Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

450. Jubiläum der Landeskirche in Braunschweig

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Joachim Gauck als Redner zum Jubiläum der Landeskirche Braunschweig

©Agentur Hübner (Wolfenbüttel)

Ansprache im Dom zu Braunschweig

450. Jubiläum der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Braunschweig

13. Februar 2018, Braunschweig

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Zum 450 jährigen Bestehen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Braunschweig übermittele ich allen, die in dieser Kirche beheimatet sind oder auch in ihr wirken, meine herzlichen Glückwünsche. Ich bin mir der großen und wechselhaften Geschichte des Protestantismus hier in dieser Region bewusst. Erlauben Sie mir, mich bei meinen Ausführungen auf einen Teil der Geschichte zu konzentrieren, die jedenfalls einem 78-Jährigen präsent ist.

Ich stehe hier als Protestant aus der mecklenburgischen Kirche, dessen kirchliche Sozialisation vor dem Hintergrund des Christseins in der DDR erfolgte, unter den Bedingungen einer staatssozialistischen Diktatur – diese Bedingungen waren andere als die in der Bundesrepublik. Doch zu jeder Zeit fühlten wir, die Menschen, mit denen ich verbunden war und ich selbst, uns als Deutsche. Wir waren verbunden – entweder konkret, durch vielfache Hilfen, oder zumindest gedanklich – mit unseren Schwestern und Brüdern in der Bundesrepublik und auch mit dem geistlichen Wirken des Protestantismus in ganz Deutschland.

Der Glaube verband uns über Mauer und Stacheldraht hinweg; und diese Verbindung leistete noch mehr – etwas, das ich heute in besonderer Weise würdigen möchte:

Von familiären Verbindungen abgesehen leistete aus meiner Sicht niemand mehr für menschliche Begegnung, gedanklichen Austausch und den Fortbestand gemeinsamer Identität auf einer gemeinsamen Wertebasis als die Institution Kirche mit den von ihr gestifteten unzähligen, oftmals jahrzehntelang bewährten Kontakten zwischen Ost und West.

Mir scheint die Frage schon angebracht, wie es um deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten bestellt gewesen wäre, welches Ausmaß kulturelle Unterschiede ausgemacht hätten und wo Raum für Hoffnung und Widerstandsgeist in der DDR hätte entstehen können, wenn es nicht während 4 Jahrzehnten Trennung auch 4 Jahrzehnte beständige kirchliche Kontakte zwischen Ost und West gegeben hätte.

Dieses Wirken der Kirchen als Voraussetzung für die Friedliche Revolution in der DDR und zum Zusammenwachsen unseres Landes will ich heute besonders würdigen. Und ich tue dies in Braunschweig, weil Ihre Landeskirche hierbei in besonderer Weise zu nennen ist: als eine Landeskirche, deren Grenzen auch nach 1949 nicht an der staatlichen Grenze endete und die auch heute ältere und jüngere Bundesländer miteinander verbindet.

Ich möchte einen Blick werfen auf die Rolle von Kirche auf dem Weg zu Freiheit und Einheit, der über Braunschweig hinausgeht. Unsere katholischen Glaubensbrüder und –schwestern werden mir verzeihen, wenn ich dabei heute über die evangelische Kirche spreche, deren Wirken ich näher beschreiben kann als das der katholischen Kirche. Dass auch sie – als Diasporakirche! – Bedeutendes geleistet hat, um Ost und West zu Zeiten der Teilung zu verbinden, steht mir dennoch sehr präsent vor Augen.

In Zeiten, in denen es ansonsten keine gesamtdeutschen Institutionen mehr gab, in denen Deutsche Deutschen begegnen konnten, war es an Bedeutung nicht zu überschätzen, dass die evangelischen Landeskirchen in Ost und West bis Ende der 60er Jahre verbunden blieben – also  25 Jahre nach Kriegsende und 8 Jahre nach dem Mauerbau, in der 1948 gegründeten gemeinsamen Evangelischen Kirche in Deutschland. In der einen EKD wurde debattiert, gestritten und gebetet. Vor allem die Kirchentage, etwa 1954 in Leipzig, dokumentierten die gesamtdeutsche Verbundenheit des Protestantismus.

