Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Verleihung-Menschenrechtsfilmpreis

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede in Nürnberg anlässlich der Verleihung des Menschenrechtsfilmpreises

©DMFP/Oliver Gerhartz

Ansprache in der Tafelhalle

Teilnahme an der Verleihung des Menschenrechtsfilmpreises

08. Dezember 2018, Nürnberg

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

"(…), da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben der Menschen gilt, (…) verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (…):

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."

In zwei Tagen wird es 70 Jahre her sein, dass die Vertreter aller Kontinente bei den Vereinten Nationen sich auf diese Erklärung einigten und erstmals Rechte für alle Menschen proklamierten. Weltweit. Unterschiedslos und unabhängig von nationaler oder sozialer Herkunft, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.

 Wir wissen, was vor über 70 Jahren das Gewissen der Menschheit empörte: Es waren die unvorstellbaren Gräueltaten, das millionenfache Morden und all die entsetzlichen Verbrechen der Deutschen, die ganzen Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Religion, ihrer politischen Anschauung, ihrer Herkunft oder anhand des Gesundheitsstandes jegliche Würde, ja sogar das Menschsein an sich absprachen. Das Gewissen der Menschheit war empört, weil niemand auf der Welt – nicht einmal in den entferntesten Winkeln – die Augen vor den verstörenden Bildern verschließen konnte, die etwa von den Befreiern der Konzentrationslager gemacht wurden.

Bilder etwa aus Majdanek vom 23. Juli 1944, vom 27. Januar 1945 aus Ausschwitz oder vom 11. April 1945 aus Buchenwald. Noch heute stehen uns die Bilder klar vor Augen, die uns das eigentlich Unvorstellbare und das Leid erahnen lassen, dass Menschen anderen Menschen in ihrem Wahn angetan haben. Weil die Bilder und die zugehörigen Berichte über das Ausmaß der Verbrechen um die Welt gingen, war das Entsetzen, die Empörung nicht nur in Europa und in den Vereinigen Staaten, in den westlichen Ländern groß, sondern auch in Asien, Afrika und Lateinamerika.

Siebzig Jahre nachdem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde, lohnt es sich noch einmal kurz auf die Entstehungsgeschichte dieser Resolution zu schauen, um einige aktuelle Missverständnisse und vor allem kulturrelativistische Positionen aus dem Weg zu räumen.

Es lässt sich nicht von der Hand weisen: Die wesentlichen Impulse zur Proklamation der Menschenrechte kamen aus dem Westen, insbesondere von den Vereinigten Staaten. Viele der freiheitlichen Forderungen lassen sich auf die französische und amerikanische Revolution und deren Geist zurückführen. Und die sozialen Menschenrechte, die "Freiheit von Furcht und Not" haben ihren Ursprung wohl auch in der "New Deal"-Politik des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Seine Witwe, Eleanor Roosevelt, war als Vorsitzende der 18-köpfigen Menschenrechtskommission, die 1947 mit der Verfassung des Entwurfs betraut wurde, auch treibende Kraft für die Annahme des Textes. Die Kommission selbst bildete jedoch die Heterogenität der Weltgemeinschaft ab und setzte sich aus Vertretern unterschiedlicher religiöser, politischer und kultureller Herkunft zusammen. Ihr Stellvertreter war im Übrigen Peng Chung Chang, ein Chinese.

In ihren Memoiren erinnert sich Eleanor Roosevelt auch an sehr lebhafte Diskussionen aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und philosophischen Prägungen der Kommissionsmitglieder.

Wer heute also unter Verweis auf kulturelle Unterschiede die Menschenrechte relativieren möchte oder diese gar als "westlichen Imperialismus" diskreditiert, der irrt und leugnet, dass die Erklärung von 1948 ein Kompromiss von 52 Staaten unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägung war. Unter den 48 Staaten, die der Erklärung zustimmten, waren fast alle Erdteile oder "Regionalgruppen", wie die Vereinten Nationen heute sagen würden, vertreten: Ägypten, China, Kuba, Äthiopien, Frankreich, Iran, Pakistan, Syrien, Türkei, die USA und Venezuela, um nur einige zu nennen.

Wer den Universalismus der Menschenrechte verneint, der leugnet auch, dass die Wurzeln der Menschenrechte in den unterschiedlichsten Kulturen unserer Erde liegen. Und er ist blind dafür, dass die Unterdrückten in jedem Land der Erde die Sprache der Menschenrechte sehr gut verstehen.

Zur Wahrheit gehört auch, dass es weder in den westlichen Kulturen noch in anderen eine lineare Entwicklung hin zu den Menschenrechten und deren Verwirklichung gab. Sie sind vielmehr Ergebnis eines mühevollen, von Rückschritten gefährdeten Lernprozesses, der sich wesentlich auf die Erfahrung strukturellen Unrechts begründet. Und schon von Beginn an wurden die Menschenrechte selbst von denen relativiert, die sie mit initiiert hatten. So stellten die Briten die universelle Gültigkeit dieser Rechte für ihr gesamtes Empire in Frage. Sie hatten wohl selbst die Sprengkraft der Menschenrechte unterschätzt. Und noch bevor diese durch die Vereinten Nationen proklamiert wurden, hatten Freiheitskämpfer wie Jawaharlal Nehru, der erste Ministerpräsident Indiens, oder Nelson Mandela diese aufgegriffen und gegen deren Verkünder gewendet.

