Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Kaufbeuren

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck in Kaufbeuren

11. September 2022, Kaufbeuren

Änderungen vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

Ihrer schönen Einladung nach Kaufbeuren zur Feier von „75+1 Jahren Neugablonz“ bin ich sehr gerne gefolgt! Einige von Ihnen wissen es vielleicht: Obwohl ich ein Mensch von der Küste, zudem noch aus dem Osten bin, besuche ich den Freistaat Bayern überaus gerne. Dafür gibt es mehrere Gründe, aber der wichtigste ist, dass ich mich bei Ihnen zuhause fühle. Das wiederum liegt vor allem an den Menschen: Ich bin in Bayern häufig umgeben von Menschen, die Dinge anpacken und Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen – Menschen wie Sie, die Sie hier heute in Neugablonz versammelt sind.

Dieser herzliche – und mir so besonders sympathische – bayerische Charme, den Ihr Fest ausstrahlt, zeigt eine lebendige Gemeinschaft und eine Verbundenheit unterschiedlicher Menschen. Es ist eine in Deutschland einmalige Erfolgsgeschichte, die sich hier nach den Schrecken des zweiten Weltkriegs ereignet hat: Insgesamt 10.000 Menschen aus Böhmen im Norden der heutigen Tschechischen Republik ließen sich damals auf einem trostlosen Trümmerfeld nieder und verwandelten es in einen prosperierenden Industriestandort. Die aus den deutsch besiedelten Gebieten vertriebenen Sudetendeutschen gelten heute als der vierte Stamm in Bayern und zählen wie die Altbayern, Schwaben und Franken fest zur bayerischen Heimat. Die Vertriebenen aus Gablonz an der Neiße, das jetzt Jablonec nad Nisou heißt, schufen in Neugablonz mit Unterstützung der heimischen Bevölkerung und Regierenden ein neues Zuhauses und ließen eine neue Art der Heimatverbundenheit wachsen. Heute leben in Neugablonz verschiedene Generationen, Volksgruppen und Nationalitäten ganz selbstverständlich zusammen. Aktuell erfreut sich der Stadtteil, wie ich höre, bei jungen Familien an Beliebtheit. Wie es zu dieser Erfolgsgeschichte kam, das wollen wir in Erinnerung rufen. Dass es so kam, das wollen wir würdigen. 

Der Oberbürgermeister hat es erwähnt: Sie feiern in diesen Tagen im Rahmen des „Neugabiläums“ gleich mehrere Jubiläen, die Stadtteilgründung steht dabei im Mittelpunkt. Mehr als sieben Jahrzehnte ist es her, dass etwa 14 Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Pommern, dem Sudetenland und Schlesien vertrieben wurden oder flohen. Ob die weitere „Reise“ in den Westen oder in den Osten Deutschlands ging, entschied der Zufall. Die etwa 3 Millionen Sudetendeutschen landeten nicht nur in Bayern, sondern auch in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR. Der Großteil wurde aufs Land geschickt und in vielen Dörfern Mecklenburgs gab es fortan mehr Fremde als Einheimische. Ich selbst weiß noch sehr gut, wie fremd uns in Mecklenburg die Sudetendeutschen waren – mit ihrer für mich merkwürdigen Sprache, ihren Trachten, ihrem Katholizismus – das war sehr ungewöhnlich und hat zunächst Distanzierung hervorgebracht.

Zwischen 1946 und 1950 kamen auch etwa 1,2 Millionen Sudetendeutsche im Freistaat Bayern an. Und Neugablonz gilt dabei als größte zusammenhängende Vertriebenen-Siedlung Deutschlands. Diese Menschen standen vor einem wirtschaftlichen und persönlichen Neuanfang: in Gegenden, die sie nicht kannten, unter Menschen, die eine andere Mundart sprachen, in einem Land, das nach einem verlorenen Krieg völlig zerstört war.

