Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

200 Jahre Kirchenunion Pfalz

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede anlässlich 200 Kirchenunion der Pfalz in Kaiserslautern

©evkirchepfalz/view

Ansprache im Pfalztheater Kaiserslautern

Festakt zum 200. Unionsjubiläum der Evangelischen Kirche der Pfalz

09. September 2018, Kaiserslautern

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Es ist mehr als das Jubiläum einer Landeskirche, das mich heute nach Kaiserslautern führt. Wir begehen miteinander die 200. Wiederkehr der Pfälzer Kirchenunion. Das ist ein Jubiläum, das sich nicht auf einen organisatorischen oder geografischen Neuzuschnitt einer Landeskirche beschränkt, sondern wir machen uns bewusst, dass diese Union vieles enthielt, das es zu einer wichtigen historischen Wegmarke macht – auch über die Region hinaus.

Zunächst und formal, natürlich: Lutheraner und Calvinisten lassen unterschiedliche Glaubensauslegungen und jahrhundertelange Kränkungen beiseite und gehen aufeinander zu und gründen etwas gemeinsames Neues. Dies war durchaus im Geiste der Zeit, wenn wir an den Unionsaufruf des preußischen Königs denken. Und es war auch Ergebnis weltlicher Ereignisse wie der Französischen Revolution, die "im Bereich der heutigen Pfalz zu einem Gutteil die staatlichen Voraussetzungen für die praktische Verwirklichung der kirchlichen Vereinigung der beiden Konfessionen" schuf.

Dennoch: Diese Union ist kein Ergebnis allein von Handeln der Obrigkeit. Auch nicht zuerst auf Betreiben von Geistlichen oder Kirchenoberen. Sondern sie erfolgte, weil Menschen sie wollten und weil Gemeinden vor Ort vorangingen, in Lambrecht schon 1805. Weil Christen in dieser Zeit sich ganz generell ihrer Identität als Bürger bewusster wurden, weil die Ideen von Aufklärung und Freiheit die Menschen erreichten und vielleicht auch einfach, weil die Zeit in der Pfalz, die geschichtlich immer vielfältiger war als andere Regionen und in der die Konfession zwischen lutherisch und reformiert häufiger wechselte, einfach reif war dafür, voranzuschreiten. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des 300. Reformationsjubiläums sehnten sich lutherische und reformierte Protestanten nach Einheit im gemeinsamen reformatorischen Bekenntnis.

Vielleicht empfanden es viele Gläubige auch ähnlich wie der Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher, dass es doch vorwiegend äußere Unterschiede waren, etwa über das Kreuzschlagen und den Gebrauch der Kerzen, die ein Festhalten an der Trennung begründeten. Dies, so sagte er, könne zu Aberglauben und zu "Werkheiligkeit der schlechtesten Art" führen, während Mitglieder derselben Konfession in viel wichtigeren Glaubenspunkten voneinander abweichen, als jene, durch welche sich die beiden evangelischen Konfessionen unterschieden.

Und so wurde die Kirchenunion, gewollt und befördert vom König von Bayern, der die heutige Pfalz zu dieser Zeit ja regierte, getragen vom aufklärerischen Geist der Zeit auf dem Wege einer Volksabstimmung beschlossen, mit 40.167 Stimmen gegen 539. Fragezeichen an Details des Ergebnisses dieser, nun ja, Männer-Abstimmung sind erlaubt und wurden debattiert, aber ein für diese Zeit innovatives Verfahren war diese Abstimmung allemal.

Und so sehen wir die Kirchenunion, die eine echte presbyterial-synodale Basiskirche schuf, heute eben nicht nur als ein innerkirchliches oder zwischenkonfessionelles Ereignis, sondern vielleicht auch als einen Baustein der deutschen Demokratiegeschichte noch vor dem Vormärz, der ja seinerseits zentral mit Orten (Hambach) und Personen (z.B. Philipp Jakob Siebenpfeiffer) aus der Pfalz verbunden ist.

