Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Festakt 1000 Jahre Dom zu Worms

Menü Suche
Joachim Gauck beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Worms

©Norbert Rau/Domgemeinde St. Peter Worms

Joachim Gauck beim Eintrag in das Goldene Buch der Stadt Worms

Festakt "1000 Jahre Dom zu Worms"

09. Juni 2018, Worms

Die christlichen Wurzeln des Abendlandes – Sind sie morsch geworden?
Der Beitrag der Kirchen für die Zukunft Europas.

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

I

Vor genau 1.000 Jahren legte Bischof Burchard I. in Gegenwart seines Kaisers Heinrich II. den Grundstein für den Dom St. Peter in Worms. Er wurde an der Stelle der aus merowingischer und karolingischer Zeit stammenden Vorgängerbauten errichtet. Die Bischofsliste lässt sich sogar bis ins 7. Jahrhundert zurückverfolgen. Das Bistum Worms war einer der ältesten Bischofssitze.

Der Dom zu Worms, der zu Mainz und der Speyerer Dom sind alle im gleichen Zeitraum entstanden. Kaiserdome hat man sie genannt. Sie sind durchaus verschieden in ihren jeweiligen Ausdrucksformen: Worms wirkt auf mich wie ein Fels in der Brandung; Mainz ist spielerischer, und in Speyer stehen wir vor der größten romanischen Kirche der Welt. Man muss sich das einmal vorstellen: Auf einer Distanz von gerade einmal 100 Kilometern drei einzigartige Kirchenbauten, die die Zeit überdauert haben. Drei monumentale Kirchenschiffe, in denen in der Sprache ihrer Zeit das Evangelium verkündet und zugleich Macht und Herrlichkeit der Kirche im Diesseits demonstriert wurden. Man muss sehr weit fahren, um heute auf Menschen zu treffen, die den Mut haben, ihren Glauben mit so großartigen Gotteshäusern zu bezeugen. 

An einem Fest des christlichen Glaubens wollen wir heute aber auch daran erinnern, dass ungefähr um die gleiche Zeit, als mit dem Dombau begonnen wurde, in Worms auch eine jüdische Synagoge entstand. In dieser Stadt lebten Christen mindestens 1.000 Jahre zusammen mit Juden, heute würden wir sagen: mit ihren älteren Geschwistern. Es gab schlimme Pogrome, die uns als Christen auch heute noch beschämen müssen. Aber dennoch gab es immer wieder einen Neuanfang.

Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde allerdings alles in brutaler Weise anders: In der Pogromnacht im November 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt. In der Schoa wurde die Gemeinde ausgelöscht. Über dreihundert Frauen, Männer und Kinder wurden ermordet oder gelten seither als vermisst. Seitdem gibt es keine eigenständige jüdische Gemeinde mehr in Worms. Dies erwähne ich ganz bewusst, weil uns die Freude über die christliche Tradition, die wir heute in diesen 1000 Jahre alten Mauern empfinden, nicht das Ende des Wormser Judentums vergessen lassen darf.

II.

"Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hochkommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen." (Ps. 90, 10)

Selbst wenn wir inzwischen noch ein paar Jahre hinzurechnen können, nimmt sich die Lebensspanne eines Menschen doch sehr bescheiden aus gegenüber den 1.000 Jahren dieses Doms. Was wurde in diesen 1.000 Jahren nicht alles erfunden, verworfen und neu begründet?

Vor knapp 100 Jahren wurde nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Republik in Deutschland ausgerufen. Erstmals duften auch die Frauen zur Wahl gehen. Da stand der Wormser Dom schon 900 Jahre.

Vor ungefähr 370 Jahren beendeten die Friedenschlüsse von Münster und Osnabrück den 30-jährigen Krieg, dem auch in dieser Stadt unermesslich viel zum Opfer gefallen ist. Den Dom gab es damals schon über 600 Jahre.

Beim Reichstag von 1521, als Martin Luther vorgeladen wurde, um sich zu verteidigen, stand der Dom bereits 500 Jahre. Wenige Jahre zuvor hatte Luther in Wittenberg seine 95 Thesen verkündet, in denen er vor allem das Ablasswesen kritisch hinterfragte.