Die Skepsis der Einheimischen war groß. Der damalige bayerische Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und auch die US-amerikanische Militärverwaltung wollten geballte Neuansiedlungen verhindern und befürchteten, dass ein „Ghetto der Vertriebenen“ entstehen könnte. Es galt das Ziel der Assimilierung. Zerstreuung der Vertriebenen aus Gablonz, das hätte jedoch das Aus für die Gablonzer Schmuckindustrie und Glasherstellung bedeutet, die auf die Zusammenarbeit mehrerer Klein- und Kleinstbetriebe im Verbund angelegt war. Eben dieses wirtschaftliche Potenzial sollte jedoch nicht ungenutzt bleiben und das erkannten auch einzelne Industrielle und sudetendeutsche Wirtschaftsfachleute. Viele hier werden den Namen von Erich Huschka kennen, der als Sohn eines Glaswarenerzeugers in Neudorf bei Gablonz aufwuchs. Der Luftwaffeningenieur erlebte das Kriegsende in der Nähe von München und ihm wurde schnell klar, welches Schicksal seinen Landsleuten in der Heimat drohte. Die Vertreibung schien das Ende für das traditionsreiche Netzwerk der Gablonzer Glas- und Schmuckwarenindustrie zu bedeuten.

Man kann das Wirken Huschka rückblickend als visionär und erfindungsreich bezeichnen: Gemeinsam mit einigen Mitstreitern entwickelte er Pläne für eine möglichst weitgehende Ansiedlung der Gablonzer und ihrer Industrie in Bayern – trotz der Widerstände. Dies glückte durch geschicktes Agieren gegenüber bayerischen und amerikanischen Dienststellen und mündete im Juli 1946 im Abschluss eines Pachtvertrags.

Die Startbedingungen waren schwierig: Die deutschen Vertriebenenstädte, die nach 1945 neu gegründet wurden, befanden sich auf dem Gelände ehemaliger Sprengstofffabriken oder Munitionsanstalten, die versteckt im Wald lagen. Das galt auch für das „neue Gablonz“. Das Gelände mit seinen vielen zerstörten Bunkern musste zunächst neu erschlossen werden. Die ersten Unterkünfte fanden die Neuankömmlinge in den ehemaligen Baracken der Zwangsarbeiter der Munitionsfabrik. Für die Neugablonzer war das Finden einer neuen Heimat nicht nur eine Sache des Herzens, sondern auch eine bewusste Willensentscheidung.

Aber richtig heimisch zu werden, das kann dauern. Erst hält man Abstand, sucht das Vertraute. Dann kommt man mehr und mehr in Kontakt – manchmal auch in Konflikt. Und schließlich wächst die Gemeinschaft. In der Gründungszeit von Neugablonz erlebten die Siedler zunächst Zurückhaltung und Skepsis der Stammbevölkerung. Der spätere Kaufbeurer Stadtrat Dr. Fritz Enz, der an der Entstehung des Gablonzer Hauses mitwirkte, vor dem wir uns hier versammeln, blickte in einem Interview einmal so auf diese Zeit zurück: „Wenn sich auch die bodenständige Bevölkerung im Anfang begreiflicherweise reserviert verhielt, erkannte sie doch rasch, welch volkswirtschaftlicher Wert in den nach Arbeit und Verdienst drängenden Gablonzer Fachkräften steckte.“ So brachten die Frauen und Männer aus dem Sudetenland handfeste Talente mit, um die deutsche Nachkriegswirtschaft zu entwickeln. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die Gablonzer Schmuckindustrie und die Glasherstellung. Schnell fertigten die Vertriebenen wieder Schmuckstücke – zunächst bemalte Wehrmachtsuniform-Knöpfe oder Broschen aus Dosenblech. Später gab es wieder Modeschmuck aus Glas. So nahm das Ostallgäuer Wirtschaftswunder seinen Lauf. Es ist kein Zufall, dass der österreichische Schmuck-Hersteller Swarovski seine Wurzeln in der Region Jablonec hat und die Deutschland-Vertretung hier in Neugablonz zu finden ist. Mit Blick auf den Freistaat insgesamt lässt sich festhalten: Die sudetendeutschen Handwerksbetriebe und Unternehmen haben Bayern mit zu Wachstum und Wohlstand verholfen.