Aber – ich deutete es schon kurz an – hier in Braunschweig geschah deutsch-deutscher Kontakt in dieser Zeit noch in besonderer Weise, denn diese Landeskirche umfasste nicht nur Regionen im Bundesland Niedersachsen, sondern auch in der DDR. Was den meisten Menschen heute allenfalls als eine organisatorische Frage, als Formalität, erscheinen würde, die innerkirchliche Grenzziehung, bedeutete in der Zeit der Spaltung Deutschlands für Gläubige auch dieser Landeskirche tiefe Einschnitte in die Lebenssituation, den drohenden Verlust wichtiger menschlicher Verbindungen, auch von geistlicher Heimat. Besonders deutlich wird dies an der Geschichte der Propstei Blankenburg, die bis 1945 ein braunschweigischer Landkreis und damit natürlicher Teil auch der Landeskirche war und nach der Teilung zur sowjetischen Besatzungszone geschlagen wurde. Damit war nicht nur Blankenburg faktisch von der territorialen und geistlichen Heimat abgetrennt – auch die Einheit der traditionsreichen Landeskirche war bedroht und konnte auch nicht dauerhaft erhalten werden. Dies galt auch für Calvörde, das eine weitere Exklave der braunschweigischen Landeskirche in SBZ und DDR blieb.

Die Gemeindeglieder und Geistlichen in diesen Exklaven standen vor mehrfachen Herausforderungen. Sie waren – wie Gläubige in der ganzen DDR – der zunehmend religions- und kirchenfeindlichen Haltung von Partei und Staat ausgesetzt. Sie standen aber zudem auch, anders als etwa wir Mecklenburger oder die Angehörigen originär ostdeutscher Landeskirchen, in der Gefahr lebenspraktischer wie geistlicher Abtrennung von der kirchlichen Heimat, von der jahrhundertealten Identität, auch von administrativer wie religiöser Leitung. In bewundernswerter Weise kämpften die Gemeindemitglieder gegen diese Abtrennung an. Trotz vielerlei Behinderungen waren Begegnungen auf persönlicher wie auf Verwaltungsebene gang und gäbe, auch die Teilnahme von Blankenburger Synodalen an der braunschweigischen Landeskirche – jedenfalls bis 1957.

In diesem Jahr fand der SED-Staat mit der Unterzeichnung des westdeutschen Militärseelsorgevertrags 1957, der auf der EKD-Synode auch mit ostdeutschen Stimmen bestätigt wurde einen willkommenen Anlass, deutsch-deutsche Kirchenstrukturen aggressiv anzugreifen – sowohl innerhalb einer Landeskirche wie Braunschweig, als auch auf Ebene der EKD. Walter Ulbricht sprach von  "kirchenleitenden Krisen in der DDR, die hin und wieder versuchen, politischen Weisungen der westdeutschen Militärkirche nachzukommen". Und davon, dass "die imperialistischen und revanchistischen Kreise Westdeutschlands … Kirchen in der DDR immer noch als Instrument ihrer imperialistischen Revanchepolitik ausnutzen".

Für Bischof Hanns Lilje stand 1958 fest: "Es kann daran kein Zweifel mehr sein, daß die Regierung der DDR auf die Aufspaltung der beiden Teile der EKD und damit die völlige Loslösung der östlichen Gliedkirchen vom gesamten Korpus der evangelischen Kirche hinarbeitet."

Mit dem Mauerbau schuf das Regime Fakten auch für die kirchliche Arbeit, nun auch offen aggressiv. Der EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf wurde 1961 aus dem Ostsektor Berlins regelrecht ausgebürgert. Die regen geschwisterlichen Kontakte innerhalb der braunschweigischen Landeskirche kamen mit dem Mauerbau ebenfalls weitgehend zum Erliegen. Briefwechsel, Paketsendungen und Medikamentenlieferungen hielten, etwa hier in Braunschweig, dennoch mehr Verbindungen aufrecht, als es dem SED-Staat lieb gewesen sein konnte. Später wurden auch wieder Besuche von West nach Ost möglich, wobei gemeindliche Besuchsgruppen in Helmstedt oder Duderstadt oft so schikaniert wurden, dass sich nur noch wenige Westdeutsche zu reisen trauten. Und dennoch: Neben der jahrhundertalten identitären Verwurzelung in der braunschweigischen Landeskirche trugen gewiss auch solche Kontakte dazu bei, dass Blankenburger und Calvörder Protestanten sich weiter als "Braunschweiger" fühlten.

