Festakt anlässlich des 120. Geburtstags von Ludwig Erhard
26. September 2017, Fürth
Rede von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck
120 Jahre ist es her, dass Ludwig Erhard geboren wurde und vor 40 Jahren ist er gestorben. Und wir machen uns Gedanken darüber, welche Lehren man heute aus seinem ordnungspolitischen Wirken ziehen kann.
Erst vor zwei Tagen hatten wir das, was man ein Hochamt der Demokratie nennen kann. Wir haben gewählt! Für die meisten von Ihnen ist dies ein völlig normaler Vorgang. Für Menschen wie mich, der ich lange in einer Diktatur lebte, ist es immer noch ein Fest der Freude, in freien, gleichen und geheimen Wahlen die zu bestimmen, die uns regieren sollen. Ich musste 50 Jahre alt werden, als ich das das erste Mal tun konnte. Und ich werde nie vergessen, wie das war, als ich dann aus dem Wahllokal herauskam und mir die Tränen liefen – vor Freude! Wenn ich mein Gesicht nach den Wahlen im Spiegel betrachtet hätte, wäre dies ein deutlicher Unterschied. Ich bin angekommen in den Mühen der Ebene der Demokratie und mit vielen anderen auch ein bisschen geschockt darüber, was wir uns zusammen gewählt haben. Aber gleichzeitig bin ich ein 77-jähriger Mann, ein Europäer, mit dem Blick auf das Große und Ganze, auf ein vergangenes blutiges Jahrhundert. Und in der historischen Perspektive ist das, was uns widerfahren ist bei der Wahl vorgestern, eigentlich etwas völlig Normales. Wir brauchen auch nicht in Angststarre zu verfallen oder in Hysterie, wenn neue politische Kräfte in unserem Parlament auftauchen – im Parlament einer gewachsenen und stabilen Demokratie. Sie sind umgeben von Menschen, die dem Argument mehr Raum geben als dem Ressentiment. Und so lange das so ist, dass in diesem Land dem Argument mehr Raum gegeben wird, als aufgeputschten Meinungen, Gefühlen und Ressentiments, müssen wir um die Demokratie gar keine Sorge haben!
Wenn sich die Aufregung legt und wenn das Gezerre darüber beendet ist, welches nun die geeignete Koalition sein soll, die uns künftig regieren wird, sollten wir uns klar machen, dass wir doch nach wie vor – trotz mancher Schwierigkeiten auch in Europa, sei es mit Währungen oder mit dem Einhalten von Normen, in einer Republik leben, die persönliches Glück und Fortkommen ermöglicht, die Freiheit verbindet mit Chancengerechtigkeit und sozialem Ausgleich. Und vor allen Dingen leben wir in einer Landschaft, in der das Recht nicht in der Hand derer liegt, die gerade die Macht haben.
Wir sollten uns auch daran erinnern: Dieser demokratische Segen, ist nicht wie Manna vom Himmel gefallen, sondern er wurde Schritt für Schritt etabliert, erst im Westen und viel, viel später dann auch im Osten der Republik, wo Menschen angefangen haben, ihre Angst abzulegen und ihr Recht einzufordern, als freie Bürger zu leben.
Wir im Osten, die 1989 den Aufbruch wagten, wir hatten ein geglücktes Beispiel von Demokratie vor Augen: die Bundesrepublik im Westen mit all dem, was sie ihren Bürgern ab 1949 schrittweise angeboten hatte. Schon als junger Mann kannte ich den Namen Ludwig Erhard, allerdings hätte ich seltener den Namen des ostdeutschen Wirtschaftsministers nennen können. Viele von uns, die im Osten lebten, verfolgten über den Westrundfunk all das, was hier geschah. Es war übrigens – als ich jung war – auch eine Zeit, in der wir glaubten, dass mit Adenauer die Wiedervereinigung durchaus eine politische Möglichkeit sei. Leider wurden diese Hoffnungen enttäuscht.
Wir verfolgten also sehr intensiv im Radio die Debatten im Bundestag; wir kannten Namen, Positionen, Argumente – und saßen selber in einem Land, in dem das Argument nicht zählte, in dem nicht debattiert, sondern dekretiert wurde. Und so weiß ich eben nicht nur aus der zeitgeschichtlichen Forschung, dass Ludwig Erhard zweifelsohne zu jenen bedeutenden Politikern gehörte, die den Weg zur bundesdeutschen Demokratie gebahnt und gefestigt haben und die schließlich einen Staat schufen und gestalteten, zu dem die Westdeutschen Ja sagten und nach dem wir im Osten uns gesehnt haben.
