Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Handelskammer Hamburg

Menü Suche

©Kati Jurischka / Handelskammer Hamburg

Rede bei der Handelskammer Hamburg

08. Juni 2022, Hamburg

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.


Sieben Jahre ist es her, dass ich Ihnen hier im Börsensaal zu einem besonderen Jubiläum gratuliert und das Wirken der Handelskammer gewürdigt habe. Ich freue mich, heute wieder bei Ihnen sein zu dürfen. Sieben Jahre ist ja angesichts einer Historie der Hamburger Handelskammer von über dreieinhalb Jahrhunderten ein relativ überschaubarer Zeitraum. Und doch wird mir wohl niemand widersprechen, wenn ich feststelle, dass sich zwar weniger die Welt selbst, aber doch unser Blick auf diese sich ganz fundamental gewandelt hat, und weiter wandeln wird.

Wir alle stehen seit dem 24. Februar 2022 unter den Eindrücken eines brutalen Okkupationskrieges Russlands gegen die Ukraine. Die allermeisten haben diese Kriegsgräuel mitten in Europa im 21. Jahrhundert für unvorstellbar gehalten. Doch ein gewissenloser Diktator hat der Ukraine diesen Krieg aufgezwungen und zielt damit auch auf alle freien, demokratischen Gesellschaften, die ihr Schicksal selbst gestalten wollen. Die ukrainischen Frauen und Männer, die sich tapfer gegen den Angriffskrieg stellen, zeigen, dass sie frei und eigenständig bleiben wollen. Niemandes Untertan. Putin hingegen will die ukrainische Nation, die nationale Identität auslöschen. Vom ersten Tag an richtete sich sein Feldzug unterschiedslos gegen Soldaten und Zivilisten, die getötet, verwundet, vertrieben, verschleppt oder vergewaltigt werden.
Niemand weiß, wie weit Putins Ambitionen bei der Wiedererrichtung eines großrussischen Imperiums reichen. Niemand kann sagen, dass Übergriffe auf Polen oder die baltischen Staaten - oder etwa weitere Angriffe auf Georgien oder Moldawien - in Zukunft ausgeschlossen sind. Und darum geht es in diesem Krieg nicht ausschließlich um die Ukraine, es geht zugleich um unsere nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen. Letztlich gilt Putins Krieg der gesamten freien Welt, der liberalen Demokratie und der Selbstbestimmung der Völker. Wirklichen Frieden in Europa kann es nur daher geben, wenn die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Ich möchte dies ganz klar sagen: Wenn es Putin gelingen würde, einem großen Land das Recht auf Selbstbestimmung, auf Souveränität und auf territoriale Integrität zu nehmen, wäre die Stabilität Europas einer andauernden Bedrohung, einer ernsthaften Gefährdung ausgesetzt.

Wenn wir also der Ukraine politisch, finanziell und auch militärisch beistehen, dann ist dies nicht nur ein Ausdruck unserer Solidarität, sondern auch der Selbstachtung, der gemeinsamen Achtung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Ich bin den Städten Kiew und Hamburg und ihren Bürgermeistern sehr dankbar, dass sie dies gemeinsam mit dem „Pakt für Solidarität und Zukunft“ so deutlich zum Ausdruck bringen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
die schrecklichen Bilder aus Butcha, aus Mariupol und aus vielen anderen Orten der Ukraine zwingen uns dazu, die Welt im Osten nun endlich so zu betrachten, wie sie ist und nicht nur so, wie wir sie uns erhoffen. Dabei offenbart der Blick zurück: Fast alle haben sich geirrt, - oder sollte ich besser sagen: wollten sich irren – als sie glaubten, Stabilität und Frieden hätten endgültig Vorrang gewonnen gegenüber imperialem Machtstreben. Stattdessen haben wir uns leichtgläubig und auch nicht uneigennützig dem Glauben hingegeben, dass wirtschaftliche Verflechtung automatisch zu Liberalisierung und Annäherung mit Putins Russland oder auch anderen autokratischen Staaten führen würden. Dieses Bild scheint in der Rückschau als eine geschönte Realität. Und dies gilt nicht nur hinsichtlich des Krieges in der Ukraine, der genau genommen schon Jahre früher begonnen hat mit den „grünen Männern“ im Donbas und der
Besetzung der Krim. Bereits das vergangene Jahrzehnt war gekennzeichnet von zunehmender Gewalt und Risiken. So hat sich die Zahl der bewaffneten Konflikte zwischen Staaten von 31 im Jahr 2010 auf 56 im Jahr 2020 nahezu verdoppelt. Verdoppelt hat sich im selben Zeitraum auch die Zahl der Flüchtlinge, die der UNHCR Ende 2020 auf über 82 Millionen und aktuell sogar auf bis zu 100 Millionen schätzt. Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI belegt in seiner jüngsten Studie eindrücklich, wie diese Zunahme von Gewalt und Flüchtlingen mit der Verschlechterung unserer Umwelt als Folge des Klimawandels und der Überbeanspruchung unserer natürlichen Lebensgrundlagen korreliert.

