Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Ehrenbürger Rabbi Wolff

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Austausch mit dem Landesrabbiner William Wolff im Rathaus

©Joachim Kloock

Austausch mit dem Landesrabbiner William Wolff im Rathaus

Verleihung des Rostocker Ehrenbürgerrechts

12. Juni 2017, Rostock

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Geschichte geht manchmal wundersame Wege. Zwei Mal schon hat jüdisches Leben in Mecklenburg gänzlich aufgehört zu existieren. Das erste Mal am Ende des 15. Jahrhunderts, als 27 Juden in dem sogenannten Sternberger Pogrom auf dem Scheiterhaufen verbrannt und alle übrigen – 247 an der Zahl – aus Mecklenburg vertrieben wurden. Das zweite Mal Mitte des 20. Jahrhunderts, nachdem die nationalsozialistische Judenverfolgung einen Teil der Juden in die Emigration getrieben und die übrigen in Gaskammern und durch Zwangsarbeit vernichtet hatte. Nur etwa 75 Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft haben den Holocaust in Mecklenburg überlebt. Manche haben ihre Herkunft ignoriert, manche wanderten nach Palästina bzw. Israel aus, noch andere flohen nach Westdeutschland.

Allerdings ist beide Male jüdisches Leben in Mecklenburg wieder neu entstanden – das eine Mal nach knapp zwei Jahrhunderten, das andere Mal nach einigen wenigen Jahrzehnten. Zehntausende von Juden ließen sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in West- aber eben auch in Ostdeutschland nieder. 1994 wurde in Rostock eine neue jüdische Gemeinde gegründet – inzwischen ist sie mit 620 Mitgliedern größer, als eine jüdische Gemeinde jemals zuvor in der Rostocker Geschichte war.

Meine Damen und Herren,

Wenn man zu der Generation gehört, die im Krieg geboren ist und vielleicht das Verschwinden von Nachbarn erinnert,

wenn man – wie ich - als junger Mensch erlebt hat, wie die Eltern-Generation wenig oder nichts über die Verfolgung gegenüber den Juden berichtet hat,

wenn man – wie ich in der DDR – zur Kenntnis nehmen musste, dass die Regierung jede Entschädigung gegenüber Juden und gegenüber Israel verweigerte und sich in die pro-arabische Politik der Sowjetunion einbinden ließ,

dann ist das, was seit einem Vierteljahrhundert geschieht, ein Grund für großes Staunen und für tiefe Dankbarkeit: Ungefähr eine Viertel Million Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus Russland und der Ukraine, haben in Deutschland eine Zukunft gesucht und gefunden – ausgerechnet in Deutschland. In den letzten Jahren sind noch tausende von Israelis hinzugekommen. Die Zahl der Gemeindemitglieder in ganz Deutschland ist von knapp 30.000 auf 100.000 gewachsen. Und auch in Ostdeutschland gibt es wieder jüdisches Leben!

Ja, Geschichte geht manchmal wundersame Wege. Die neue jüdische Gemeinde in Rostock versteht sich als Nachfolgerin der alten jüdischen Gemeinde vor 1933 – dabei sprach keiner ihrer Gründungsmitglieder Deutsch. Mit der neuen jüdischen Gemeinde sind wieder hebräische Lieder und jüdische Bräuche in die Stadt eingezogen – dabei hatte fast keiner der neuen Gemeindemitglieder Kenntnisse über das Judentum oder einen inneren Bezug zur jüdischen Religion. Denn in der Sowjetunion war gelebter Glaube weitgehend unmöglich, zumindest brachte er massive Nachteile mit sich.

Und an dieser Stelle komme ich zu Rabbiner Wolff, der Ehrenperson des heutigen Tages. Dass aus ehemaligen Sowjetbürgern Juden wurden, die ein synagogales Leben tragen und Rosch haSchana, Jom Kippur, Pessach oder Schawuot begehen, die mit ihren Kindern Bar Mitzwa bzw. Bat Mitzwa feiern und ihre Verstorbenen mit der Trauerrede eines Rabbiners verabschieden – all das verdanken sie vor allem dem Mann, der von 2002 bis 2015 Landesrabbiner der jüdischen Gemeinden Mecklenburgs war: Wilhelm, Willy, William Wolff.