Doch auch das Brauchtum und die Kultur – von der Volksmusik, kulinarischen Schmankerln bis zu beeindruckenden Trachten – diese Heimatliebe hat hier in Neugablonz neue Wurzeln schlagen können. Heute stehen die Sudetendeutschen für Heimatverbundenheit und sind Brückenbauer für die guten Beziehungen zwischen Tschechien und Bayern. Davon zeugen die seit über 30 Jahren bestehenden freundschaftliche Verbindungen zwischen den Blasorchestern in Jablonec und Neugablonz. Beide Kapellen gingen aus dem Blasorchester hervor, das schon 1837 im Isergebirge gegründet worden war. Seit 2009 gibt es eine Städtepartnerschaft zwischen Kaufbeuren und Jablonec. Die Annäherung und Versöhnung hat lange gebraucht – aber inzwischen funktioniert sie.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

den versöhnlichen Umgang mit Flucht und Vertreibung lernten wir in Deutschland erst mit großem Abstand: seitdem der Zweite Weltkrieg in unserem Bewusstsein angekommen ist als untrennbare Einheit von der Schuld, die die Deutschen auf sich geladen hatten, und dem Leid, das ihnen als Antwort darauf zugefügt wurde. Viele Vertriebene machten die erleichternde Erfahrung: Gerade weil sie sich zur deutschen Schuld bekannten, konnten sie bei unseren Nachbarn auch Verständnis für deutsches Leid erwecken. Und viele Söhne und Töchter erkannten: Die Empathie mit den Opfern der Deutschen – mit Juden, Ukrainern, Russen, Polen – schließt die Empathie mit deutschen Opfern keineswegs aus.

Heute können Vertriebene und ihre Nachkommen, wenn sie das wünschen, eine Wiederannäherung an die Orte ihrer Kindheit und Jugend leben, wie sie lange illusorisch schien. Seit der Eiserne Vorhang fiel und die mittelosteuropäischen Staaten der Europäischen Union beitraten, sind die Staatsgrenzen durchlässig. Nichts steht Begegnungen mit der alten Heimat und ihren neuen Bewohnern im Wege. So kann die Geschichte und Kultur der ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete in das kollektive Gedächtnis der ganzen Nation übergehen.

Hier in Kaufbeuren haben Sie sich in besonderer Weise verantwortlich gefühlt für die Menschen, die nach dem Krieg ihre Heimat verloren hatten. Sie haben die Aufbauleistung dieser Menschen gewürdigt. Auch symbolisch, indem Sie klargemacht haben, dass es nicht nur die drei bekannten Stämme gibt, sondern auch noch diesen vierten. Dies ist gelungen mit Tatkraft, Hilfsbereitschaft, Offenheit und Toleranz für eine vielfältige Gesellschaft.