Ludwig Erhard hat diese Arbeit nicht erst 1949 begonnen. Bereits in den finstersten Zeiten der totalitären Herrschaft – im Sommer 1943 – machte er sich in einer Studie im Auftrag der "Reichsgruppe Industrie" darüber Gedanken, wie die Wirtschaft, die ja im NS-Staat eine menschenausbeutende Kriegs- und Kommandowirtschaft war, wieder zurück zu einer Produktion in Friedenszeit zu führen sei. Schon in diesen Tagen, in denen es lebensbedrohlich sein konnte, die eigene Meinung zu vertreten, formuliert er: "das erstrebenswerte Ziel bleibt in jedem Falle die freie, auf echtem Leistungswettbewerb beruhende Marktwirtschaft". Auf die Freiheit des Marktes alleine wollte er sich allerdings nicht verlassen und schränkte direkt ein: "nie mehr (…) wird der Staat in die Rolle des Nachtwächters zurückverwiesen werden, denn auch die freieste Marktwirtschaft, und gerade diese, bedarf eines Organs der Rechtssetzung und Rechtsüberwachung." Damit ist im Kern formuliert, welche Gesellschaftsordnung Erhard und den Vertretern des Ordoliberalismus vorschwebte. Eine Ordnung, in der der Staat so viel wie irgend möglich dem fairen und freien Wettbewerb überlässt – aber keinesfalls das Setzen der Regeln selbst. Eine Ordnung, die den Einzelnen weder einer staatlichen Bevormundung unterwirft noch einem Markt, auf dem einige Wenige so mächtig werden, dass sie selbst die Regeln setzen können oder ihre Interessen auf Kosten der Schwächeren dauerhaft durchsetzen können.
Vor diesem Hintergrund ist es fast verständlich, dass seine liberalen Vorstellungen bei seinen damaligen Auftraggebern aus der Industrie auf Ablehnung stießen, hofften viele doch auf den Fortbestand der liebgewonnenen Kartelle, auch nach dem Ende des Hitlerreiches. Auf positives Gehör stießen seine Gedanken allerdings bei einem Mitglied des Kreises um die Verschwörer vom 20. Juli – das war sein Freund Carl Goerdeler. Und so fanden seine wirtschaftlichen und finanzpolitischen Maßnahmen auch Eingang in die Pläne, die die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 gemacht haben – die haben nämlich eine Neuordnung ersehnt und sich auch über die Wirtschaft Gedanken gemacht. Auch nach dem gescheiterten Attentat suchte Erhard weiter den intellektuellen Austausch mit jenen unabhängigen Geistern, die eine Ordnung der Freiheit entwerfen wollten. Bestärkung seiner eigenen Überzeugung fand er in der Auseinandersetzung mit den Schriften von Vertretern der Freiburger Schule, wie Wilhelm Röpke oder Walter Eucken. Gemeinsam wurden sie von der Grundüberzeugung geleitet, dass die Freiheit in der Gesellschaft und die Freiheit in der Wirtschaft zusammen gehören müssen. Und wer eine freiheitliche Gesellschaft anstrebt, muss sich für Markt und Wirtschaft und gegen die Bündelung von Macht in den Händen weniger einsetzen. Ludwig Erhard fasste es in der Formel zusammen: "Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen, wie Diktatur und Staatswirtschaft."
Seinem liberalen Selbstverständnis, seinen Prinzipien blieb Erhard auch in den dunklen Tagen des Nationalsozialismus treu. Trotz vielfachen Drucks weigerte er sich, in irgendeine der NS-Organisation einzutreten. Es war ihm auch zu dieser Zeit unmöglich, aus politischem Kalkül eine andere Meinung als seine eigene zu vertreten. Er folgte seinem eigenen moralischen Kompass und zeigte Haltung.
Das spricht sich schnell und lebt sich unendlich schwer. Die Älteren und Menschen, die Diktatur erlebt haben, wissen das.