Niemand kann mehr leugnen, dass bereits genau das passiert, wovor seit Jahren gewarnt wird: In Folge der Klimakrise werden gewaltsame Konflikte, Kämpfe um Ressourcen und damit die Zahl der flüchtenden Menschen vor Gewalt, Hunger und Not zunehmen. Ein kleinerer Kreis von Experten hat auch schon seit vielen Jahren davor gewarnt, dass die Gefahr von Zoonosen und daraus folgenden Pandemien in den letzten Jahrzehnten beständig gestiegen ist. Die Gründe auch hier: Der achtlose und wenig nachhaltige Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen und deren zunehmende Zerstörung. Seit SARS Covid 19 ist nun den Allermeisten bewusst, welche Gefahren von einer Pandemie ausgehen. Aber nicht nur das: Uns wurde auch schlagartig vor Augen geführt, welchen Risiken unsere vernetzte Welt ausgesetzt ist, wenn Lieferketten zusammenbrechen, wenn die Versorgung mit den notwendigsten Gütern
nicht sichergestellt ist und wir feststellen müssen, wie abhängig wir uns vom Wohlwollen autokratischer Staaten gemacht haben.

Sowohl die Pandemie als auch die Klimakrise machen deutlich, dass wir über alle Grenzen hinweg mehr Kooperation und Zusammenarbeit brauchen, um diese gut zu bewältigen. Wir haben auch gesehen, wozu Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in einer krisenhaften Situation in der Lage sind, wenn sie international vernetzt zusammenarbeiten. Tatsächlich haben aber die allermeisten Staaten zunächst nationalen Prioritäten gesetzt und entsprechend agiert. Es wurde sogar deutlich, dass manch systemischer oder ideologischer Unterschied nur schwer oder gar nicht überwindbar ist. Wer sich davon und vom aktuellen Zustand der Globalisierung ein eindrückliches Bild machen möchte - und gerade hier in Hamburg wird dies sicherlich mit großer Sorge öfters getan -, der kann dies auf verschiedenen Schiffstrackingseiten machen. Dort sieht man hunderte Schiffe, die vor den großen Häfen der Welt vor Anker liegen. Die Lebensadern der globalen Handelsströme sind teilweise verstopft und werden es wohl auch noch länger bleiben. Und als würde es nicht schon genug Gründe geben, mit Sorge auf die globalisierten Handelsbeziehungen zu schauen, erleben wir in diesen Tagen wie Russland nicht nur versucht die Ukraine brutal zu unterjochen, sondern auch, wie es eine drohende Hungersnot zur Waffe macht und darauf spekuliert, dass eine Zunahme von Flüchtlingen die Europäische Union destabilisiert. Das Fazit ist ernüchternd: Mit der zunehmenden Vernetzung der Wirtschaft gingen nicht nur Wohlstandsgewinne für unser exportorientiertes Land einher. Es entstanden auch Abhängigkeiten, die sich nun als Gefahr für unsere Sicherheit und unseren wirtschaftlichen Erfolg erweisen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
bei meiner letzten Rede in diesem Saal habe ich über Werte und über Haltungen gesprochen, die das Wirken der Handelskammer seit ihrer Gründung kennzeichnen und sich über die Jahrhunderte als so widerstandsfähig erwiesen haben, dass sie sich in die Moderne übersetzen lassen und uns auch heute Orientierung geben können. Daran möchte ich anknüpfen und zwei Punkte im aktuellen Lichte betrachten: Erstens das Bekenntnis zu Freiheit, Weltoffenheit und Freihandel und zweitens den Willen zur Gemeinwohlorientierung, den bereits Prof. Meynhardt soeben für uns beleuchtet hat und dem Sie sich selbst verpflichtet haben, ja sogar eine Untersuchung eingeleitet haben, wie Sie diese noch stärker und besser machen können, wofür ich dankbar bin und hoffe, dass Ihnen auch andere folgen werden. In den Jahrhunderten seit der Gründung der „Commerz Deputation“ 1665 war unsere Geschichte reich an Irrungen und ideologischen Verblendungen, was das Zusammenwirken von Wirtschaft und Staat anbelangt. Gleichwohl entwickelte sich hier in Hamburg und andernorts eine wirtschaftsethische Maxime für die der „ehrbare Kaufmann“ zum Synonym wurde. Der ehrbare Kaufmann weiß, dass nicht alles was
rechtens ist, auch ehrbar ist. Er übernimmt Verantwortung für sich und für andere. Eine Haltung auf die aufgebaut werden konnte, als im Westen Deutschlands nach dem Ende des zweiten Weltkriegs eine neue Art des Zusammenwirkens von Staat und Wirtschaft entwickelt werden musste. Es entstand eine Ordnung, in der der Staat keine dominierende Rolle in der Wirtschaft spielt und so viel wie irgend möglich dem freien Spiel des Wettbewerbs überlässt – sich dabei allerdings das Setzen der Regeln selbst zur Aufgabe macht. Eine Ordnung, die den Einzelnen weder einer staatlichen Bevormundung unterwirft, noch ein Markt, auf dem die Starken so groß werden können, dass sie selbst die Regeln bestimmen. Soweit zumindest Theorie und Anspruch. Dass das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft und ihr Zusammenwirken zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger viel komplexer und störanfälliger ist, wissen wir nicht erst seit gestern. Bereits in der Finanzkrise konnten wir erleben, dass dem Markt eine selbstzerstörerische Kraft innewohnt, die es durch das konsequente Setzen und Überwachen von Regeln einzudämmen gilt. Dies gilt auch dann, wenn die Märkte über Grenzen und Wirtschaftsräume hinausreichen. Es ist fatal, wenn ordnungspolitische Aufgaben nicht wahrgenommen werden, weil deren Komplexität das gewohnte Maß übersteigt, oder wenn geo- und sicherheitspolitische Interessen in der notwendigen Abwägung mit wirtschaftspolitischen Interessen ignoriert werden. Was uns im Zusammenhang mit diesem Komplex nachhaltig verstören sollte, ist, dass die Warnungen von Experten,Partnern und Verbündeten im Zusammenhang mit Nord Stream 2, an denen es wahrlich nicht gemangelt hat, so konsequent ausgeblendet werden konnten.