Zum Reichstag nach Worms kam Luther auf Vermittlung seines Kurfürsten Friedrich des Weisen. Friedrich verfolgte damit das Ziel, Luther in Gegenwart von Kaiser Karl I. auf dem Reichstag eine Bühne zu bereiten, auf der er seine Schriften und Predigten erläutern und verteidigen konnte. Als Luther nach einem Kreuzverhör zum Widerruf aufgefordert wurde, bat er um eine Nacht Bedenkzeit. Am nächsten Tag verweigerte er den Widerruf. Stattdessen erklärte er:

"... wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe (sic!) überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben (...). Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!"

Aus unserer heutigen Sicht muss man sagen: Luther war einer der ersten, die vor Kaiser und Reich das Gewissen verteidigt haben – mit aller Konsequenz. Hier in Worms erklärte er, dass er Gottes Wort und seinem Gewissen mehr gehorchen müsste als den Verlautbarungen der Kirche. Das war mutig! Sicherlich hatte Luther auch seine dunklen Seiten, er war sicher auch noch von mittelalterlichem Denken geprägt. Aber zumindest in einer Hinsicht war Martin Luther ein sehr moderner Mann: Er hatte durch Abwägen und Prüfen das Gewissen entdeckt und verteidigt. Und damit dem Individuum jene zentrale Rolle zugewiesen, wie sie in der Moderne bis heute prägend blieb.

Vielleicht haben wir in Deutschland und in einigen anderen Staaten eine besondere Situation, denn wir haben seit fünf Jahrhunderten zwei große christliche Kirchen. Wir haben erfahren, wie tragisch das sein kann, und wir wünschen, dass der Graben zwischen beiden möglichst schnell zugeschüttet werden sollte. Wir sind inzwischen viele Schritte aufeinander zugegangen – zum Glück gibt es die ökumenische Bewegung, auch wenn der Weg zur Einheit der Christen noch weit ist. Aber seit der Kirchenspaltung haben Christen in beiden Konfessionen versucht, das Heil Gottes zu ergründen, ihm nachzueifern und es anderen Menschen vorzuleben. Und ich denke: Wir dienen Gott vielleicht mehr, wenn wir ihm auf verschiedenen Wegen in geschwisterlicher Eintracht entgegengehen - und wenn jeder weiß, dass seine Erkenntnis nur ein Teil der Summe ist.

Lassen Sie mich noch eine letzte historische Reminiszenz beifügen: Im Zuge der Französischen Revolution hatten die siegreichen Truppen das gesamte linksrheinische Territorium besetzt. Die Folge davon war, dass die Wormser Gebiete links des Rheins dem Bistum Mainz zugeschlagen wurden. Doch der Schlüssel des heiligen Petrus, des Patrons des Doms und der Stadt, erinnert im Wappen des Bischofs von Mainz bis heute an das einst eigenständige Wormser Bistum. Und in Anspielung an diesen Schlüssel haben Sie das Jubiläumsjahr unter das Motto "Aufgeschlossen" gestellt.

Ich denke, dies ist ein Motto, das in unsere Zeit passt. Das großartige und wuchtige Bauwerk des Wormser Doms gibt dem Gläubigen wie dem Touristen oder dem zufällig Vorbeigehenden das Signal: Du bist mir willkommen. Das Gotteshaus steht dir offen. Ich bin weiterhin da für alle, die mich brauchen und suchen. Ich habe die Wirren von tausend Jahren überdauert und ich werde auch die nächsten Wirren überdauern.

Das empfinden unzählige Menschen als etwas Tröstliches. 

III.

Die christlichen Wurzeln des Abendlandes – sind sie morsch geworden? Immer wieder höre ich: Es sei allerhöchste Zeit für eine Neuausrichtung, denn wir hätten zu viele Wurzeln unseres christlichen Abendlandes bereits gekappt. Die gestaltende Kraft des Christentums würde über kurz oder lang verschwinden, und der Grund allen Übels liege in der westlichen Werte-Beliebigkeit. Angesichts dessen sei es nicht verwunderlich - mutmaßen manche sogar -, wenn die Kräfte des Islam die Oberhand auch im christlich geprägten Europa gewönnen.

Stimmt es also: Hat die Strahlkraft des Christentums nachgelassen?