Die neue DDR-Verfassung ab 1968 schließlich reduzierte kirchliche Spielräume erheblich, was manchen Kirchenvertreter auch dazu brachte, gesamtdeutsche kirchliche Strukturen infrage zu stellen. 1969 dann gründete sich der Bund Evangelischer Kirchen in der DDR. Jedenfalls de facto waren damit der west- und ostdeutsche Protestantismus geteilt, wenn auch die Entscheidung der ostdeutschen Landeskirchen von der EKD nie als Austritt eingestuft wurde. Ein bitterer Schritt dennoch – ob er richtig war, weil er letztlich Realitäten anerkannte und kirchliches Wirken in der DDR etwas leichter machte oder ob er falsch war, weil Mut zu mehr gesamtdeutschem Bekenntnis fehlte und so Widerstandskräfte verloren gingen, lässt sich rückblickend schwer sagen. Deutlich sprach der neu gegründete Kirchenbund in seiner Ordnung zwar von einer "besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland". Kompromisse besserer und schlechterer Art gegenüber dem SED-Regime ging der Kirchenbund dennoch ein. Auch hier: schwierige Abwägungsprozesse zwischen realpolitischer Handlungsfähigkeit und voreiligem Gehorsam.

All dies blieb auch für Braunschweig nicht ohne Folgen: 1973 erfolgte für Blankenburg die Ausgliederung aus der braunschweigischen Kirche nach 400 Jahren und die "treuhändische" Eingliederung in die sächsische Landeskirche.

Die Kirchen (und gewiss kann hier die braunschweigische Landeskirche besonders genannt werden) wurden jedoch auch nach der organisatorischen Abtrennung von der EKD und auch jenseits dieser Strukturfragen seitens der Staatsführung als Hindernis wahrgenommen. Als entscheidendes und wohl auch letztes verbleibendes Bollwerk gegen eine vollständige, endgültige Teilung von Ost und West und zugleich als Gefahrenquelle für die Stabilität der Diktatur in der DDR. Nicht zu Unrecht, wie wir heute wissen, denn die innerkirchlichen Kontakte hielten Gesprächsfäden am Leben, die außerhalb der Kirchen mehr und mehr verstummten. Sie brachten Informationen in die DDR und sicherten im Westen einen öffentlichen Blick auf aggressive Aktionen des SED-Staates gegen Gläubige und ihre Kirchen.

Sicherlich kann man sagen: Die christlichen Kirchen in der DDR besaßen trotz bitterer Repression ein größeres Maß an Spielräumen und Freiheiten als die Kirchen in allen anderen sozialistischen Ländern, von Polen abgesehen.

Aber diese Freiräume, die die Kirchen in der DDR verteidigen konnten, blieben auch deshalb bestehen, weil Staat und Partei wussten, dass viele Westdeutsche direkt mit ostdeutschen Christen und Kirchgemeinden verbunden waren, wie wir dies über Braunschweig sagen können oder das Schicksal der Christen in der DDR zumindest aufmerksam verfolgten. Als Stichworte kann ich den Wehrkundeunterricht nennen, das Verbot der Kriegsdienstverweigerung, oder die Selbstverbrennung des bedrängten Pfarrers Brüsewitz. Diese Themen im Verhältnis von Kirche und SED-Staat waren nicht zuletzt wegen deutsch-deutscher kirchlicher Verbindungen auch im Westen präsent, denn Dank der kirchlichen Arbeit blieben zahlreiche menschliche Verbindungen zwischen Ost und West bestehen. Und in den braunschweigischen Exklaven lebte eine bestimmte Haltung der Zusammengehörigkeit mit der jahrhundertalten Mutterkirche fort, die in einer Schilderung von  1987 so beschrieben wurde: "Man konnte auf der Propsteisynode den Synodalen noch so sehr die neue kirchliche Lage vor Auge stellen, am Schluss stand bestimmt einer auf mit dem Bemerken, 'und im Übrigen sind wir doch Braunschweiger'".