Aus heutiger Sicht könnte man meinen, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein leichtes Spiel gewesen sei, eine Mehrheit der Bevölkerung nun von den Vorzügen einer sozialen Marktwirtschaft zu überzeugen. Dem war allerdings nicht so. Die Mehrzahl stand dem Konzept Marktwirtschaft ablehnend gegenüber und es ist kein Geheimnis, dass diese Skepsis auch weit in das Parteienspektrum gedrungen ist; auch in der CDU. In deren Programm, dem Ahlener Programm für die britische Zone von 1947, hieß es doch tatsächlich: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden." So sprach die CDU. Und noch Anfang der 1950er Jahre beurteilten nur 14 Prozent der Bevölkerung den Kurs Ludwig Erhards positiv und knapp 50 Prozent votierten für die Beibehaltung staatlicher Regulierung, etwa Zuteilung von Lebensmitteln für staatlich regulierte Preise. Das kannten die Menschen, das Neue wirkte fremd auf sie, das Fremde schafft immer bei vielen Menschen Ängste. Manches davon mag verständlich sein mit der Erfahrung einer ungeregelten Marktwirtschaft; und da gab es ja solche Erfahrungen. Das war die Zeit vor der Hitlerzeit, die Weimarer Republik. Das war kein gutes Vorbild einer sozial gestalteten Marktwirtschaft. Das war Arbeitslosigkeit und Armut. Und mit dieser Arbeitslosigkeit und Armut konnte die Demokratie nicht so besonders gut reüssieren.
Doch auch in der Nachkriegszeit zeigte nun Ludwig Erhard Haltung und vertraute seinen eigenen Überzeugungen zur Gestaltung der Wirtschaft mehr als einer demoskopisch ermittelten Mehrheitsmeinung. Eine Haltung, die Politikern mitunter heute ja nicht mehr zugetraut wird. Aber immer wieder in der Geschichte unseres Landes – und anderer Länder übrigens auch – ist zu beobachten, dass so eine Haltung möglich ist. Sie ist lebbar und sie kann auch von politischem Erfolg gekrönt sein. Ich habe eben über eine Politik gesprochen, die gegen die aktuellen Meinungsmehrheiten Gestaltungsspielräume eröffnet. Das führt dann allerdings manchmal zum Desaster bei Wahlen, öffnet aber Türen bei den nächsten Wahlen.
Historisch gesehen scheint es also längerfristig durchaus Sinn zu machen, an wirtschaftspolitischen Prinzipien festzuhalten, auch wenn sich kurzfristig mitunter keine Wählerstimmen dafür finden lassen. Zurück zu Ludwig Erhard: Tatsächlich gibt es diesen rasanten und wirtschaftlichen Aufschwung, und damit setzt eine große Popularität ein.
Vielleicht erklärt sich Erhards Erfolg auch damit, dass er deutlich machen konnte: Die Schaffung eines freien Marktes war ihm kein Selbstzweck, sondern legitimierte sich ausschließlich dadurch, dass dieser die Voraussetzung für die Schaffung einer demokratischen Gesellschaft war. In seinen Augen ist die Weimarer Republik nämlich zuallererst nicht am politischen System, sondern an einer mangelhaften Wirtschaftsordnung gescheitert. So waren es die Massenarbeitslosigkeit, das Elend und die Not der Menschen, die den Feinden der Demokratie damals in die Hände gespielt haben.
Was in den ersten Jahren in der Bundesrepublik nun gelang, war dann auch nicht nur ein Wirtschaftswunder. Wenn wir es genau betrachten, ist es auch so etwas wie ein Demokratiewunder, das hier im Westen Deutschlands gewachsen ist und unser Deutschland prägt. Jeder around the world kennt "Wirtschaftswunder". Für mich ist der Begriff "Demokratiewunder" für unser Land eine noch schönere Auszeichnung.
Die Westdeutschen konnten sich mit Markt und Wettbewerb befreunden, denn er ermöglichte ihnen Teilhabe am Fortschritt und gerechten Anteil an dem, was alle erwirtschafteten. Darüber fanden sie dann auch Vertrauen in die Demokratie.
Aus dem Scheitern der Demokratie in der Weimarer Republik und dem Erfolg in der jungen Bundesrepublik können wir lernen: die freiheitliche Wirtschaftsordnung und die Demokratie legitimieren und bedingen sich gegenseitig – sie können sich aber auch gegenseitig beschädigen.
Für Deutschland könnte das glückliche Fazit nun lauten: soziale Marktwirtschaft und Demokratie haben sich durchgesetzt. Ende gut – alles gut!
Wer würde dem auch gerade in diesen Tagen – jedenfalls in Deutschland – widersprechen? Unsere Wirtschaft brummt; wir verkaufen unsere Waren auf dem ganzen Globus. Und dank des wirtschaftlichen Erfolges genießen wir im Land ein hohes Wohlstandsniveau und auch hohe soziale Standards – es gibt sie nur in wenigen Ländern so wie bei uns. Deshalb wollen sehr viele Menschen von anderswo hierher in dieses Land.