Natürlich gibt es durchaus alarmierende Zeichen, und ich wäre der letzte, der sie für belanglos halten würde. Die Zahl der Kirchgänger geht in beiden Kirchen spätestens seit den 60er Jahren stetig zurück. Viele aus unseren Gemeinden haben nicht mehr das Gefühl, in den Gottesdiensten noch in ihrem Inneren angesprochen zu werden und für ihr Leben Relevantes zu erfahren. Vielleicht begegnet ihnen tatsächlich wenig Substantielles in den Predigten. Vielleicht haben sie auch verlernt, genauer hinzuhören. Vielleicht sind sie inzwischen leichter Verdauliches gewöhnt. Vielleicht ist es auch eine Mischung aus allem.

Auch der Zölibat dürfte eine Rolle spielen. Wobei ich allerdings zu bedenken gebe: Auch in den evangelischen Kirchen fehlt der Nachwuchs. Ich könnte mir vorstellen, dass die Dinge also viel tiefer liegen. Vielleicht haben beide Kirchen Probleme, Frauen und Männer zu finden, die mit beiden Beinen im irdischen Leben stehen und trotzdem an den Himmel glauben.

Vielleicht müssen wir uns ernsthaft der Frage stellen, ob wir überhaupt noch eine Botschaft haben, die die Menschen in ihrer Suche nach Sinn erreicht.

Wenn ich an mein Leben denke, so ist mir die befreiende und ermächtigende Botschaft des Evangeliums früh begegnet. Ich komme aus dem Osten Deutschlands und war damals als Pastor in Mecklenburg tätig. Die Kirchen waren in der SED-Diktatur ganz besondere Orte, Orte des Gebets, des Nachdenkens und des Widerstands, Orte, in denen eine Gegenkultur zur Staatsideologie gelebt und verbreitet werden konnte. Wir fanden nicht nur Einkehr und Trost im Glauben. Im kirchlichen Raum entstand auch eine unabhängige Friedensbewegung; in Jugend- und Gemeindegruppen diskutierten wir Menschenrechtsfragen und Fragen der Umwelt. Kirche – das war eine lebendige Gemeinschaft von Geistlichen und Laien, die sich über die Kirche hinaus für das Gemeinwesen verantwortlich fühlten. Die Christen waren zwar eine Minderheit, aber 1989 sollte sich zeigen, dass aus dieser Minderheit wesentliche Impulse und führende Akteure der Demokratiebewegung kamen.

Ich weiß: Heute verkörpern die Christen selbstverständlich keine Gegenwelt zu Staat und Gesellschaft. Heute stellen sich den Christen andere Fragen. Aber Fragen bleiben. "Die christliche Tradition" – so sagte es unlängst der Philosoph Charles Taylor - "hat Glaube immer als eine Reise gesehen, auf der wir uns verändern." Die Offenbarung ist einmalig, aber – so sagte es unlängst Kardinal Reinhard Marx – sie ist "offen für tiefere Erkenntnis".

Vor kurzem fand in Münster der 101. Katholikentag statt. Schätzungsweise 80.000 Menschen kamen in die Stadt – weit mehr, als das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und die Deutsche Bischofskonferenz angenommen hatten. Die Sehnsucht und das Interesse der Menschen an religiösen Themen und der Bedeutung des Glaubens für die Gegenwart sind also weiterhin da. Und das Christentum ist Ausgangs- und Bezugspunkt für das Gottes- und Menschenbild vieler Menschen auch außerhalb der Kirche geblieben.

Der Gott der Christen existiert nicht in unzugänglicher Ferne. Seitdem er Mensch geworden ist, existiert er in unser aller Alltag. Wenn Kirchen und Christen auch heute für Friedensliebe, das Streben nach Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz stehen, ist das eine Entwicklung, die viele Einzelne vollzogen haben, als sie aus ihrem Bezug zu Gott eine Bezogenheit zu ihren Mitmenschen gemacht haben. Und wenn Kirchen und Christen auch heute ihr Heil nicht in einer Gesetzesreligion suchen, sondern dem Menschen immer wieder zumuten, eigenverantwortlich vor Gott und den Menschen zu leben, so ist das eine Ermächtigung, die konstituierend bis in unsere Moderne blieb. Dass auf solch religiösem Boden weltliche Ordnungen gewachsen sind, dürfen wir uns bei dieser Jubiläumsfeier ruhig einmal bewusst machen.

IV.