Über mehr als vier Jahrzehnte also haben sich Christen dies- und jenseits der Grenze als Glieder der gemeinsamen braunschweigischen Landeskirche empfunden. Sie haben Verbindungen und Austausch gepflegt, selbst als dies für die einen mühsam und für die anderen risikoreich war. Sie wollten ihre Gemeinsamkeiten als braunschweigische Lutheraner nicht von einem religionsfeindlich, zentralistisch und autoritär denkenden kommunistischen Regime zerstören lassen und ganz sicher galt dies auch für ihre Verbundenheit als Deutsche in zwei unterschiedlichen deutschen Staaten.
Abgesehen von allem Handeln der Kirchenleitungen, abgesehen von allem öffentlichen Einfluss der Kirchen, haben Menschen in dieser 450 Jahre alten Landeskirche den Zusammenhalt von Christen und von Deutschen gestärkt. Sie haben damit nicht nur menschliche Kontakte aufrechterhalten und einander unterstützt, sie haben beharrliche geschwisterliche Brücken zwischen Ost und West gebaut, die Mauer durchlässiger gemacht, kirchlichen Spielraum in der DDR vergrößert und letztlich ohne es zu wissen oder ahnen zu können, Vorarbeiten geleistet für ein Überwinden der Trennung und für das Zusammenwachsen unseres Landes. All dies war den Mächtigen Grund zu ständiger Angst und den Unterdrückten Grund, Hoffnung zu bewahren.

Hoffnung – zum Beispiel darauf, dass Dinge in Bewegung geraten können, diese Hoffnung hat uns allen im Osten 1989 geholfen, unserer Angst "Auf Wiedersehen" zu sagen und den aufrechten Gang zu wagen.

Die Rolle der Kirchen in der Friedlichen Revolution 1989 dürfte den meisten von Ihnen vor Augen sein. Sie ist zu Recht vielfach gewürdigt worden und kann dennoch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Die Friedensgebete, die Gründung der Sozialdemokratie im Pfarrhaus von Schwante, aber vor allem die ermutigten Menschen, die – auch gestärkt aus der kirchlichen Arbeit – bereit waren, die Sache in die Hand zu nehmen. Die Pfarrer Christoph Wonneberger und Christian Führer aus Leipzig. Pfarrer Rainer Eppelmann aus Berlin, der zahllosen Wehrpflichtigen Hoffnung gab. Martin Böttger, der Kontakt zu polnischen und tschechischen Oppositionellen hielt. Die Diakonin Marianne Birthler, die gemeinsam mit Gerd Poppe und vielen anderen in der Initiative "Frieden und Menschenrechte" wirkte. In meiner Heimatstadt Rostock denke ich an Dietlind Glüer, die mit Mutterwitz und Gottvertrauen andere motivieren und inspirieren konnte.

Vielen hier im Raum werden solche Personen in Erinnerung sein. Das mag daran liegen, dass die Kirchen wohl der einzige Raum in der DDR waren, in denen demokratisches Verhalten trainiert und institutionalisiert wurde. Bis auf Thüringen tagten im sonst demokratiefreien Raum DDR alle Synoden öffentlich und erfüllten jedenfalls mehr Grundregeln des Parlamentarismus als das so genannte Parlament der DDR. Wenn wir uns erinnern, welche oft kritisierte Dominanz Pfarrer bei den Gründungen erster demokratischer Gruppen in der DDR 1989 spielten, können wir vermuten, dass das Einüben demokratischen Handelns in den Strukturen der Kirchen jedenfalls hilfreich gewesen sein wird für die spätere Übernahme politischer Verantwortung von Menschen, die in der DDR im kirchlichen Raum wirkten.