"Auf der Bahn wohlgeprüfter Wahrheit und ächt religiöser Aufklärung, mit ungestörter Glaubensfreiheit muthig voranschreiten" – dieser Kernsatz aus der Geburtsurkunde der Pfälzer Landeskirche beeindruckt uns nicht nur vor dem Hintergrund des damaligen innerkonfessionellen Geschehens, nicht nur als Teil der Aufklärungsbewegung. Er sendet uns auch Botschaften ins Hier und Jetzt, vielleicht stärker als es uns vor wenigen Jahren noch aufgefallen wäre.

Zunächst: Das, was wir tun, soll geschehen "auf der Bahn wohlgeprüfter Wahrheit". Das enthält erstmal die Annahme, dass es eine gemeinsam so empfundene Wahrheit gibt. Eine Wahrheit im Glauben, der von der Vernunft der Aufklärung geprüft wurde. Eine Wahrheit in den Grundaussagen der Religion, die durch kleine Differenzen nicht aufgehoben wird. Eine Wahrheit, die eint, weil sie von der Liebe zu Gott getragen wird.

Heute haben Sie, Herr Kirchenpräsident, allerdings nicht den früheren Pastor, sondern den früheren Bundespräsidenten eingeladen, deshalb erlaube ich mir, bei meinen heutigen Überlegungen diesen Wahrheitsbegriff außerhalb seiner religiösen Bedeutung zu betrachten und ein wenig über Wahrheit in unserem Alltag zu reflektieren. Denn das Ringen um Wahrheit spielt eben nicht nur in Glaubensfragen eine bedeutende Rolle, sondern auch und gesamtgesellschaftlich gesehen eine vielleicht noch größere in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen, und zwar nicht nur unmittelbar vor Wahlen, sondern jeden Tag.

Wären nicht viele von uns noch vor kurzem sehr sicher gewesen, dass es heutzutage in unserem Land, in Europa und weiten Teilen der Welt ein Allgemeinplatz ist, dass Wahrheit "wohlgeprüft" sein und der Debatte standhalten muss? Dass niemand mehr ernsthaft daran zweifelt, dass das Finden von Wahrheit in einem harten Prozess gelingt, im Ernstnehmen wirklichen Wissens, mit wirklichen Fakten, transparent und überprüfbar? Dass niemand mehr eine solche wissens- und faktenbasierte Wahrheit bestreiten würde? Dass trefflich über Meinungen oder Schlussfolgerungen gestritten werden kann, aber dass dies geschieht auf der Grundlage der Erkenntnis von Wissenschaft und Vernunft? Und dass sich das, was sich als eindeutig wahr herausstellt, für jedermann einleuchtend Richtschnur seiner eigenen Entscheidungen sein wird?

Ich gebe zu, vor einigen Jahren wäre ich mir sicher gewesen: Wenn es darauf ankommt und allzumal in unserer Demokratie, setzt sich die auf vernünftigen Wegen gewonnene Wahrheit durch.

Vermutlich spüren Sie mit mir, dass diese Überzeugung stark gelitten hat – nicht erst, seit wir in näherer und fernerer Nachbarschaft Bewegungen, Politiker und sogar Regierungen erleben, die ein bestenfalls taktisches Verhältnis zur Wahrheit pflegen. Die bei Bedarf Zweifel säen selbst an evidenten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die sogar Zahlen und Zusammenhänge mit einer atemberaubenden Frechheit auf den Kopf stellen in allerlei Bereichen und in unterschiedlichen Tonlagen, aber immer mit demselben Trick arbeiten: Den Glauben der Bürger zu zerstören, dass es eine überprüfbare und objektive Wahrheit gibt, der sich jeder zu stellen hat, der im politischen Raum handelt.

"Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über Tatsachen nicht garantiert ist." so analysierte Hannah Arendt weitsichtig – und heute sehen wir Kräfte, die uns glauben machen wollen, dass eins und eins eben nur vielleicht zwei sind, wenn es ihnen gerade nützt, aber ebenso gut auch null, drei oder 77 sein könnten. Und mit der Zerstörung des Glaubens an eine überprüfbare Wahrheit öffnet sich die Tür zur Verbreitung der Unwahrheit, ja der offenkundigen und beweisbaren Lüge, um die eigenen politischen Ziele durchsetzen – und damit das Ende der Meinungsfreiheit, wie Hannah Arendt es beschreibt.