Als Bischof Burchard I, der Erbauer dieses Doms, im Jahr 1000 nach Worms berufen wurde, waren Kirche und Reich weitgehend geeint. 200 Jahre zuvor hatte Karl der Große den Grundstein für das römisch-deutsche Kaisertum gelegt. Die blutigen Sachsenkriege, eine geschickte Außenpolitik und nicht zuletzt seine Bildungsreform, die auf eine Neuordnung in kirchlichem, kulturellem und herrschaftlichem Bereich abzielte, hatten das Reich und die Kirche enorm gestärkt. Beides waren die Pfeiler, auf die sich Karls Politik gründete.

Und heute? Machen wir einen Sprung von 1.000 Jahren in die Gegenwart. Die Europäische Union umfasst 28 Mitgliedsstaaten. 19 der 28 Staaten haben eine gemeinsame Währung. Circa 511 Millionen Menschen leben in der EU. Doch diese große Gemeinschaft, die als Friedens- und Demokratieprojekt auf starke Pfeiler gegründet schien und vom Westen aus eine Strahlkraft in den Osten und Süden des Kontinents entwickelte, steckt augenblicklich in der größten Krise ihrer Existenz.

In manchen Staaten müssen wir den Verlust der Rechtsstaatlichkeit fürchten, in anderen erneute Überschuldung. Ein Land wird die EU verlassen. Überall haben europaskeptische Parteien an Zustimmung gewonnen. Für kriegerische Auseinandersetzungen in unserer näheren oder ferneren Nachbarschaft gelingt es schon seit Jahren nicht, friedenssichernde Maßnahmen durchzusetzen. Und die bislang wesentlich von den USA gewährleistete Sicherheit kann noch nicht durch eigene Kräfte garantiert werden.

Ich bin mir trotzdem sicher: Eine gute Lösung kann nur mit Europa gefunden werden. Jeder unserer Mitgliedsstaaten ist viel zu klein, um mit den wirklich Großen mithalten zu können – ökonomisch, politisch und militärisch. Wir brauchen den Zusammenschluss, um im Weltgeschehen mit einer wirksamen Stimme mitreden zu können, zukunftssichernd, ausgleichend und friedensstiftend. Wir brauchen eine aufgeklärte, rationale und werteorientierte Politik, die an Bündnissen festhält, die Errungenschaft von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht verspielt und Solidarität weiterhin praktiziert: zwischen den Staaten und zwischen den Bürgern. Das gilt ganz besonders heute, wo nationalistische und populistische Bewegungen Ressentiments schüren und die Unzufriedenheit von Bürgern gegen angebliche Feinde im In- und Ausland richten.

Es freut mich, dass der Stillstand in der Europapolitik offensichtlich gerade überwunden wird. Der französische Staatspräsident hat auf seine Vorschläge zur Reform von Europa lange auf Antwort aus Berlin warten müssen – endlich kommt die Debatte nun in Gang. Vergessen wir nicht: Um Europa zukunftsfest zu machen, langt es nicht, auf die Erfolge der Vergangenheit zu verweisen. Vielmehr gilt es den ganz konkreten Nachweis zu führen, dass die Europäische Union auch unter veränderten europäischen und weltpolitischen Konstellationen von Vorteil für die EU-Bürger sein wird. Es gilt zu demonstrieren, dass die Fürsprecher der EU nicht einem idealisierten Konstrukt anhängen, sondern über ein erfolgversprechendes politisches Projekt verfügen – wenn Sie so wollen: über eine erfolgversprechende politische Vision.

Was mich neuerdings wieder optimistisch stimmt, ist die Stimmung unter den EU-Bürgern. Mehr als zwei Drittel – in Deutschland sogar drei Viertel der Menschen – nehmen wahr, dass ihr Land von der EU profitiert. So positiv war die Einschätzung seit 35 Jahren nicht mehr! Zu einem Teil dürfte dies auch den Kirchen zu verdanken sein. Anders als vor 1000 Jahren ist die Kirche zwar keine Säule des politischen Systems mehr. Doch Kirchen, Religionsgemeinschaften und Gläubige sind aktive Teile unserer Bürgergesellschaft, engagiert in den Debatten um die Zukunft unseres Landes und der Welt. Offen, ausgleichend, den Argumenten vertrauend und gleichzeitig ethisch geleitet. 

V.