Wenn wir nach der Erringung der Freiheit die Rolle der Kirchen auf dem eigentlichen Weg zur staatlichen Einheit ansehen, wird uns heute manches erstaunen. Vielleicht haben die Kirchen 1989 so vieles richtig gemacht, dass sie ab 1990 auch Raum für manch Unperfektes lassen mussten. Ideen eines dritten Weges bestanden in protestantischen Kreisen jedenfalls erheblich länger als anderswo und auch, nachdem die Losung der Demonstranten schon längst gewechselt hatte von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk". Und mehr noch: Das Scheitern der sozialistischen Gesellschaft der DDR wollten manche Kirchenvertreter in der DDR noch im Sommer 1990 "nicht vorschnell als (….) Untergang sozialistischer Ideen gedeutet" wissen.

Es war wohl nicht falsch, was verwunderte Protestanten 1990 über die Debatten in ihren Kirchen in Ost und West schrieben: "Wo Dankgottesdienste für das Ende der Stasi-Herrschaft und der bürgerlichen Unfreiheit fällig wären, werden Klagemauern für den befürchteten Verlust der besonderen Errungenschaften aus der Zeit der 'Kirche im Sozialismus' errichtet."

Nicht in allen Teilen der Kirche war die Sehnsucht nach Zusammenwachsen so groß wie hier in Braunschweig, wo schon im Herbst 1990 26 der 30 blankenburgischen Kirchengemeinden die Rückkehr in die braunschweigische Landeskirche beantragten. Es dauerte etwas, bis die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen im Sommer 1991 eine Sprache fanden, die dem Gewinn von Freiheit und staatlicher Einheit gerecht wurde: "Das ist für uns ein Grund zu staunender Freude".

Debatten über das Wie des Zusammenwachsens waren aber in der Tat zu führen, gerade im Verhältnis zum Staat. Denken wir an die Themen von Religionsunterricht und Kirchensteuer. Und: Die Kirche, die in der DDR doch auch Sammlungsraum für Unangepasste aller Art war und die sich ja zu einem großen Teil auch in Ablehnung des kommunistischen Regimes definierte, sah sich nun einem Staat gegenüber, der kirchliches Wirken nicht bekämpfte, sondern förderte und sich im Grundgesetz sogar in Verantwortung vor Gott stellt. War die DDR-Kirche nicht auch glaubwürdiger und deshalb näher an den Menschen, weil sie "nicht mit der politischen Macht im Bunde" war?

Nicht alle derartigen Fragen waren Ausdruck genereller Vereinigungsskepsis, die ich ja beschrieben habe. Und tatsächlich waren und blieben die Bedingungen kirchlicher Arbeit im Osten natürlich auch nach der 1991 vollzogenen Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland anders als im Westen – nicht nur aus innerkirchlichen Gründen, sondern vor allem, weil die Einstellungen der ostdeutschen Bevölkerung zur Religion eine fundamental andere war und ist als im Westen.

Auch dort sinkt zwar der Anteil der konfessionell Gebundenen und es steigt die Zahl der Indifferenten oder Desinteressierten. Und auch in anderen Bereichen gesellschaftlicher Betätigung begegnen uns Unterschiede, etwa bei der Verankerung in Parteien, Gewerkschaften oder Bürgergruppen. Doch die Wissenschaft beobachtet beim Thema Religion im Osten ein Phänomen, das über Desinteresse hinausgeht: die Selbstdefinition als "überzeugte Atheisten", die in internationalen Vergleichen einen weltweiten Spitzenwert erreicht. Der Soziologe Heiner Meulemann begründet dies damit, dass die Distanz zur Religion in der DDR über die "Leerstelle" von Unsicherheit oder Kirchenferne hinausging und positiv motiviert war durch die "Überzeugung der Gegenstandslosigkeit der Religion". Die Ostdeutschen hätten sich nach 89 zwar von der "sozialistischen Moral" der DDR gelöst, aber nicht von ihrer säkularen Weltsicht, da diese sich "weder wie die staatssozialistische Ordnung diskreditiert noch in der neuen Sozialordnung als dysfunktional erwiesen hat."