Diese Methode hat – wir sind täglich damit konfrontiert – rasant an Wirkungskraft gewonnen, nicht zuletzt durch die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation. Wer Impfungen gegen gefährliche Infektionskrankheiten ablehnt, kann heute eben wissenschaftliche Erkenntnisse aus Jahrzehnten gewissenhafter Forschung scheinbar sachkundig ablehnen – mit dem Verweis darauf, dass er bei Facebook oder Twitter gelesen hat, dass ein Heilpraktiker in Italien das anders sieht oder ein Mann in Tschechien nach einer Tetanus-Impfung schwer erkältet war. Wer die Konfrontation mit professionellen Journalistenfragen nicht aushält, kann neutrale Medien heute einfach als "Lügenpresse" abtun. Und wessen Behauptungen offenkundig falsch sind, kann sich heute sogar erfolgreich berufen darauf, eben "alternative Fakten" zu kennen.

Aus dem Zusammenhang gerissene oder gefälschte Bilder, Gerüchte, Halbwahrheiten oder Volllügen entfalten mitunter mehr und schnellere Wirkung als das, was wir "auf der Basis wohlgeprüfter Wahrheit" verifizieren oder falsifizieren können – nicht zuletzt deshalb, weil denen, die mit Fakten argumentieren, oft die Bilder fehlen. Oft fehlt ihnen auch der Mut oder die Fähigkeit, wirkliche Fakten in einer Sprache zu transportieren, die die Mehrheit der Menschen erreicht, auch wenn diese keine Fachleute sind und sich nicht für Politik interessieren.

Ich habe mir mitunter gewünscht, verantwortungsvolle politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche Akteure mögen diese Scheu ablegen und ihre Erkenntnisse und Argumente vortragen im Stile einer "erhellenden Vereinfachung". Nicht einer Vereinfachung, die von der Wahrheit ablenkt oder wegführt, sondern von einer Vereinfachung, die Zusammenhänge erhellt und verständlich macht für diejenigen, die nicht jeden Tag professionell mit dem jeweiligen Thema befasst sind.

Ich bin sicher, das wäre ein gutes Mittel gegen "fake news". Die "wohlgeprüfte Wahrheit", die uns in der Urkunde von 1818 als Glaubenswahrheit begegnet, kann uns heute nicht nur in unserem Glauben leiten und stärken, sondern uns auch im Politischen Orientierung sein. Und an einem Festtag wie heute dürfen wir uns darauf besinnen, dass wir dieser wohlgeprüften Wahrheit auch in heutigen Debatten zum Recht verhelfen wollen.

Eine zweite Botschaft aus der Unionsurkunde ist mir aufgefallen; eine Botschaft, die wir in den Debatten unserer Tage brauchen werden: Wir sollen "mutig" sein bei dem, was wir tun. Das ist keine Nebensache – weder in dem Satz, der die Unionsurkunde prägt, noch mit dem, was er uns heute sagt. Denn das, was wir tun, sollen wir nicht nur erledigen, abhaken, sondern wir sollen es mutig tun.

Wir sollen das für richtig Erkannte mit Mut vertreten – und nicht mit Angst und nicht mit Kleinmut. Von Über-Mut, der in der Geschichte der Kirchenunion ja durchaus auch eine Rolle spielte, ist dabei nicht die Rede. Sondern davon, dass die Wahrheit, egal ob sie uns eher als Glaubenswahrheit oder als Wissenswahrheit im Sinne von Hannah Arendt begegnet, Vertreter, Fürsprecher, Freunde braucht, die nicht mutlos sind und die sich nicht abschrecken lassen – weder von Widrigkeiten noch von der Unwahrheit und der Frechheit, mit der diese manchmal vorgetragen wird. Dies im Politischen zu tun, dazu kann uns wiederum der Glaube inspirieren. Ein Glaube, der uns einerseits etwas unabhängiger macht von den Bindungen an Mächte im hier und jetzt. Und der uns aber andererseits ganz bewusst in die Verantwortung stellt für uns selbst, aber auch für diese Welt. Dafür, dass diese unvollkommene Welt dem gerecht wird, was uns Gott zuspricht zum Beispiel in der Würde eines jeden Einzelnen.