Er war die rechte Person zur rechten Zeit. Unkonventionell in unkonventioneller Lage. Obwohl – oder vielleicht besser: weil er nicht dazugehörte. Denn weil er selbst zeit seines Lebens einen engen Bezug zur jüdischen Religion hatte, und weil er seinen Gemeindemitgliedern mit großer Offenheit begegnete, gleichzeitig aber gute Beziehungen zur lokalen Verwaltung und zur Landesregierung herstellte, schuf er dem Judentum in Rostock wieder einen respektierten, einen würdevollen, einen geerdeten Platz.

Lieber Rabbi Wolff, ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde!

Was aber ist das für ein Mensch, der ein neues, sehr verantwortungsvolles und zeitraubendes Amt noch antritt, wenn andere längst den Ruhestand genießen? Der sich mit 75 Jahren noch zumutet, einen Anfahrtsweg zum Dienstort in Kauf zu nehmen, der ihn zwingt, vom Auto ins Flugzeug und vom Flugzeug in die Bahn umzusteigen, und nicht nur die Stadt, sondern auch das Land zu wechseln?

Eigentlich ist Willy Wolff ein Berliner. Und er wäre es wohl auch geblieben, wenn die nationalsozialistische Judenverfolgung die Familie nicht zur Emigration gezwungen hätte. Schon wenige Monate, nachdem Hitler an die Macht gekommen war, hat die Mutter die Ausreise nach Amsterdam durchgesetzt. Und wenige Tage, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, hat Vater Wolff seine Frau und drei Kinder nach London geholt. Seitdem ist England das neue Zuhause von Willy Wolff und London seine Heimatstadt.

Wer den wunderbaren Film von Britta Wauer über "Rabbi Wolff" gesehen hat, der weiß aber auch, dass Heimat für den Rabbi vor allem da ist, wo seine Bücher sind. Nie hat er daher gezögert, wenn er, und sei es zeitweilig, an andere Orte gerufen wurde. Mal nach Newcastle, mal nach Milton Keynes, mal ins südafrikanische Johannesburg oder eben nach Rostock und Schwerin.

Willy Wolff hat sich noch mit Mitte siebzig und Mitte achtzig seine Neugier erhalten und ist lern- und anpassungsfähig geblieben. Warum auch sollte jemand, der mit 52 Jahren Hebräisch lernte, mit 75 Jahren nicht auch noch Russisch lernen? Als einziger in der Gemeinde, für den Russisch nicht die Muttersprache bildete, hat Rabbi Wolff der besseren Verständigung wegen die Sprache seiner Gemeindemitglieder gelernt und seine Predigten ins Russische übersetzen lassen – in Schwerin hat er sie zum Teil selbst auf Russisch vorgetragen.

Die Erfordernisse des Glaubens wusste er auf versöhnliche Weise den Gegebenheiten vor Ort anzupassen. Koscheres Essen? "Es gibt keinen einzigen jüdischen Schlachter in Mecklenburg", stellte er trocken fest. "Das Fleisch aus Berlin und Hamburg zu beziehen, kostet ein Vermögen. Also niemand hier hat einen koscheren Haushalt."

Für welche Strömung im Judentum er sich in der Gemeinde stark machte? "Wir brauchen keiner Strömung anzugehören", entschied er. "Wir sind die einzige jüdische Gemeinde in Mecklenburg. Punkt!" Also ist die Gemeinde: sowohl – als auch. Sie ist nicht richtig orthodox, weil der Wochenabschnitt aus der Bibel auch auf Russisch vorgetragen wird. Sie ist aber auch nicht richtig liberal, weil die Frauen nicht gleichberechtigt sind und nicht aus der Tora lesen und keine Gebete vortragen dürfen. Diesen Wunsch eines großen Teils der Gemeindemitglieder respektiert Rabbi Wolff, denn wichtiger, als seine eigene Reformorientierung durchzusetzen, ist es ihm, eine Spaltung der Gemeinde zu verhindern.

Das erinnert mich an die jüdische Gemeinde vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Gemeinde sei zu klein gewesen, berichtete Yaakov Zur, der seine Kindheit in Rostock verbrachte und später nach Palästina ging, zu klein, um sich zwei Synagogen leisten zu können. Deshalb sei das Anfang des 20. Jahrhunderts gebaute Gotteshaus eine Synagoge "der Mitte" gewesen. Ohne Orgel, wie sie zum Kennzeichen der Reformsynagoge geworden war, aber schon nicht mehr mit der hermetischen Trennung von Frauen und Männern, wie sie in der orthodoxen Synagoge üblich war. "Die Rostocker Gemeinde war ein Kompromiss", erinnerte sich Yaakov Zur, ein Kompromiss, "der der Gemeinde die Existenzmöglichkeit bot. Die Synagoge war wichtig für alle. Hier konnten sich alle Schattierungen des religiösen Lebens treffen." Mir scheint, dass das, was einst für die Synagoge in der Augustenstraße 101 galt, heute nicht zuletzt dank Rabbi Wolff in gleicher Weise für die neue Synagoge in der Augustenstraße 20 gilt.