Auch wird niemand – zumindest in absehbarer Zeit – die Stabilität unserer Demokratie ernsthaft in Frage stellen können. Mag unser Parlament jetzt auch aussehen, wie es aussieht. Dies wird nicht geschehen. Diese Demokratie ist von sich aus stark. Sie muss nur lernen wehrhafter zu sein, als sie es zurzeit ist.
Aber zurück zu Ludwig Erhard. Ich möchte mir noch in seinem Sinne ein paar Gedanken darüber machen, ob "Ende gut – alles gut!" die richtige Einstellung wäre für ein Nachdenken über Ludwig Erhard und sein Werk in der heutigen Zeit.
Ich möchte unter dem Stichwort "faire Teilhabe und Chancengerechtigkeit" erinnern, dass das große Versprechen von Ludwig Erhard in den 1950er Jahren "Wohlstand für alle" lautete. Und das ist gewachsen aus seiner Überzeugung, dass fairer und freier Wettbewerb alle Bürger partizipieren lassen kann am Wohlstandsgewinn. Und das ist ja auch lange Zeit gelungen, wenn wir die westdeutsche Geschichte anschauen.
Wenn wir uns aber mal eine Arbeit wie die aktuellen Bertelsmann-Studie anschauen, und ein Fazit anhören, was dort gezogen wird, dann lesen wir, dass in den letzten Jahren – gerade mit Blick auf die unteren Einkommen – die faire Teilhabe am Wohlstand nicht mehr in dem wünschenswerten Maß gegeben ist. Dies mündet für 43 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in der Wahrnehmung, dass es einen Konflikt zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit gibt. Beide Beobachtungen kann man nicht überall gleich machen, dies ist regional sehr, sehr unterschiedlich – wir denken an Ost- und Westdeutschland – aber auch im Westen Deutschlands gibt es schon sehr unterschiedlich entwickelte Regionen. Die Gefahr nun, die aus einer solchen Entwicklung erwächst, lässt sich gut am Ergebnis der Bundestagswahl ablesen. Wer sich abgehängt fühlt, wer meint keine faire Chance auf Teilhabe mehr zu haben, der hat nicht mehr zwangsläufig ein Interesse am Fortbestand der bestehenden Ordnung und bringt dies dann auch bei seiner Wahlentscheidung zum Ausdruck. Wohin eine solche Entwicklung in einer Demokratie führen kann, können wir beim Blick über den Atlantik beobachten. Dann wird das Heil in wirtschaftlicher Abschottung und nationalistischer Isolation gesucht. Das kann sich ja nun wirklich niemand wünschen – und leisten kann sich unser Land das auch nicht! Denn wir profitieren wie kaum ein anderes Land vom freien Handel.
Mit Blick auf die Vereinigten Staaten würden wir selbst bei einer kritischen Beschreibung unserer Gegenwart, unser Land noch immer als eine Zone des inneren Friedens beschreiben. Es ist in diesem Land nicht so wie in den Vereinigten Staaten, dass es ein Auseinanderfallen großer gesellschaftlicher Blöcke gibt. Es gibt wahrlich Menschen, denen weiter Unterstützung zuteilwerden muss in diesem Land. Es gibt auch Gründe zur Unzufriedenheit in bestimmten Bereichen. Aber wenn wir uns den Zustand in den Staaten anschauen und dem gegenüber diesen inneren Frieden und diese innere Stabilität, die trotz allem unser Land prägt, dann wird uns einmal deutlich, von welcher enormen Langzeitwirkung wir sprechen dürfen und in welchem Dank wir geraten müssen gegenüber denen, die dieses Konzept der sozialen Marktwirtschaft erdacht, umgesetzt, verteidigt und ausgebaut haben. Das kann man nicht auf eine Person beziehen, übrigens auch nicht auf eine Partei. Aus den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus ist eine gemeinsame Überzeugung gewachsen, nicht so wie in Weimar, nicht nur freier Raum für die Starken. Dieses Konzept des sozialen Ausgleichs, wie es die Skandinavier mit uns zusammen machen, ist manchmal kompliziert. Es ist bürokratisch. Vielleicht kann hier oder da mal eine Hängematte entstehen. Aber es ist ein großer geschichtlicher und historisch bedeutsamer Schritt gewesen, eine Gesamtbevölkerung miteinander zu versöhnen und zusammen zu bringen. Dies darf nicht beschädigt werden und wir sehen in den Vereinigten Staaten, wie schnell