Bitter ist es, zu sehen, dass Mut, der in der Unionsurkunde so inspirierend anklingt, auch fehlen oder sogar missbraucht und für Falsches oder Schlechtes genutzt werden kann. Die Geschichte auch der pfälzischen Kirche im Nationalsozialismus enthält dafür leider viele traurige Beispiele – Abwesenheit bei der Barmer Bekenntnissynode, Pfarrereide auf Hitler, Sprachlosigkeit gegenüber den Judendeportationen und die Aufgabe der eigenen demokratische Strukturen sind nur einige dieser Beispiele für fatale Mutlosigkeit.

Mut beim Vertreten dessen, wofür wir stehen wollen, das fordert jede und jeden von uns auf unterschiedliche Weise. Mut sieht heute anders aus als 1818 diese Kirche entstand. Und er sieht anders aus 1933, anders als 1989 und sogar anders als noch vor einigen Jahren. Ich denke, wenn wir "mutig voranschreiten" wollen, wie es die Gründer dieser Landeskirche in ihrer Zeit formulierten, dann darf jeder von uns daran denken, was mutiges Handeln für sie oder ihn heute bedeutet und auch was möglich ist.

Wir dürfen uns inspirieren lassen von großen Bekennern und vom hingebungsvollen Mut gerade von Menschen, die tief im Glauben standen. Von Dietrich Bonhoeffer und den Geschwistern Scholl, von Maximilian Kolbe oder anderen Märtyrern, die Bekennermut zu einer Zeit zeigten, in der die allermeisten Menschen und sogar diese Landeskirche anders handelten.

Aber deren Mut darf uns nicht entmutigen, wenn er uns verstummen lässt oder in Selbstzweifel führt angesichts der Frage, ob wir genauso mutig sein könnten, wie die großen Vorbilder es einst waren. Nein, er soll uns aufrichten dazu, in unserer Zeit und in unserer Welt mutig zu sein, so, wie es uns möglich ist. Das gilt für unser privates, wie unser öffentliches Leben. Das kann der Mut derjenigen sein, die sich für Kinder entscheiden oder der Mut derjenigen, die Alten zur Seite stehen. Heute kann es auch der Mut sein, über seinen Glauben zu sprechen. Es kann der Mut desjenigen sein, der sich gegen einen Zeitgeist stellt. Der Mut derjenigen, die, wo andere nur meckern, Verantwortung übernehmen in der Gestaltung des hier und jetzt, im Presbyterium oder in der Kommunalpolitik.

Und in diesen Tagen brauchen wir den Mut derjenigen, die sich entschlossen denen gegenüber stellen, die – wie vor wenigen Tagen in Chemnitz – Ressentiment und Wut, Hass und pure Aggressivität in unsere verunsicherte Stadtgesellschaften tragen.

Derartige Entäußerungen sind eigentlich Gewalttaten ohne Waffen, mit ihnen will man das Gegenüber nicht überzeugen sondern erniedrigen, einschüchtern, schlagen, mundtot machen.

Ein Dialog ist unmöglich, denn diese Gruppe will Sieg und Meinungsherrschaft, ohne überzeugen zu wollen. Sie genießt es geradezu, eine lang eingeübte und in einer Gesellschaft erforderliche Affektkontrolle zu negieren und Wütende in kaum kontrollierte Wut zu treiben. Und das nicht nur im privaten Raum sondern auf den Straßen – voller Ressentiment und mit blankem Hass. In eine Gruppe derartig berauschter Menschen mit Verständnis, Nachdenklichkeit und Vernunft einzudringen, ist kaum möglich. Dann gilt es, die Allgemeinheit zu schützen und den Regelverletzern schlicht mit den Mitteln staatlicher Gewalt zu begegnen. Für engagierte Demokraten bleibt als einzige Möglichkeit die strikte Abgrenzung.