Das galt und gilt ganz besonders in Bezug auf die Migrations- und Fluchtbewegungen der letzten Jahre. Wir wissen, dass es draußen in der Welt unzählig viele Flüchtlinge gibt, deren Ziel es ist, nach Europa zu kommen. Zum Teil herrscht in ihren Heimatstaaten Bürgerkrieg; zum Teil existieren die Staaten nur noch auf dem Papier; zum Teil bieten korrupte, arme Länder ihren Bürgern keinerlei Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Europa ist für viele dieser Menschen eine Sehnsucht, eine Hoffnung, ein Lichtblick. Und es liegt auch an uns, den Bürgern und Staaten der EU, wie das Antlitz Europas aussieht. Letztlich müssen wir entscheiden, ob wir sagen:

  • Wir haben keinen Platz mehr, wir schotten uns gänzlich ab, geht weiter!

Oder ob wir sagen:

  • Menschenrechte sind universell; nur offene Grenzen schaffen wirklich Chancengleichheit.

Oder kann es nicht auch noch eine dritte Möglichkeit geben, nämlich wenn wir sagen:

Wir lassen keinen im Stich, der vor Krieg und Terror zu uns flieht, die übrige Einwanderung aber bleibt den Regelungen der einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten überlassen. 

Was spricht zum Beispiel dagegen, dass wir hier in Deutschland verstärkt und gezielt Studium und Arbeit anbieten in Feldern, wo wir besonderen Bedarf haben. Dass wir verstärkt und gezielt Hilfe für die Herkunftsländer der Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Dass wir verstärkt und gezielt Unterstützung für jene Staaten organisieren, die überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aufgenommen haben.

Ich weiß, dass gerade Christen in der Willkommenskultur sehr engagiert waren und sind und gerade unter ihnen eine große Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge existiert. Andererseits bleibt auch richtig, was bereits tausendfach gesagt wurde und trotzdem keine Leerformel ist: Um wirklich Verfolgte schützen zu können, zugleich unseren Staat und unsere Gesellschaft nicht zu überfordern und unsere Demokratie zu bewahren, kann Deutschland seine Grenzen nicht für alle öffnen. Eine Politik muss sich auf die Zustimmung von Mehrheiten stützen können. 

Als Christen ist uns das Handeln in dieser Welt aufgetragen. Das stellt uns oft vor moralische Konflikte. Einer davon ist: Um offen zu bleiben für Menschen in existenzieller Not, sind Begrenzungen nötig gegenüber jenen, denen am aktuellen Aufenthaltsort keine Gefahr droht. Diese Politik muss nicht jedem gefallen und sie darf aus christlicher Haltung kritisiert werden. Ich finde sie aber auch für Christen nachvollziehbar und vertretbar.   

VI

"Aufgeschlossen" - Sie haben sich hier in Worms für ein Motto entschieden, das die Öffnung von Kirche und Christen gegenüber der Welt unterstreicht.

Natürlich suchen wir unsere Kirchen manchmal auf als einen Rückzugsort, an dem wir Distanz gewinnen zu den Sorgen, Problemen und Ängsten dieser Welt. Aber meistens tun wir dies nicht, um unsere Seelen gänzlich abzuschotten gegenüber dem, was außerhalb der Mauern geschieht. Vielmehr nutzen wir den geschützten Raum, um unsere menschlichen Schranken und Ängste gegenüber den Anforderungen in den ungeschützten Räumen zu überwinden. Wir wagen eine Beziehung zu Gott, die wir nie ganz beherrschen, aber die in uns aus Sehnsucht Hoffnung machen kann. Und aus Hoffnung ein Ja zu uns selbst – und daraus ein Ja zu den Menschen, den guten und gerechten, den zweifelnden und verirrten. Und wir spüren: Unsere Beziehung zu Gott strahlt aus und gibt uns Kraft für unsere Beziehungen zu den Menschen.

Das Wort "Aufgeschlossen" verstehen die am besten, die es auf ihr Herz beziehen. Ich möchte gern einem Glauben treu bleiben, der mir zu dieser Haltung verhilft.

Und am heutigen Tag fühle ich mich mit all denen verbunden, denen der Besuch in diesem Dom dabei hilft, Ängste und Ohnmachtsgefühle zu überwinden und hoffnungsstark zusammen mit anderen Hoffnungsvollen unser Land und Europa als einen Raum von Menschlichkeit und Solidarität zu gestalten.