das geschehen kann. Dass sich die Etablierten in einer Welt befinden und die Diskussionsmächtigen und auf der anderen Seite diejenigen, über die man vielleicht spricht, aber mit denen man nicht spricht. Und dann sind die Populisten da mit ihren billigen Wahrheiten und ihren Ressentiments. Deshalb sollten wir, gerade wir Demokraten, auch in diese Bereiche hineinschauen, in denen wir nicht täglich mit unseren Thesen und Debatten unterwegs sind. Wir sollten uns einmal überlegen, ob wir nicht stark genug sind, so etwas wie eine erhellende Vereinfachung in unsere politischen Debatten zu bringen. Dass nicht nur die dubiosen Ressentimentverwalter mit einfacher Sprache unter den Leuten zugange sind, sondern ich möchte, dass Leute wie Oscar Schneider, wie große Lehrer der Politik und Praktiker der Politik, ihre großen Gaben einbringen und einfache Worte für die komplizierten Regeln und Abläufe in der Politik finden. So einfache, dass wir auch in den Bereichen gehört werden, in denen viele gar nicht mehr zugehört haben, was wir, die Diskussionsbereiten, bisher gesagt haben.
Deshalb ist es wichtig, dass wir, selbst in einem Land, das ich eben so hoch gelobt habe, dem fairen Wettbewerb Raum lassen und gleichzeitig uns denen widmen, die eine zweite oder dritte Chance brauchen, oder die gar – weil sie aus anderen Milieus kommen, als aus denen, die hier versammelt sind, mehr Unterstützung brauchen.
Übrigens wenn Wettbewerb existiert, kann er auch gerecht sein – nämlich, wenn er richtig gestaltet ist. Ungerechtigkeit gedeiht meist dort, wo Wettbewerb eingeschränkt wird: durch Protektionismus, durch Korruption oder staatlich verfügte Rücksichtnahme auf Einzelinteressen, dort, wo die Anhänger einer bestimmten Partei bestimmen, wer welche Position erreichen darf, oder wo Reiche und Mächtige die Regeln zu ihren Gunsten verändern und damit willkürlich Lebenschancen zuteilen oder verweigern. Insbesondere die demokratische Gesellschaft muss sich davor schützen, dass es organisierten Gruppierungen gelingt, ihre egoistischen Sonderinteressen auf Kosten der Allgemeinheit durchzusetzen. So warnte Erhard davor, dass auch "die Demokratie durch das Ausspielen und Durchsetzen von Machtpositionen gefährdet ist."
Es ist so, auch da müssen wir hingucken, auch gut gemeinte Eingriffe des Staates können dazu führen, dass Menschen auf Dauer aus- statt eingeschlossen werden. Wann etwa ist staatliche Fürsorge geboten, wann führt sie dazu, dass Empfänger keinen Sinn mehr darin erkennen können, sich selbst um ein eigenes Auskommen zu bemühen? Sie wissen, wie intensiv wir im Zuge der Reformen der Agenda 2010 über diesen Punkt debattiert haben. Das müssen wir auch weiter tun und das ist übrigens in wirtschaftlich guten Zeiten viel einfacher als in so schwierigen Zeiten wie zu Beginn des Jahrtausends.
Ich stelle mir als gute Lösung eine aktivierende Sozialpolitik vor, die wie ein Sprungtuch funktioniert, die Stürze abfedert, für diejenigen, die es brauchen, die aber dazu verhilft, wieder aufzustehen und für sich selbst einzustehen. Man tut Menschen nichts Böses, wenn man von Ihnen etwas erwartet!
Deshalb hat aktivierende Sozialpolitik für mich aber noch eine weitere, unverzichtbare Dimension, die eng mit Chancengerechtigkeit verknüpft ist. Die Entmachtung weniger, mächtiger Akteure durch den Wettbewerb mag eine notwendige Voraussetzung sein, den Vielen Teilhabe zu ermöglichen, aber sie ist keine hinreichende Voraussetzung, denn sie ermächtigt die Vielen noch lange nicht. Auch wenn alle nach den gleichen Spielregeln spielen dürfen, kommt es doch darauf an, mit welcher Ausstattung man auf das Spielfeld tritt. Chancengerechtigkeit hat also Voraussetzungen, die außerhalb des Wettbewerbs liegen. Niemand würde es als gerecht empfinden, wenn wir einen Boxer aus der Klasse Leichtgewicht antreten lassen gegen einen aus dem Schwergewicht und sagen, alle haben die gleichen Chancen. Soll er mal sehen, wie er klar kommt.