Mut und Haltung braucht es dann, um das gemeinsame Gespräch über die Gräben in unserer Gesellschaft hinweg trotzdem zu suchen. Selbst bei solchen, die nicht argumentieren, sondern ihren Hass auf die Straße treiben, kann es Erfolg haben, auf einzelne Individuen zuzugehen. Jedenfalls, wenn man sie später trifft, wenn der Rausch kollektiver Enthemmung verflogen ist. In anderen Situationen kann man Einzelne dann durchaus zurückholen in den Bereich von Dialog, Debatte und sinnvollem Streit.

Wer in einem solchen Geiste etwas tut, weil er davon überzeugt ist, und sich den Widrigkeiten und Widersprüchen des Lebens aussetzt, der schreitet mutig voran, wie es die Unionsurkunde einst formulierte.

Und auch das ist ein Auftrag aus der Urkunde: Wofür sollen wir das, was ich beschrieben habe – den Mut, die wohlgeprüfte Wahrheit – nutzen? Nicht, um stehenzubleiben oder zurückzugehen. Sondern um voranzuschreiten. Und selbst das ist doch heute eine Aufgabe, die uns Heutigen doch sehr tagesaktuell zukommt.

Heute, wo wir in so vielen Bereichen und Gesellschaften die Verlockung zum Zurück erleben, zu einer angeblich so goldenen Vergangenheit mit nationaler und vielleicht sogar religiöser Homogenität, zur Abwendung von der Kompliziertheit der Welt und den Widersprüchen um uns herum. Wenn wir diese Sirenenklänge hören, lohnt es, genau hinzuschauen, welches Bild uns die Nationalisten, Populisten und Isolationisten da genau beschrieben: Legen Sie damit wirklich eine Zukunftsvision vor, die realistische Aussicht hat, unser Leben in einer komplexer werdenden und sich immer stärker vernetzenden Welt gut zu gestalten? Oder handelt es sich vielleicht schlicht um Retro-Politik, die von Wunderglauben an goldenen Zeiten lebt und überdies vom schlechten Gedächtnis, das wir ja alle mitunter haben? Es ist wohl Letzteres und dem dürfen wir getrost entgegenrufen: Wir schreiten nicht zurück, wir schreiten voran. Und zwar nicht aus blindem Fortschrittsglauben, sondern weil wir das Leben der Menschen nur zum Guten gestalten können, wenn wir auf Grundlage der wirklichen Wirklichkeit handeln und nicht auf Grundlage einer Vergangenheit, die erstens vorbei ist und zweitens nie so golden war, wie es manche uns heute weismachen wollen. Dabei dürfen wir uns eingestehen, dass manche schneller voranschreiten können und wollen und andere langsamer.

Selbst auf dem Weg zur Kirchenunion war dies so – ich habe das Beispiel Lambrecht genannt, aber es waren wohl insgesamt 80 Gemeinden, die vor August 1818 lokale Unionen schlossen. Auch innerhalb unserer Gesellschaft, sogar im Verhältnis der Staaten innerhalb der Europäischen Union muss es uns nicht erschrecken, wenn wir sehen: Manche gehen bei einem Thema voran, andere zögern und sind dafür vielleicht bei einem anderen Thema schneller. Etwas mehr Geduld gegenüber Zögernden steht uns gut zu Gesicht. Fortschrittlichkeit ist keine zwingende Voraussetzung zur Debattenteilnahme. Nicht jeder muss jede neue Entwicklung sofort gutheißen und mit ihr voranschreiten. Unsere Demokratie ist ein großes Zelt und erträgt sogar Positionen, die manchen von uns verzopft erscheinen oder altmodisch. Solange wir gemeinsam das Ziel wahren, ist das in Ordnung – für die Debatten innerhalb unserer Gesellschaft heißt das: solange wir auf dem Boden des Grundgesetzes debattieren, und ohne Hass.