Seitdem ist es vielen Menschen, aus Europa, aus der ganzen Welt gelungen, hier relativ schnell Wurzeln zu schlagen: Auf die Sudetendeutschen folgten die Gastarbeiter aus Griechenland, Italien und der Türkei. In den 90er Jahren kam es zum verstärkten Zuzug der sogenannten Russlanddeutschen und von Balkanflüchtlingen. Gefolgt von den Flüchtlingen des Jahres 2015. Immer wieder hat sich Neugablonz als Ort der Vielfalt und der gelebten offenen Gesellschaft hervorgetan. Dazu zählen die Förderung von interkulturellen und interreligiösen Begegnungen ebenso wie die Vermittlung demokratischer Grundwerte und die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Diskriminierung. Auch in der aktuellen politischen Situation bekommt Neugablonz wieder Neubürgerinnen und Neubürger – über die bereits erwähnten jungen Familien hinaus. Lassen Sie mich anmerken, dass ich Ihnen für jegliche Unterstützung der Ukraine und ihrer Menschen besonders dankbar bin. Es ist schrecklich genug, dass der russische Angriffskrieg der Auslöschung der ukrainischen Nation gilt. Noch dazu bedeutet er einen Angriff auf Demokratie und Frieden in Europa insgesamt – und damit auf alle Menschen, die diese Werte schätzen und achten. Vergessen wir also auch heute nicht die Menschen die weltweit durch Krieg, Gewalt, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen vertrieben werden. Ende 2021 lag die Zahl der Einzelschicksale weltweit auf einem Höchststand von über 89 Millionen. Seitdem hat die russische Invasion in der Ukraine eine der größten und die am schnellsten wachsende Vertreibungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Dies hat neben den sich verschärfenden Notlagen in afrikanischen Ländern, in Afghanistan und weiteren Regionen, die Zahl über den dramatischen Meilenstein von 100 Millionen steigen lassen. Diese Menschen dürfen wir auch an einem Festtag wie heute nicht vergessen. Bleiben wir solidarisch mit der Ukraine und stellen uns weiter engagiert an ihre Seite bei der Verteidigung gegen den russischen Aggressor!

Meine Damen und Herren,

wo Verschiedenheit heimisch wird, da ändert sich das Zusammenleben. Einwanderung setzt starke Gefühle frei und birgt gelegentlich auch handfeste Konflikte. Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende. Offen sein ist mitunter anstrengend. Vergessen wir nicht: Migration ist der Geschichte der Völker nicht fremd – auch der deutschen nicht. Zu Hunderttausenden suchten unsere Vorfahren einst ihr Glück in der Fremde. Viele von ihnen würde man mit der heutigen Sprache „Armutseinwanderer“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennen.

Bayern hat in der Vergangenheit bewiesen, dass unglaublich viele zugereiste Menschen hier Wurzeln schlagen können und auch neue Verbindungen schaffen. Ich finde das wirklich äußerst beeindruckend, wie sich die Gemeinschaft bei Ihnen zeigt. Das Paurische, der ostmitteldeutsche Dialekt, den die Sudetendeutschen aus Gablonz an der Neiße mitbrachten, ist hier in Kaufbeuren mittlerweile – unter „Noppern“ – ein verbindendes Element. Der Dialekt wird gepflegt. Das Heimatgefühl hat sich hier sicherlich verändert – aber in einer Art und Weise, die Neues integriert und Altes bewahrt.

Im Jahr 2021 hatten 22,3 Millionen Menschen (und somit 27,2 % der Bevölkerung) in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund. Knapp zwei Drittel (62 %) sind aus einem anderen europäischen Land Eingewanderte oder deren Nachkommen.Länder wie Bayern haben es geschafft, eine Verbindung zwischen ihrer Tradition und dem Neuem zu schaffen – nicht zuletzt durch Offenheit, Integration und Toleranz. Ich bin überzeugt: Engagierte Brückenbauer werden wir in Zukunft weiterhin brauchen, wenn wir den gesellschaftlichen Fliehkräften etwas entgegensetzen wollen, die in Ländern wie Polen oder den Vereinigten Staaten zu verhärteten sozialen Frontstellungen und feindlicher Gesinnung geführt haben. Begriffe wie Nation oder Heimat gehören allen Bürgerinnen und Bürgern – egal, wie lange sie Teil Deutschlands sind. Wir dürfen sie nicht den Reaktionären am Rand des politischen Spektrums überlassen. Auch der aufgeklärte Bürger darf seine Heimat lieben und dieser Nation mit ihrer demokratischen Gesellschaft von Herzen verbunden sein. Und so wünsche ich uns allen, dass wir von diesem wunderbaren Beispiel in Neugablonz auch ein Stück inspirieren lassen und gratuliere Ihnen ganz herzlich zum Jubiläum „75 + 1 Jahre Neugablonz“.