auch der Schubert-Schule zum "Johann-Philipp-Abresch-Preis" gratulieren. Dass für die Jüngsten unter uns gesellschaftlicher Zusammenhalt, kulturelle und politische Teilhabe, Mitwirken an der Demokratie nicht nur abstrakte, sondern gelebte Wirklichkeit sind, halte ich für außerordentlich wichtig und ich begrüße die Initiative um den Regionalpreis. Unsere Demokratie braucht auch heute und in Zukunft Bannerträger der Demokratie wie Johann Philipp Abresch, die sich im besonderen Maße um den gesellschaftlichen Zusammenhalt verdient machen. Herzlichen Glückwünsch also, liebe Schülerinnen und Schüler sowie Lehrer!

Drei Tage lang wurde hier auf dem Hambacher Schloss gefeiert, was unsere Art zu leben prägt und trotzdem im Alltag allzu oft als Selbstverständlichkeit hingenommen wird: Unsere Demokratie. Das Fest mit seinem Programm, gestaltet von Vereinen, Institutionen, Künstlerinnen und Künstlern spiegelt die starke Bereitschaft unserer Gesellschaft zum Engagement, zur ehrenamtlichen Tätigkeit – und ganz generell auch ein großes politisches Interesse wider. Im freiheitlichen, weltoffenen und solidarischen Geist des Hambacher Festes haben Sie in Neustadt ein Fest gefeiert, das alle Bürgerinnen und Bürger dazu eingeladen hat, mitzumachen, mitzuwandern und mitzudiskutieren.

Damit haben Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger aus Neustadt und alle Gäste dieses Festes unter dem Motto „Mut zur Freiheit“ zu einem Freiheitsbegriff gefeiert, der untrennbar mit individueller Verantwortung und gesellschaftlicher Solidarität verbunden ist. Mutig waren die Neustadter als sie im Mai 1832 mit mehreren zehntausend Teilnehmern gegen ihre bayerischen Obrigkeiten aufbegehrten und ihren Kampf für Demokratie und Freiheit als Fest tarnten. Als Hambacher Fest ging es in die Geschichte ein. Zu Recht sind die Neustadter stolz, dass ihr Fest und ihr Hambacher Schloss heute als Wiege der deutschen Demokratie gelten. Zudem auch als Geburtsort von Schwarz-Rot-Gold in der heutigen Farbanordnung. Diese ehrwürdige Tradition birgt auch eine Verantwortung. Und so bin ich dankbar, dass mit der Hambacher Intervention, der Vereinnahmung unserer Demokratiegeschichte von rechts Einhalt geboten wurde. Wir lassen uns unsere Symbole der deutschen Demokratiebewegung nicht von den Feinden der Demokratie kapern, meine Damen und Herren!

Vor fast genau 190 Jahren strahlte vom Hambacher Fest der Einsatz für Presse- und Meinungsfreiheit, für Demokratie, für die Einheit Deutschlands und ein verbrüdertes Europa in das ganze Land aus. Das Hambacher Fest dient uns nicht nur als historische Erinnerung, sondern macht uns bewusst, dass wir uns heute mehr denn je für diese Werte stark machen müssen. Auch heute brauchen wir Mut, Haltung und Engagement. Mehr denn je ist unsere Gesellschaft herausgefordert, die Demokratie gegen ihre Feinde zu schützen – im Inneren wie im Äußeren. Wird uns doch zurzeit schmerzhaft vor Augen geführt, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist.
Seit nunmehr 95 Tagen führt Russland einen brutalen Okkupationskrieg gegen einen friedlichen, demokratischen Staat Europas. Die allermeisten haben Kriegsgräuel mitten in Europa im 21. Jahrhundert für ein Thema der Vergangenheit gehalten. Doch ein gewissenloser Diktator hat der Ukraine diesen Krieg aufgezwungen und zielt damit auch auf alle freien, demokratischen Gesellschaften, die ihr Schicksal selbst gestalten wollen.