Wir können in Detailfragen, so finde ich, pragmatischer und toleranter debattieren, solange wir mit Energie auf dem Eigentlichen beharren. Wenn wir mutig voranschreiten wollen, kann Mut auch bedeuten, auf das Tempo und darauf zu achten, andere einzubinden und mitzunehmen auf dem geneinsamen Weg.

Ein letztes Element aus dem Kernsatz der Unionsurkunde will ich mir mit Ihnen anschauen: Es trägt uns "ächt religiöse[r] Aufklärung, mit ungestörter Glaubensfreiheit" auf. Auch das ist ein Thema, das wir heute aufmerksamer debattieren als vor einigen Jahrzehnten. In unserem Land hat sich der christliche Glaube sehr stark mit der Aufklärung und der Vernunft verbunden. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft vielfältiger geworden, bei Nationalitäten, Weltbildern und gerade auch bei Religionen, viele sprechen wegen der großen Zahl von nicht-religiösen Menschen von einer post-religiösen Gesellschaft. Und viele der Menschen, die in den zurückliegenden Jahren zu uns gekommen sind, gehören nicht nur einer anderen Religion an, sondern sie haben in ihren Herkunftsländern bisher eher keine Verbindung zwischen Glauben und Wissen erlebt, keine Annäherung von Religion und Aufklärung und häufig auch wenig religiöse Toleranz.

Und so müssen wir eben vielfach neu debattieren über die historische Gebundenheit der Heiligen Schriften und über Glaubensinhalte und "ächt religiöse Aufklärung". Eine "ungestörte Glaubensfreiheit", die die Unionsurkunde und natürlich unser Grundgesetz beschreiben, darf jedenfalls nicht so verstanden werden, dass wir blinde Toleranz gegenüber Intoleranz üben sollten oder nicht kritisch nachfragen, was die Rolle des Rechts gegenüber der Religion betrifft, Frauen- und Minderheitenrechte und auch einen teilweise aggressiven Antisemitismus. Gerade Menschen aus Einwandererfamilien haben mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir um der Demokratie, um des Rechtsstaats und um der Toleranz willen Intoleranz auch unter Zugewanderten nicht verschweigen dürfen.

Unterschiede bei Glaube und Traditionen dürfen wir durchaus als Bereicherung und Inspiration verstehen, aber Abstriche bei den grundgesetzlichen garantierten Freiheiten etwa für Mädchen oder Hass etwa gegen Juden oder Nichtgläubige, das gehört nicht zu "ächt religiöser Aufklärung".

Meine Damen und Herren,

Sie sehen, schon der vielzitierte Kernsatz der Unionsurkunde bringt uns zu zahlreichen aktuellen Fragen, über die sich sicher auch nach diesem Festtag streiten ließe. Welch' interessanten Auftrag diese Landeskirche also vor 200 Jahren bekommen hat! Und welch' schwierigen.

Lieber Herr Kirchenpräsident, liebe Schwestern und Brüder der Evangelischen Kirche der Pfalz, wie Ihre Landeskirche diesen Auftrag annimmt und wie breit und offen sie die Botschaften aus ihrer wechselhaften Geschichte debattiert und wie sie sich dabei auf die Zukunft ausrichtet: Das hat mich in meiner Vorbereitung beeindruckt.

Und so gratuliere ich Ihnen heute zu diesem Jahrestag, aber ebenso dazu, wie Sie diesen Jahrestag begehen und wie Sie das Gute und das Schwierige aus 200 Jahren gemeinsamer Kirchenunion miteinander debattieren. Ich wünsche der Kirche der Pfalz Gutes für die Zukunft – und dass Sie weiter ein Ort ist, der Menschen im Glauben stärkt, ihnen Heimat und Zugehörigkeit gibt und unserer ganzen Gesellschaft weiterhin Impulse dafür gibt, mutig voranzugehen.