Heute kann es zumindest niemand mehr leugnen: Die einseitige Abhängigkeit von russischen Energieimporten hat unsere Gesellschaft und unseren Wohlstand mit einer Hypothek belegt, die nun mit einem Schlag fällig wird. Man könnte es aus kaufmännischer Sicht auch so formulieren: Unsere Sicherheit und Freiheit war lange Zeit in den billigen Energieimporten nicht eingepreist. Das Bitterste daran ist, dass nicht wir, sondern die Menschen in der Ukraine den höchsten vorstellbaren Preis dafür zahlen. Die Verantwortung für diesen Krieg und dieses unnötige Leid tragen Russland und sein Diktator. Gleichwohl ist es in unserer Verantwortung aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen - dies gilt für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen. Als Gesellschaft müssen wir wieder neu lernen, dass die Freiheit verteidigt werden muss. Wir können nicht mehr darauf hoffen, wie es nach der Friedlichen Revolution und dem Ende des Ost-West-Konflikts mit dem imaginierten „Ende der Geschichte“ möglich erschien, eine dauerhafte Friedensdividende einstreichen zu können. Dies ist für jemanden aus meiner Generation, der noch im Krieg geboren ist und erleben durfte, wie es ist, Freiheit erst erringen zu müssen, besonders schmerzlich.