Es gibt gewachsene strukturelle Unterschiede, die zu vernachlässigen wirklich übel wäre. Chancengerechtigkeit hat Voraussetzungen, die außerhalb des Wettbewerbs liegen.
Wir sehen das ganz besonders klar beim Thema Bildung: Kinder, die aus bildungsfernen Elternhäusern kommen, machen fünfmal seltener Abitur als Kinder höher gebildeter Eltern. Das klingt zunächst einmal ganz normal. Es muss auch nicht jeder Abitur machen, das ist gar nicht das, was ich fordere. Aber wir dürfen uns nicht an so einen Zustand gewöhnen, das wäre ja nun wirklich ein fataler Fehler und ein Vorbeisehen an verborgene Ressourcen, die nur darauf warten, wachgeküsst und gefördert zu werden.
Denn dümmer sind doch diese Kinder in aller Regel bestimmt nicht. Sie bekommen eben nur am Anfang ihres Lebens weitaus weniger von dem mit, was sie später einmal nötig brauchen, um aus verschiedenen Möglichkeiten wählen zu können. Was nützt es zu sagen, wir statten alle Schulen gleich aus, wenn dort Kinder mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen sitzen? Auch solche, bei denen noch nicht einmal jemand dafür sorgt, dass sie jeden Tag überhaupt da sind in der Schule, oder denen jedes Vorbild fehlt, das ihnen zum Beispiel sagt: "Kind, du musst Dich anstrengen, denn schaffst du etwas, dann kannst Du auch stolz sein darauf." Ins Ziel muss ja jeder alleine kommen. Aber beim Laufen lernen, da können wir doch viel mehr helfen. Nicht weniger, aber besser gestalteter Wettbewerb, das macht unsere Marktwirtschaft gerechter und inklusiver. Bis eine neue Bundesregierung ihre Vorhaben formuliert, wird es wohl noch etwas dauern, aber wenn Parlament und Regierung diesem Ziel in den nächsten vier Jahren näherkommen wollen, wäre das ein Grund zur Freude für uns alle.
Die Freiheit der Sozialen Markwirtschaft ist stets eine Freiheit in Verantwortung. Und so verband – wie alle Vertreter des Ordoliberalismus – übrigens auch Ludwig Erhard die persönliche Handlungsfreiheit des Unternehmers immer mit der uneingeschränkten Haftung für die Folgen seines Handelns. In seinen Worten klang dies so: "Das ist sein Schicksal, denn er ist nur so lange ein freier Unternehmer, wie er die Risiken und Chancen gleichermaßen tragen will." Alles andere ist, so habe ich es mal genannt, nur die Freiheit von Pubertierenden, die Freiheit von etwas, die sich von Regeln und Zwängen am liebsten löst, die andere übervorteilt und nur das eigene Ich in den Mittelpunkt stellt. Die Freiheit, die wir meinen, und nach der wir streben wollen, ist immer die Freiheit zu etwas, zu Gestaltung und zu Mitwirkung am Gemeinwesen. Diese Freiheit nenne ich die Freiheit der Erwachsenen.
Wenn Gewinne privatisiert und Verluste verstaatlicht werden, dann zum Beispiel ist die Grundvoraussetzung für den fairen Wettbewerb und die Soziale Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt. Denn zu einer erwachsenen Verantwortung gehört es, dass wer hohe Risiken eingeht, bereit ist, auch für sein Scheitern einzugestehen. Das kann doch nicht nur für den Kleinanleger und Mittelständler gelten, das muss doch wohl auch für Bank- und Automanager gelten.
Die Freiheit der Sozialen Marktwirtschaft habe ich immer als eine Freiheit verstanden, die sich nicht der grenzlosen Gier und dem Übermut hingibt, sondern in der Verantwortung über den eigenen Bilanzgewinn hinaus wahrgenommen wird.