Putins Krieg gilt letztlich der gesamten freien Welt, der liberalen Demokratie und der Selbstbestimmung der Völker. Viele Menschen spüren, dass nicht einfach ein fremdes Land angegriffen und unterjocht werden soll, sondern dass wir mitgemeint sind, wenn die Ukraine zum Untertanen gemacht werden soll. Niemand weiß, wie weit Putins Ambitionen bei der Wiedererrichtung eines großrussischen Imperiums reichen. Und darum geht es in diesem Krieg nicht „nur“ um die Ukraine, es geht zugleich um unsere nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen, ja eigentlich um die Wertebasis auf der die Europäische Union errichtet ist. Wirklichen Frieden in Europa kann es nur geben, wenn wir die Ukraine in diesem Krieg so unterstützen, dass ihre Freiheit und ihre Souveränität erhalten bleiben. Wenn es Putin gelingen würde, einem großen Land das Recht auf Selbstbestimmung und territoriale Integrität dauerhaft zu nehmen, dann wäre die Stabilität Europas einer beständigen Bedrohung, einer sehr ernsthaften Gefährdung ausgesetzt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ein Blick auf die letzten Jahrzehnte zeigt uns: Fast alle haben sich geirrt, – einige wollten sich wohl auch irren – als sie glaubten, Stabilität und Frieden hätten endgültig Vorrang gewonnen gegenüber imperialem Machtstreben. Russlands Krieg hat nun den Staaten Europas schmerzhaft bewusst gemacht: Unsere Demokratie ist doppelt bedroht: durch Feinde im Inneren, und sie ist auch von außen bedroht: durch Personen und Mächte, die aus Partnerschaft Gegnerschaft machen und schließlich sogar Feindschaft.

Doch auch Putin hat sich geirrt: Anders als in der Vergangenheit begegnen die EU und die NATO seiner neoimperialen Expansion mit massiven Sanktionen und mit militärischer Unterstützung für die Ukraine. Uns Europäern ist bewusst geworden, wie viel wir zu verlieren haben. Wir sind daher zusammengerückt. Schweden und Finnland werden mit ihrem Beitritt die NATO stärken und senden damit ein wichtiges Signal der Einheit Europas und der Stärkung des transatlantischen Bündnisses: Wir lassen uns nicht einschüchtern, weder durch Drohungen noch durch den Angriffskrieg in unserer Nachbarschaft.

Wir lernen heute neu, was schon damals die mutigen Menschen die unter anderem aus Polen, Frankreich und Deutschland zum Hambacher Fest kamen, gewusst haben: wir müssen uns verbünden, wenn uns Freiheit und Demokratie am Herzen liegen. Schon sie wussten auch: Freiheit ist nicht umsonst zu haben.

So sehen wir, damals wie heute, welche Kräfte aus dem Wunsch nach Freiheit erwachsen können. Denn die Menschen in der Ukraine kämpfen für das, was ihnen wirklich am Herzen liegt – für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Wenn wir also heute unter der Überschrift „Mut zur Freiheit“ zusammengekommen sind, dann sollten uns diese tapferen Menschen Mut machen. Wir sehen in ihnen Möglichkeiten, über die auch wir verfügen, wenn auch wir verteidigen, was uns lieb und teuer ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,
in vielen Ländern hat die Demokratie schon seit Jahren an Akzeptanz verloren und wir wissen nicht nur durch die Entwicklungen in Russland, dass zum Beispiel die Freiheit der Presse ein wichtiger Gradmesser dafür ist, wie es um die Demokratie in einem Land und die Freiheit in einer Gesellschaft bestellt ist. So wie 1832, als die Presse- und Versammlungsfreiheit in den deutschen Ländern stark eingeschränkt war. Dies war einer der Gründe dafür, warum damals in Hambach ein Fest und nicht eine Kundgebung stattfand.

Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn wir uns nun hier und heute in unserem Land umschauen, so wird uns schmerzlich bewusst, dass uns nicht nur Destruktion und Gewalt von außen drohen.

Die Zahl der Feinde der Demokratie hat zugenommen, alter und neuer Extremismus und ein Erstarken des populistischen Milieus erschrecken die Mehrheit der Bevölkerung. Erst letzte Woche hat das Bundeskriminalamt ein Rekordhoch bei der politisch motivierten Kriminalität festgestellt. Im Vergleich zum Vorjahr wurden 23 Prozent mehr Gewalttaten verzeichnet. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Verachtung für den westlichen freiheitlich-liberalen Lebensstil sind wie Gift in Teile der Gesellschaft eingedrungen und die Hemmschwelle dessen, was aggressiv geäußert wird, ist insgesamt gesunken. Deutschland hat sogar wieder Morde aus politischen Motiven zu beklagen. Es ist ganz klar: Hier muss sich der Rechtsstaat als handlungsfähig gegen alle erweisen, die unsere Demokratie mit Gewalt bedrohen. Es geht also auch im Inneren nicht ohne Entschlossenheit. Auch hier gilt es zu verteidigen, was uns am Herzen liegt.

Warum aber sehen wir in fast allen liberalen Demokratien eine Entwicklung zu Distanz und Ablehnung der offenen Gesellschaft? Gründe für diese Entwicklungen dürfte es mehr als nur einen geben, aber ein äußerst wirkmächtiger scheint mir der umfassende und schnelle Wandel in der Welt zu sein. Diese verändert sich in einer Geschwindigkeit, die zuvor nicht vorstellbar war. Wir sehen uns gleich einer ganzen Reihe von umwälzenden Veränderungen globalen Ausmaßes gegenüber: Globalisierung, Digitalisierung und KI, überwältigende technologische Innovationen, Klimawandel, Migration und zuletzt die Pandemie. Derart epochale Umbrüche setzen zwangsläufig auch Ängste frei, weil sich sehr viele Menschen mit der Komplexität und Vielfalt der Probleme überfordert sehen, und bei manchen Menschen wandelt sich die Angst in Aggression. Und, um dies auch deutlich zu sagen: Einige haben durchaus den Willen, sich in Wahnwelten zu begeben. Ein kleiner, aber besonders radikaler Teil, stellt sich gar aktiv gegen unsere freiheitlich-demokratische Ordnung. Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger allerdings widersetzt sich dem Angriff auf unsere Demokratie, in dem sie weder dem Hass noch den populistischen Verführern folgen. Und so sage ich, dass die Stabilität unserer Demokratie nicht ernsthaft in Frage steht.

Frustration, Kritik und Wut in Deutschland haben zumindest bislang nicht zu einer mehrheitlichen Unterstützung radikaler Parteien geführt. Wir sollten uns bewusst machen: Diese, unsere Demokratie ist von sich aus stark. Sie muss allerdings ihre Wehrhaftigkeit und ihre Effektivität neu unter Beweis stellen. Nicht wenige Bürger sind enttäuscht von der liberal-demokratischen Ordnung, weil sie mehr von ihr erwartet haben, und weil sie ihr immer noch mehr zutrauen als das, was sie augenblicklich leistet. Aber trotzdem setzen sie ihre Hoffnungen nicht nur auf zivilgesellschaftliche Aktionen, Bewegungen und Proteste, sondern immer wieder auch auf Wahlen. Mögen Wahlen von manchen auch als unzureichende Partizipationsmöglichkeit kritisiert werden, so zeigt sich doch auch, dass sie zu aktivieren vermögen; sie nähren die Hoffnung auf bessere Ergebnisse für die jeweils präferierte Partei.

Sie wecken die Hoffnung auf neue Koalitionen und damit neue politische Prioritäten. Sie wecken die Hoffnung auf beständige Erneuerung.