Ich kann mich aber noch sehr gut daran erinnern, wie sich das Leben als Untertan anfühlt. Diese Erinnerung teile ich mit vielen Menschen in Mittel- und Osteuropa und uns eint der Wille, nicht erneut zum Vasallen einer fremden Macht zu werden. Es ist also mitnichten ein leeres Bekenntnis, wenn ich Ihnen sage: Unsere Demokratie muss eine wehrhafte Demokratie sein. Dazu gehört neben gut ausgerüsteten und schlagkräftigen Streitkräften auch die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu erkennen, dass wir in Europa nicht nur von Freunden umgeben sind. Russland zwingt uns seine Feindschaft auf, weil es in unserer freiheitlichen, liberalen Demokratie eine Bedrohung für sich selbst imaginiert. Dies zu erkennen und mit der zentralen Lehre aus unserer Geschichte „Nie wieder Krieg!“ zu verbinden, bedeutet, dass es keinen Zweifel an unserer Solidarität, an unserem militärischen Beistand der
Ukraine geben darf. Welche Lehren muss die Politik ziehen? An erster Stelle: Die Vorstellung Wandel sei durch Handel durchzusetzen, war allzu optimistisch. Die Vorstellung, dass die durch den Handel erwirtschafteten Gewinne den Gesellschaften auf beiden Seiten gleichermaßen zugute kommen, vielleicht sogar in den nicht-demokratischen Staaten eine selbstbewusste und freiheitsorientierte Mittelschicht heranwachsen lassen, hat
sich als Illusion erwiesen. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir im Falle Russlands ganz genau wussten, wohin die Gewinne flossen und immer noch fließen. Sie wurden teils vom Staat direkt abgeschöpft und zur Aufrüstung und Befüllung der Kriegskasse genutzt und teils im kremltreuen Oligarchennetzwerk verteilt. Ob ein kurzfristiger Wohlstandsgewinn ein solches Geschäftsmodell mit skrupellosen Diktatoren rechtfertigt, müssen sich Unternehmen und Politik immer wieder neu fragen. Klar ist aber auch: Deutschland ist und bleibt eine auf Export orientierte Nation. Wir haben daher ein großes Interesse an einem möglichst freien Handel auf der ganzen Welt. Daher müssen wir uns auch zukünftig für eine Weltordnung engagieren, die Frieden und Wohlstand sichert, in der das Völkerrecht und die Menschenrechte geachtet werden und nicht das Recht des Stärkeren gilt.

Internationaler Handel kann so organisiert werden, dass er allen Beteiligten zugute kommt – denken wir an die EU-Freihandelszone. In einer Welt, in der sich wirtschaftliche und politische Machtgefüge zunehmend verschieben, kann aber auch die Diplomatie Lösungen nur aus einer Position der Stärke entwickeln. Auch aus diesem Grund sind wir gut beraten, in unsere Bündnisse zu investieren und ein guter und verlässlicher Partner in NATO und EU zu bleiben. Gemeinsam mit unseren Partnern müssen wir nun auch dringend eine kohärente Strategie gegenüber unserem größten Außenhandelspartnern China entwickeln. Es ist hoffentlich noch nicht zu spät, den selben Fehler, den wir gegenüber Russland gemacht haben, nicht noch einmal zu wiederholen. Denn nicht erst seit den jüngsten Veröffentlichungen über die brutalen und schockierenden Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber den Uiguren sollte uns bewusst sein, mit was für einem System wir Geschäfte machen. Es sollte uns beunruhigen, dass große Teile unserer Schlüsselindustrie, die Automobil-, die Elektro- und die Chemiebranche in so hohem Maße vom chinesischen Markt abhängig sind. Und so liegt es schließlich auch in der Verantwortung der Wirtschaft, in Ihrer Verantwortung, sehr geehrte Damen und Herren, mit mehr Realismus und Weitblick auf die Welt zu schauen. Nicht jedes Geschäft, das kurzfristige Gewinne verspricht, wird sich langfristig als lohnende Investition erweisen. Es macht eben doch einen Unterschied, mit wem man unter welchen Bedingungen Handel treibt. Es wäre für unsere exportorientierte Wirtschaft fatal den Kopf jetzt in den Sand zu stecken. Aber wer nachhaltig erfolgreich sein will, nimmt die zunehmenden Unsicherheitsfaktoren frühzeitig in den Blick, prüft kritisch seine Lieferketten und setzt sich für gute und faire Arbeitsbedingungen auch fernab der Heimat ein. Ich bin überzeugt, dass jeder ehrbare Kaufmann, jede ehrbare Kauffrau einen Unterschied machen kann, wenn sie sich dafür einsetzen, was den Kern unseres Erfolgs ausmacht: die Freiheit des Handels, die verbunden ist mit der Freiheit des Menschen und der freiheitlichen Demokratie. Diesen inneren Zusammenhang zu erkennen, hat uns unsere eigene Geschichte gelehrt. Dazu zählt die Erkenntnis: Die freiheitliche Wirtschaftsordnung und die Demokratie legitimieren und bedingen sich gegenseitig – sie können sich aber auch gegenseitig beschädigen. Dieser Wechselbeziehung sollten sich also Alle bewusst sein, die in aktuellen Debatten entweder nach einem allmächtigen Staat rufen, der den Markt umkrempelt und uns im Alleingang von den großen Krisen unserer Zeit befreit oder die allein im freien Spiel der Kräfte die Lösung für alle gegenwärtigen Probleme sehen. Wie schnell dieses innere Gefüge von der Freiheit der Menschen und der Freiheit in der Wirtschaft ins Wanken gerät, zeigen die Wahlerfolge von anti-liberalen und teils anti-demokratischen Bewegungen in zahlreichen westlichen Demokratien.