Und auch in den letzten Jahrzehnten haben die Menschenrechte in ganz unterschiedlichen Kulturkreisen ihre dynamische Kraft entfaltet. Und zwar überall dort, wo die Würde des Menschen verletzt wird, wo Ungerechtigkeit, Verfolgung, Gewalt und Demütigung Leib und Seele des Menschen einschnüren oder gar zerstören. Überall dort sind die Menschenrechte Unzähligen Hoffnung und Sehnsucht.

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck beim Austausch mit dem Sänger Wolfgang Niedecken anlässlich der Verleihung des Menschenrechtsfilmpreises in Nürnberg

©DMFP/Oliver Gerhartz

Austausch mit dem Sänger Wolfgang Niedecken beim Empfang

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir auf die letzten 70 Jahre zurückblicken und eine Bestandsaufnahme über die Entwicklung und Verbreitung der Menschenrechte wagen, dann fällt die Bilanz ernüchternd aus. Auf nahezu allen Kontinenten wurden und werden die Menschenrechte immer wieder mit Füßen getreten, sie werden ignoriert, relativiert und den Interessen der Machthabenden untergeordnet. Aus allen Ecken der Welt gibt es Geschichten zu erzählen, die unser Gewissen, ja das Gewissen der Menschheit erneut empören sollten.

Gemeinsam müssen wir uns fragen: Warum hat der politische Wille in den letzten 70 Jahren immer wieder versagt, wo fehlte er ganz, wo wurde er konterkariert?

Warum haben einzelne Staaten, warum hat die internationale Gemeinschaft trotz aller Absichtserklärungen Gewaltorgien, Genozide und Giftgasanschläge nicht verhindern können? Worte und Taten liegen beim Thema Menschenrechte zu oft noch zu weit auseinander.

Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein. Ignoranz kann es sein, Kaltblütigkeit, Überforderung – all das offenbart sich in vielen Konfliktfeldern rund um den Erdball, zuweilen auch an den Verhandlungstischen, wenn über die Umsetzung der Menschenrechte debattiert wird. Wir kennen auch die Geringschätzung und Marginalisierung von Menschenrechten, wenn es darum geht, etwa wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.

Wir müssen sogar zur Kenntnis nehmen, dass selbst dort, wo die Menschenrechte gesetzlich verankert und durch eine zumindest auf dem Papier unabhängige Justiz garantiert sein sollten, elementare Grundrechte, wie etwa die Meinungsfreiheit, eingeschränkt und missachtet werden. Dies passiert nicht fernab, sondern in unserer europäischen Nachbarschaft.

Die vergangen siebzig Jahre zeigen uns, dass es notwendig ist, Regierungen nicht allein stehen zu lassen bei der Abwägung zwischen Menschenrechten und realpolitischen Erfordernissen. Für die Durchsetzung der Menschenrechte ist neben den internationalen Menschenrechtsinstitutionen eine aufmerksame und auch hartnäckige Zivilgesellschaft unabdingbar. Es braucht die mutigen Frauen und Männer, die sich zum Anwalt der Unterdrückten erklären; es braucht unabhängige Nichtregierungsorganisationen, die immer wieder den Finger in die Wunde legen; es braucht investigative Journalisten, aber auch Filmschaffende, wie Sie, verehrte Damen und Herren.

Wir, die Öffentlichkeit, müssen von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfahren, von den kleinen und großen Verstößen gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Wir müssen uns immer wieder empören lassen. Dazu zählen unabhängige Berichte und Fakten. Genauso braucht es aber auch die Geschichten und Bilder, denn nur sie vermögen es, neben dem Verstand auch unser Herz zu erreichen. Reine Zahlen und Fakten sind schnell beiseite gewischt und dazu braucht es noch nicht einmal eine böse Absicht – wie wir sie leider auch zunehmend wahrnehmen müssen.

Die Kunst überhaupt findet einen anderen Zugang zu unserer Wahrnehmung und vermag in uns Türen zu öffnen, die ansonsten verschlossen bleiben. Ein Kunstwerk, die Literatur, die Musik und natürlich auch der Film können uns eben ganz anders berühren als ein nüchterner Bericht. Es mag paradox klingen, aber manchmal braucht es die Fiktion, um die Wirklichkeit zu erkennen.

Verehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen allen dafür, dass Sie uns berühren wollen mit Ihren Geschichten, ja, dass sie uns sogar empören und uns damit dafür sensibilisieren, immer wieder um das höchste Gut, das wir haben, zu ringen: die Würde des Menschen. Denn wir alle "sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen". So steht es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.