Willy Wolff wusste spätestens mit sechzehn Jahren, dass er entweder Journalist oder Rabbiner werden wollte. Und tatsächlich ist er beides geworden. Fast drei Jahrzehnte arbeitete er bei englischen Tages- und Wochenzeitungen, bevor er im Alter von 52 Jahren mit dem Rabbinerstudium am Leo Baeck College in London begann. Mögen diese beiden Berufswege auf den ersten Blick auch als sehr widersprüchlich erscheinen, so gibt es für mich doch einen inneren Zusammenhang: Sie ergänzen sich und sie bedingen einander.

Die eine Seite in Willy Wolff war und ist am politischen Leben interessiert, an den aktuellen Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik, an der permanenten Nervosität des politischen Geschäfts – er kauft bis heute so viele Zeitungen, wie er unmöglich lesen kann. Die andere Seite in ihm braucht die Verankerung, das Ritual, die Tradition, die Besinnung auf die ewig gleichen Gesetze, den Gesang beim Vorlesen der Tora, braucht die Ruhe und die Sammlung. Mir scheint, diese feste Beheimatung im Glauben ist die Voraussetzung dafür, dass Willy Wolff sich dem Leben so ohne Angst und ohne Vorbehalt öffnen kann. Dass er die Berührung mit anderem Glauben, mit anderen Weltanschauungen, mit anderen Menschen nicht fürchtet. Dass ihm einfach nur ein "Herrlich, herrlich!" entschlüpft und sich ein Lächeln auf seinem Gesicht zeigt, wenn ihm Kinder auf einer Brücke im Treptower Park von Berlin lärmend entgegen laufen – Kinder, die etwa so alt sein mögen wie Willy Wolff, als seine Kindheit durch die erzwungene Emigration abrupt zu Ende ging.

Das erscheint mir das Erstaunlichste an Willy Wolff: Er ist ein Mensch geblieben – vielleicht auch geworden –, der trotz des vergangenen blutigen Jahrhunderts Ja zum Leben sagt. Er ist fähig zur Freude über große wie kleine Dinge. Jeder, der den Film über ihn sieht, erkennt seine heitere Ernsthaftigkeit und seine Menschenliebe. Er erkennt, dass es sich um einen Menschen handelt, der seine geistige und geistliche Heimat gefunden hat. Ich sehe in Rabbi Wolff einen zutiefst dankbaren Menschen, einen Gesegneten.

In meinen Augen ist er ein wahrhaft Liberaler. Einer, der Andere nicht zu etwas bekehren möchte, sondern der Menschen dann zur Verfügung steht, wenn sie ihn brauchen – damit er ihnen Trost spendet, damit er sich mit ihnen freut, damit er ihrem Leben einen geistlichen Halt und einen rituellen Rahmen gibt. Er ist einer, der dem eigenen Glauben in einer fremden Umgebung auf eine ganz selbstverständliche, weder auftrumpfende noch abwehrende Weise treu bleibt – das hat er in seiner Kindheit in christlicher Umgebung gelernt. Bis heute feiert er Heiligabend in der Schlosskirche von Windsor und Weihnachten bei anglikanischen Freunden.

Willy Wolff hat seinen ganz eigenen Weg zum Judentum gefunden. Er ist nicht in die Fußstapfen des orthodoxen Vaters getreten, sondern hat im liberalen Judentum ein neues Zuhause gefunden. Er hat sich aber auch nicht die Haltung der Mutter zu Eigen gemacht, die von Religion nicht viel hielt. Sie sei, hat Wolff gestanden, "nicht sehr entzückt" gewesen, als sie erfuhr, dass er das Rabbinerseminar besuchte und habe nur lakonisch kommentiert: "Mir wäre es lieber gewesen, er wäre Journalist geblieben!" Diese gar nicht so kleine Differenz hat allerdings an dem engen Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nichts geändert.