Besonders mit Blick auf Nord- und Südamerika Afrika, aber auch einige Länder Europas, zeigt sich: Wer sich abgehängt fühlt, wer meint keine faire Chance auf Teilhabe mehr zu haben, der hat nicht mehr zwangsläufig ein Interesse am Fortbestand der bestehenden Ordnung und bringt dies dann auch bei seiner Wahlentscheidung zum Ausdruck. Wohin eine solche Entwicklung in einer Demokratie führen kann, konnten wir unter der Trump-Administration beobachten. Dann wird das Heil häufig auch in wirtschaftlicher Abschottung und nationalistischer Isolation gesucht. Das kann sich ja nun wirklich niemand wünschen!

Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin überzeugt: Das Bekenntnis der Hamburger Kaufleute zu Freiheit, Weltoffenheit und Freihandel hat auch in Zeiten des Wandels, in Zeiten zunehmender Krisen und Unsicherheiten Zukunft, wenn es verbunden wird mit Entschlossenheit, Realitätssinn und dem Willen zur Nachhaltigkeit. Entschlossen müssen wir für die Freiheit der Menschen, für die liberale Demokratie und den freien Handel eintreten. Und mit Realitätssinn wollen wir auf die Welt blicken und uns gemeinsam - das heißt Gesellschaft, Politik und Wirtschaft - die Lehren der Vergangenheit zu Herzen nehmen. Gemeinsam gilt es unser Land und unsere Wirtschaft noch krisenfester, noch nachhaltiger zu gestalten und zwar sowohl mit Blick auf die sich verschärfende Klimakrise als auch für den zunehmenden Wettbewerb der unterschiedlichen politischen Systeme. Dazu zählen die ehrlichen Debatten darüber, wie wir es zeitnah schaffen, uns unabhängig von Energielieferungen zu machen und gleichzeitig entschlossen der Klimakrise zu begegnen. Und wie wir sicherstellen, dass unsere Sicherheit auch dann gewährleistet ist, wenn demnächst wieder Trump im Weißen Haus sitzt. Über allem steht die Frage: Wie erwirtschaften wir zukünftig unseren Wohlstand ohne in
eine erneute Abhängigkeitsfalle, dieses Mal in die Chinesische zu geraten? Grundlage unserer Unabhängigkeit, unseres Wohlstands und unserer Sicherheit ist und bleibt jedenfalls eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Nur mit ihr lässt sich der systemische Wettbewerb mit anderen Gesellschaftsmodellen aufnehmen und gewinnen. Wenn wir also in einem ersten Schritt gemeinsam anerkennen, dass wir uns zu China in einer systemischen Konkurrenz befinden, dann lassen sich daraus Anpassungsstrategien entwickeln. Gleichzeitig haben wir im transatlantischen Raum und weit darüber hinaus eine ganze Reihe von potenten Partnern, mit denen wir unsere Werte teilen und verlässlich wirtschaften können.