Auch in anderen Bereichen – etwa beim Wahlverhalten – fragen sich manche von uns: Wie lange sind wir noch so verschieden? Wie lange glauben, handeln, wählen wir noch anders? Generell rate ich dabei zu Geduld und zur schlichten Anerkennung der Tatsache, dass der Weg vom Untertanen in einer Diktatur zum selbstbewusst handelnden Bürger lang ist und unterschiedliche Prägungen Generationen überdauern. Wer eine Existenz als religiöses Wesen nie als etwas menschgemäßes, sondern nur als etwas Absterbendes erleben konnte, wird selber selten Fragen wagen, die ihn in religiöses Denken führen könnten. Gerade in Fragen der eigenen Existenz, auf dem Weg einer eigenen Ichwerdung, sind wir Menschen stärker in dem verhaftet, was uns und unsere Vorfahren geprägt hat, als wir es manchmal vermuten. Geduld werden wir also brauchen.

Von den Kirchen aber – das ist mein abschließender Gedanken – wünsche ich mir, dass sie mehr als Geduld aufbringen. Zu jahrzehntelang überlebenden Gefühlen von Zusammengehörigkeit trotz Mauer haben die Kirchen Großes beigetragen und auch den Prozess der Vereinigung mitgestaltet. Ich wünsche mir, dass sie auch den noch immer nicht abgeschlossenen Prozess der inneren Einheit unseres Landes mutig mitgestalten. Unterschiede werden dabei bleiben, ganz deutlich auch im religiösen Leben.

Aber die Kirchen haben etwas anzubieten auf dem Weg, den wir uns für unser Land wünschen: Sie können Menschen stärken und ermutigen, aus dem Glauben heraus, aber auch aus der gesellschaftlichen Arbeit so wie sie es zu Zeiten der Unterdrückung getan haben. Sie können Menschen befähigen, Gott, Anderen und sich selbst zu vertrauen. Gott hat uns doch nicht zum Abwarten oder zum Rummosern berufen, sondern zum Handeln!

Wenn sich die Blankenburger nach 40 Jahren Teilung als "Braunschweiger" empfunden hatten, hatte dies doch weniger konkrete sachliche Gründe als vielmehr die Verwurzelung in einer 400 Jahre alten Tradition - und diese Verwurzelung hat sie gestärkt, sogar zu regelrecht widerständigen Handeln. Dies oder auch, dass Kräfte des Aufbruchs 1989 besonders von Menschen ausgingen, die in der kirchlichen Arbeit bestärkt wurden, lässt sich nicht ins Heute übertragen, das ist ja klar.

Aber auch eine Landeskirche wie Ihre, mit allen, die in ihr wirken, kann Menschen beheimaten, stärken, aufmerksam sein lassen, für das was um uns herum passiert. Sie kann verschiedene Menschen zusammenführen und ermöglichen, Gemeinschaft zu erleben – und Gemeinde. Sie kann Ermutigung ausstrahlen – zum Menschsein, zum Bürgersein, zum Christsein. Durch einen offenen Geist, der Menschen einbindet, die eher gleichgültig sind. Durch Offenheit für die Meinung des Anderen. Aber auch für mutiges Bekenntnis zu dem, was wir selber denken, glauben, hoffen.

Und dadurch, dass wir uns doch bitte nicht klein machen. Wer heute auf 450 Jahre landeskirchliche Geschichte blickt, auf 450 Jahre Verwurzelung bei den Menschen – welche ernsthaften Konkurrenten außer eigene Mutlosigkeit, äußere Gleichgültigkeit und Geistlosigkeit muss er denn bitte fürchten? Haben wir doch Zutrauen zu den Möglichkeiten, die in uns liegen. Sie sind oftmals größer, als es uns bewusst ist.

1990 fasste die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen das kirchliche Wirken in der DDR etwas staunend zusammen: "Auch wenn die Christen zunehmend eine Minderheit in der Gesellschaft waren, so sind sie in ihr doch wirksam gewesen. In und mit ihrer Kirche haben sie eine Ausstrahlungskraft gehabt, mit der sie selber oft gar nicht mehr gerechnet haben."

Trauen wir, Christen, Bürger, Demokraten uns zu, Ausstrahlungskraft zu entwickeln!