Die Existenz als Rabbiner hat aus Rabbi Wolff keinen – wie er es sagt – "religiösen Beamten" und auch keinen weltabgewandten Asketen werden lassen. Es gibt für ihn ein Leben neben dem Dienst für Gott. Bereits seit über 40 Jahren reist er zu dem berühmten Königlichen Pferderennen in Ascot – ich weiß, lieber Rabbi Wolff, in einigen Tagen ist es wieder so weit. Wahrscheinlich werden Sie wieder nichts gewinnen, aber es wäre doch schade, wenn der knielange Gehrock und der Zylinder, die Sie sich wegen des strengen Dresscodes zugelegt haben, das ganze Jahr ungenutzt im Schrank hängen blieben.

Lieber Rabbi Wolff,

was Sie vorgelebt haben und weiter vorleben, ist vorbildlich gerade in der heutigen Zeit. Die Welt ist vielfältiger geworden – zur Freude der Einen und zur Furcht der Anderen. Mit Ihrer Offenheit zeigen Sie, dass uns das Unbekannte nicht erschrecken muss, wenn wir uns ihm stellen und es analysieren. Sie zeigen auch, dass wir Souveränität im Umgang mit dem Anderen nicht gewinnen, wenn wir ihn abwerten oder dämonisieren, sondern wenn wir auf ihn zugehen, weil wir uns unserer selbst sicher sind.

Es hat mich tief berührt, wie Sie auf uns Deutsche zugekommen sind und weiter zukommen, obwohl Deutschland Sie und Ihre Familie als nicht zugehörig vertrieben hat. Weder Fremdenfeindlichkeit noch Antisemitismus noch Holocaust haben aus Ihnen einen verbitterten Menschen gemacht. Deutsche – so haben Sie über das neue Deutschland gesagt – hätten in ihrer überwältigenden Mehrzahl Verantwortung für die Vergangenheit übernommen, und damit Ihnen und anderen Zuwanderern ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Danke, lieber Rabbi Wolff, für diese Rückmeldung an unser Land und an all die Menschen, die sich hier in Rostock seit 1989 für die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte eingesetzt haben. Zwar lebe ich seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr hier, aber als meiner Heimatstadt fühle ich mich Rostock weiterhin eng verbunden. Und so bin auch ich dankbar etwa für die verdienstvolle Arbeit von Frank Schröder und dem Max-Samuel Haus, die so manchem Überlebenden eine Wiederannäherung an den verlorenen Ort seiner Kindheit und Jugend ermöglicht haben. Rostock stellt sich den dunklen Seiten seiner Geschichte und lässt Einheimische wie Eingewanderte nicht vergessen, was der Mensch dem Menschen antun kann.

Mag Rostock für Willy Wolff auch erst in den letzten 15 Jahren zum festen Bezugspunkt seines Lebens geworden sein, so ist es Deutschland doch – irgendwie – immer geblieben. Eine Verbundenheit irgendwo in der Tiefe, die ihm spätestens wieder zu Bewusstsein kam, als Europa wieder eins wurde und die Mauer fiel. Rabbi Wolff war damals auf dem Weg zu einem Abendgottesdienst und verfolgte im Autoradio die Berichte aus Berlin. "Sonst bin ich nicht so nah am Wasser gebaut", bekannte er später. "Aber als ich all das hörte, kamen mir die Tränen. So wusste ich, wie sehr mich das deutsche Schicksal immer noch bewegte. Ich habe im Gottesdienst direkt auf den Mauerdurchbruch Bezug genommen und ein Dankesgebet gesagt. Ich hatte einfach das Bedürfnis. Ich weiß nicht, wie viel es meinen englischen Gemeindemitgliedern bedeutet hat, aber mir war es sehr wichtig. Meines Erachtens bleibt es für die europäische Geschichte ein genauso bedeutendes Ereignis wie die Französische Revolution, die genau zweihundert Jahre früher stattfand."

Wenn wir diese Worte hören, können wir älteren Rostocker uns gut vorstellen, dass Rabbi Wolff, hätte er damals bereits in Rostock gelebt, 1989 mit uns aufgestanden und mit uns gegangen wäre. Damals, als aus unseren Protesten in den Kirchen eine machtvolle Bewegung, ja eine friedliche Revolution wurde.

Ja, wir blicken nicht nur auf wundersame Wege in der Geschichte. Wir blicken auch auf Wege, für die wir dankbar sein können und wollen. Die Stadt Rostock, insbesondere die Jüdische Gemeinde, aber auch alle Bürger sind dankbar dafür, dass Sie, lieber Rabbi Wolff, jüdisches Leben und den Geist der Toleranz in unserer Stadt gestärkt haben. Und wir alle sind dankbar dafür, dass Sie heute einer von uns, dass Sie Rostocker geworden sind.