Trotz aller Brexit-Häme sollte es uns besorgen, dass das Vereinigte Königreich als Handelspartner so stark an Bedeutung verliert. Und wir sollten gemeinsam eine neue und ehrliche Debatte darüber wagen, wie wir den freien Handel innerhalb der westlichen Welt und der Demokratien steigern können. Es braucht an dieser Stelle eine neue Initiative für Freihandelsabkommen. Und für mich ist ganz klar: Chlorhühnchen sind weniger bedrohlich als IT-Technik aus China oder russische Gas-Importe.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe es bereits angesprochen, möchte es aber noch einmal in seiner Bedeutung hervorheben: Die Bewältigung der Herausforderungen, die uns in dieser Zeit des Wandels auferlegt werden, gelingt nur, wenn wir sie gemeinsam und mit Gemeinsinn angehen. Damit komme ich zur zweiten Haltung, die sich aus der langen Geschichte der Hamburger Handelskammer in die Zukunft übersetzen lässt: Das Bekenntnis zur Gemeinwohlorientierung. Es gehört seit jeher zu den Bedürfnissen der allermeisten Menschen, sich frei von Zwang aus eigener Verantwortung für die Gemeinschaft einzusetzen, das Miteinander zu gestalten. Wer so seine Freiheit nutzt, um Verantwortung auch für das Wohl der Gemeinschaft zu übernehmen, wirkt mit an einer Ordnung der Bezogenheit, die unsere Gesellschaft erfolgreich macht. Schritt für Schritt hat sich in den letzten Jahrhunderten der Raum erweitert, in dem diese Form der Bezogenheit gelebt werden kann und muss. Zunächst auf die Familie beschränkt, war es zur Gründungszeit der Handelskammer die Stadtgemeinschaft, später die Nation, die als Bezugsgröße für die Gemeinwohlorientierung galt. Hier in Hamburg lässt sich gut beobachten wie das Netzwerk der Engagierten und Solidarischen ausgehend von der organisierten Kaufmannschaft immer weiter gewachsen ist. Mit seinen vielen und vielfältigen Stiftungen gilt Hamburg nicht umsonst als Hauptstadt des deutschen Mäzenatentums.

Lieber Bürgerinnen und Bürger der Freien und Hansestadt Hamburg, ein so breites Netzwerk von zivilgesellschaftlich engagierten Menschen ist
für mich der schönste Ausdruck von in Verantwortung gelebter Freiheit und bringt diese Stadt auch bei Schietwedder zum Strahlen. Nicht nur nebenbei: Es stärkt auch die Abwehrkräfte gegen das Gift der Populisten und den Wahn der Verwirrten. Hier in Hamburg, dem Tor zur Welt, sehen wir deutlich, dass sich in den letzten Jahrzehnten der Bezugsrahmen abermals erweitert hat und gleichermaßen gilt: Wer von den erweiterten Möglichkeiten einer globalisierten Welt dauerhaft profitieren möchte, muss auch für das Gemeinwohl über die eigenen Grenzen hinaus Verantwortung übernehmen. Zum realistischen Blick auf die Welt gehört auch die Feststellung: Die Notwendigkeit Verantwortung zu übernehmen, steigt je größer wir die Kreise ziehen, aber das Gefühl der Bezogenheit aufeinander kann oft nicht Schritt halten. Im Gegenteil: Krisen, Kriege und der Wettbewerb der verschiedenen politischen Systeme, bedrohen dieses Gefühl.. Was bedeutet dies konket? Der Handlungsdruck zur Lösung ist dort am größten, wo das Verantwortungsgefühl und auch die tatsächliche politische Verantwortung - etwa gegenüber der eigenen Wählerschaft - gegeben ist. Dem globalen Gemeinwohl verpflichtete Politik steht kurzfristig sogar vor dem Dilemma, nationales gegenüber globalem Gemeinwohl abwägen zu müssen. Zum Beispiel wenn sie entscheidet, russische Energielieferungen zu boykottieren oder CO2-Emmissionen effizient zu besteuern. Umso wichtiger ist es nun, sich entschlossen zu dem zu bekennen, was uns
ausmacht. Es liegt in unserer Hand bei vielen Fragen, die das Wohl unserer globalen Gemeinschaft anbelangen, mutig den ersten Schritt in eine nachhaltigere Zukunft zu machen und wenn notwendig, Regeln zu setzen und auf deren Einhaltung zu bestehen. Nicht als Besserwisser, sondern gestützt auf einen realen Erfahrungsschatz: wir können uns auf uns und unsere soziale Marktwirtschaft verlassen, in der Wohlstandzuwachs beständig verbunden war mit Solidaritätsleistungen gegenüber den Schwachen und Armen. Unsere Erfahrungen
lehren uns auch, dass wir das Nichthandeln mehr fürchten sollten als den selbstbewussten Wettbewerb mit denen, die das Recht und die Freiheit nicht achten. Wir aber werden erfolgreich sein, auch weil neben unseren wirtschaftlichen Erfolgen, neben der Fähigkeit zu sozialem Ausgleich ein wirksamer Korrekturmodus existiert – unsere Demokratie ist ein lernendes System; Fehler werden nicht verschwiegen, sondern benannt und korrigiert. Deshalb dürfen wir mit Zuversicht und Selbstvertrauen weiter an das Gelingen glauben. Gerade in Kriegs- und Krisenzeiten
lassen wir uns diesen Glauben nicht nehmen.