Ich sehe zudem eine erstaunlich positive Entwicklung in Deutschland, die ich noch vor kurzer Zeit nicht zu prognostizieren gewagt hätte: Radikale Parteien haben bei den letzten Wahlen auf Bundes- und Landesebene schwach abgeschnitten, in der Landtagswahl in Schleswig-Holstein ist die AfD sogar unter der 5%-Hürde geblieben. Mein Eindruck ist, dass unsere Gesellschaft in Krisen auch wachsen kann. Mag die Fragilität der Parteienlandschaft auch zugenommen und die Bindung an Parteien abgenommen haben, mag in der Öffentlichkeit und in den sozialen Netzen auch häufig Unvernunft und destruktives Gebaren zutage treten, so sehe ich doch insgesamt eine starke Bereitschaft zum Engagement, zur ehrenamtlichen Tätigkeit, generell auch ein großes politisches Interesse. Und nicht zuletzt sehe ich eine gestiegene Bereitschaft in weiten Teilen der Gesellschaft, nicht den Ängsten zu folgen, und sich weder hier zu Lande noch in den anderen Teilen Deutschlands von den inneren und äußeren Feinden der Demokratie vereinnahmen zu lassen, sondern mutig für die Freiheit in unserem Land, in Europa und in der Ukraine einzustehen.

Und wir brauchen sie, die engagierten, aktiven Bürgerinnen und Bürger, die unserer Demokratie nicht nur im Vorbeigehen als Konsumenten begegnen, sondern die diese Demokratie mit ihren Möglichkeiten, in unser aller Sinne mitgestalten wollen. Bürgerinnen und Bürger, die selbst bereit sind Verantwortung zu übernehmen, egal ob in Vereinen, auf lokalpolitischer Ebene, in Nichtregierungsorganisationen, Parteien oder anderen Bündnissen und Bewegungen - sie alle stärken das Fundament unserer Demokratie. Wir als Bürger der Zivilgesellschaft stehen immer neben den Institutionen des Rechtstaates, wenn die Feinde der Demokratie bekämpft werden müssen. Und wir wollen uns diese Kultur der aktiven Zivilgesellschaft nicht nur erhalten, wir wollen sie ausbauen und fördern.

Ich weiß, dass die großen globalen Herausforderungen und Russlands Krieg für uns Zumutungen mit sich bringen. Ich weiß, dass es nicht allen Teilen der Bevölkerung leichtfällt, sich dem Wandel und dem Fortschritt zu stellen und dabei die Risiken nicht zu fürchten. Ich weiß, dass die Folgen von Sanktionen, von Wohlstandsverlusten und Inflation nicht gleichmäßig auf alle Schultern verteilt ist und es zuerst die Schwächsten in unserer Gesellschaft trifft. Ich weiß um die Macht der Ängste. Ich weiß aber auch um die Kraft, die in den Menschen wächst, wenn sie als Bürger verantwortlich, mutig und solidarisch leben. Denn einmal verweisen wir auf die Erfolge, die aus unserer sozialen Marktwirtschaft erwachsen sind, einem System, das die von Armut betroffenen unterstützt und den Stärkeren Solidarität abverlangt. Und zum anderen kann nur in unserer Gesellschaft ein zutiefst menschliches Bedürfnis gelebt werden: Menschen können frei von Zwang eigenverantwortlich ihre Gesellschaft, ihr Miteinander gestalten. Und weil sie Freiheit letztlich definieren als Verantwortung nehmen sie wahr, dass wir nur in einer Ordnung der Bezogenheit aufeinander dauerhaft erfolgreich sein können.

Sehen wir also unsere so oft hinterfragte Gesellschaft einmal aus dieser Perspektive an - und wir erblicken einen Raum der Möglichkeiten, in dem Zukunft nicht Furcht und Eskapismus auslöst, sondern realitätsbasierte Zuversicht, Selbstvertrauen und Mut.

Und so möchte ich schließen: Dankbar nehme ich den Preis an, der mir und vielleicht auch Ihnen Anerkennung und Ansporn zugleich ist.