In unserem Land sehen wir das an vielen Stellen. Es verdienen Privatleute und Unternehmer gutes Geld, das sollen sie auch. Nach Gewinnen zu streben ist auch nicht verwerflich, sondern es ist Voraussetzung für ein Wirtschaftswachstum durch Investitionen und Innovationen. Mit großer Freude aber habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder erleben können, dass diese Verantwortung über das Eigeninteresse der eigenen Firma hinaus wächst. Dass erfolgreiche Unternehmer im Kleinen wie im Großen bereit sind, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Hier hat sich eine Kultur entwickelt, die für uns ja immer selbstverständlicher wird. Aber bei unseren Reisen in der Welt können wir Zonen und Regionen und ganze Erdteile sehen, wo das keineswegs selbstverständlich ist. Wir sollten diese Kultur der gewachsenen erweiterten Verantwortung hegen und pflegen und ernst nehmen. Sie sollte sich auch auswirken auf das Vertrauensverhältnis zwischen Produzent und Konsument.
Gleichzeitig machen wir uns bewusst, das Vertrauen immer etwas Flüchtiges ist. Es kann schnell verloren gehen. Wenn Freiheit und Verantwortung nicht mehr untrennbar verbunden sind, wenn Chancen und Risiken voneinander gelöst werden, dann wird durch diese Abkehr von den Grundüberzeugungen der Sozialen Markwirtschaft das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere Wirtschaftsordnung erschüttert aber eben nicht nur in die Wirtschaftsordnung, sondern auch insgesamt in die Demokratie. Dann geraten Wettbewerb und Freiheit schnell in Misskredit und werden für das eigentliche Problem gehalten. Das wäre fatal für unsere Wirtschaftsordnung und für unsere Demokratie.
Und darum muss gerade die Soziale Markwirtschaft im Zweifel gegen all jene wirtschaftlichen Kräfte verteidigt werden, die einseitig Spielregeln verändern wollen oder unter dem Deckmantel der Freiheit Privilegien zu etablieren versuchen. Und ebenso müssen wir wachsam sein, damit der Staat den Wettbewerb nicht verfälscht – in der manchmal durchaus verständlichen Absicht, einzelne Gruppen oder Bereiche in ihrer Entwicklung in besonderer Weise zu fördern oder mit Staatshilfen zu stützen. Es gibt immer wieder Gründe für politische Entscheidungsträger, von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft abzuweichen und in den Wettbewerb einzugreifen. Das ist sicher vielleicht manchmal politisch auch nicht anders zu machen, aber ein Dauerzustand sollte es nicht sein, kurzfristig mit einem kleineren Übel ein größeres zu verhindern. Aber wenn das zu einer Gefahr für das Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft wird, dann entsteht ein Problem. Auch dies erfordert eine klare Haltung und darüber müssen wir miteinander reden, wir müssen auch gut begründen gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, wenn solche Maßnahmen greifen. Ich wünsche mir aber auch den Mut, für eine Haltung einzustehen, die bei der nächsten Wahl mitunter Stimmen kosten mag. In der Politik fallen manchmal Entscheidungen, die nicht gleich von Mehrheit begleitet worden sind. Also Ludwig Erhard zu lesen, sich an Ludwig Erhard zu erinnern, heißt auch, sich Gedanken zu machen über Inhalt und Stil aktueller Politik.
Heute müssen wir auch feststellen, dass die Freiheit in Gesellschaft und Wirtschaft nicht für Jeden und Jede lohnenswert erscheint. Es gibt Menschen, die fühlen sich einfach bedroht in der übergroßen Freiheit einer globalisierten Welt. Es ist vielleicht besonders in der heutigen Zeit zu spüren. Aber auch damals bei Ludwig Erhard haben wir gehört, dass Menschen risikoscheu waren. Sie liebten ihre Zuteilung, darauf konnten sie sich verlassen, das kam ihnen bekannt vor. Sie liebten die starke verwaltende staatliche Hand. Und es dauerte eine Zeit, bis die Mentalität sich wandelte und Freiheit und Risiko akzeptiert wurden. Aber wir müssen davon ausgehen, dass gerade in einer sich global darstellenden Welt sehr viele Menschen auch Furcht vor der Moderne haben, Furcht vor der Freiheit. Der Raum erscheint ihnen zu groß. Dem Einzelnen erscheint die geforderte Autonomie und Verantwortungsfähigkeit als eine Überforderung. Er fängt dann an, sich nach einem starken Führer zu sehnen. "Sag Du mir doch, wo es lang geht." Warum haben Populisten heute Zulauf? Warum wollen einige zurück in den überschaubaren Nationalstaat mit seinen engen Grenzen? Eben weil er überschaubar ist! Und weil es vielleicht sogar eine anthropologische Konstante ist, dass Menschen immer dann Angst bekommen, wenn sich Freiheitsräume erweitern, so dass wir praktisch davon ausgehen müssen, dass jeder Erweiterungsschritt in Richtung Freiheit gleichzeitig eine Zunahme an Ängsten und ein neues Spielfeld für Verführer und Populisten bietet. Dies gilt es auszuhalten!
Wir haben gute Argumente gegenüber denen, die uns die Freiheit madig machen wollen. Wir haben gute Argumente gegenüber denen, die Honig saugen wollen aus dem Unsicherheitsgefühl der Menschen, die sich in der Freiheit noch nicht ausprobiert haben. Wir wollen denen an die Seite treten, für die das Wort "Freiheit" bedrohlich klingt, die sich nach Überschaubarkeit sehnen. Und das können wir!
Wir haben ja erlebt, dass in der Geschichte unseres Landes der Zugewinn an Freiheit, auch an wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit, die Möglichkeiten und die Lebensgewohnheiten der Bürger nicht einschränkt. Dies ist ein reiches Land geworden und es ist ein Land geworden, in dem Jeder das Recht hat, sein Recht zu bekommen und die Instanzen dafür existieren.
Es macht mich natürlich betrübt, dass besonders im Osten viele Menschen, die sich einst gesehnt haben nach der Freiheit, die geflüchtet sind, die sonst etwas aufgegeben haben, um endlich in der Freiheit zu sein, umgeben sind von anderen Menschen die fürchten, abgehängt zu werden, nicht ernst genommen zu werden, die denken, dass das Wirtschaftssystem das ist, was ihnen nicht genügend Luft zum Atmen und Raum zum Leben gibt. Aber wir wollen auch auf die schauen, die es gelernt haben sich aus alten Bindungen zu verabschieden und dem zutrauen, was für Potentiale in ihnen stecken. Gerade jetzt nach dieser Wahl wollen wir uns klarmachen, dass der größere Teil der Wählerinnen und Wähler in Deutschland, der größere Teil der Bürgerinnen und Bürger, dieses "Ja" zur Freiheit eben nicht gestrichen hat, sondern es kraftvoll lebt in unterschiedlichen Ausprägungen. Es ist da – und es entfaltet sich.
Die Demokratie selbst stirbt nicht am Wettbewerb, sondern der Wettbewerb gehört zu diesem Modell, über das wir hier sprechen und das wir rühmen, wenn wir Ludwig Erhard rühmen. Wenn die Schreihälse auf den Marktplätzen der Republik die Rückkehr ins Nationale und die Abwehr von Fremden und Freihandel, ja von der Freiheit selber, propagieren, dann bleiben wir bei unserem sicheren Wissen: Die besseren Argumente sind auf unserer Seite und wir werden nicht unseren Ängsten folgen, weil unsere Ängste uns in die Irre jagen. Deshalb folgen wir nicht den Angstmachern, sondern wir haben Vertrauen in uns selber und in die gesellschaftliche Wirklichkeit, die wir geschaffen haben. Und das sollte auch gelten für unseren neuen Bundestag. Und wir rufen von hier aus unseren demokratischen Abgeordneten zu: "Macht Euch nicht klein vor den Verächtern der Demokratie!"
Als Land stehen wir wiederum nicht nur mit unserer Wirtschaft, sondern auch mit unserem Gesellschaftsmodell im Wettbewerb mit anderen Nationen. Wir müssen nicht sehr weit schauen, um all die verschiedenen Ausprägungen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen auch heute zu registrieren: Oligarchie, Plutokratie. Und wenn wir heute von Globalisierung sprechen, sollten wir nicht ausblenden, dass es riesige Wirtschaftsräume gibt, die geprägt sind von staatskapitalistischer Machtausübung, verbunden mit einem durchaus frühkapitalistischen Verhältnis von Unternehmertum.
Eben darum steckt auch heute weit über Deutschland hinaus so viel Sprengkraft in der schlichten Grundeinsicht des Ordoliberalen Ludwig Erhard: Erst die Begrenzung von Macht durch freien, fairen Wettbewerb ermöglicht den Vielen Wohlstand und Teilhabe.
All diese Entwicklungen zeigen deutlich: Weder die soziale Marktwirtschaft noch die Demokratie lassen sich durch Wohlstand alleine legitimieren, sondern sie sind selbst dem Wettbewerb ausgesetzt. Wer also die Freiheit schätzt, der muss sich auch für die Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen – in Deutschland, in Europa und darüber hinaus.