Bürgermahl der Wilhelm-Kaisen-Bürgerhilfe
27. November 2017, Bremen
Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Welch ein Raum, in dem wir uns hier heute Abend befinden. Diese prächtige obere Rathaushalle war jahrhundertlang Versammlungsort des Rates der Stadt, Schauplatz gelebter bremischer Eigenständigkeit, bürgerlichen und hanseatischen Selbstbewusstseins und gemeinsam mit dem ganzen prächtigen Rathaus sicher so einzigartig wie die Stellung der Freien Hansestadt Bremen.
Hier wurde Wilhelm Kaisen vor 52 Jahren am 17. Juli 1965 aus seinem Amt als Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen verabschiedet – nach 20 Jahren im Amt und mit einem Festakt, den er selber, wie nachzulesen ist, für völlig überflüssig hielt.
Sein letzter Tag im Amt fand also in diesem Raum statt und der erste Tag seines Ruhestandes, er war dann 78 Jahre alt, begann in seiner kleinen Landwirtschaft in Borgfeld. Für uns Heutige mag das wie ein greller Kontrast erscheinen, die Bürgerpracht hier und das bescheidene Leben auf der kleinen Scholle am ländlichen Stadtrand. Parteischule bei Rosa Luxemburg in Berlin, Teilnahme an der deutsch-amerikanischen Steubenparade in New York und Ackerpflügen in Borgfeld. Aber Wilhelm Kaisen, mit dessen Namen der heutige Abend verbunden ist, stand eben vielfach für „beides“, für scheinbar Gegensätzliches, vielleicht auch schon deshalb, weil er als „der“ Bremer Bürgermeister gebürtiger Hamburger war.
Bevor ich diese Gegensätze etwas weiter ausleuchte, will ich aber all jenen Worte der Anerkennung sagen, die nun schon im achten Jahrzehnt aktiv sind für die vielen guten Zwecke der „Bremer Volkshilfe“, die heute den Namen „Wilhelm Kaisen Bürgerhilfe“ trägt.
Eigentlich war es damals eine richtige Nothilfe, die die bremischen Wohlfahrtsverbände in den Jahren nach dem Krieg gründeten.
Wilhelm Kaisen sprach einmal von der „harten Sprache der Not“: Es herrschte Hunger in Bremen, Wohnungslosigkeit, auch Ausgebombten- und Flüchtlingselend. Ich weiß, Geschichten von Not gibt es auch in unserer heutigen Gesellschaft viele zu erzählen, aber die damaligen Verhältnisse sind für die jüngeren Generationen heute schwer vorstellbar.
Bremer helfen Bremern“ – mit diesem ja doch sehr nüchternen Motto machte sich die Volkshilfe inmitten des Elends an die Arbeit. Schnell fanden sich Ehrenamtliche, die sprichwörtlich von Tür zu Tür zogen und Geld, aber auch Kleidung oder Möbel sammelten. Brennende Not zu lindern - hanseatisch, also ohne große Worte, das war das Motiv dieser Arbeit und das ist es bis heute. Die Bremer Volkshilfe, die nun seit 22 Jahren den Namen Wilhelm Kaisens trägt, wendet sich bis heute den Schwächeren und Hilfsbedürftigen in Ihrer Stadtgesellschaft zu.
Von vielen beeindruckenden Projekten habe ich gelesen – über Arbeit mit Kindern und jungen Familien, über Projekte mit Suchtkranken, über Hilfen für Menschen mit Behinderungen im Arbeitsleben und vieles mehr. Es geht Ihnen nicht um milde Gaben, die jemandem gönnerhaft zugesteckt werden sollen. Es geht Ihnen darum, Menschen Chancen zu geben und ihnen zu helfen, Ihr Leben zu gestalten. Namhafte Firmen und Persönlichkeiten ermöglichen das mit finanzieller Großzügigkeit. Auch das eine bremische Tradition. Andere Menschen engagieren sich mit ihrer Kraft und Zeit, ebenso sehr großzügig, oft in schwieriger, sicher auch manchmal ernüchternder Arbeit.
Wenn es irgend geht, lassen Sie, liebe aktive und engagierte Bremer, es sich gefallen, wenn ein Mecklenburger Ihnen heute einmal sagt: Wer das Leben anderer Menschen mit seinem Wirken, seiner ehrenamtlichen Arbeit ein Stück besser macht, leistet etwas Großes! Er lebt das Prinzip der Solidarität. Und es gäbe keinen Ort in Bremen, an dem dieses Engagement angemessener gewürdigt werden könnte, als hier, in der Pracht der oberen Rathaushalle.
Deshalb bin ich froh, dass wir uns hier treffen und wir gemeinsam dieses Fest zu Ihren Ehren feiern.
Noch einen Gedanken zu freiwilliger Arbeit, wie Sie sie leisten, will ich mit Ihnen teilen. Dass jemand, der in Not ist, oder jemand, der in schwierigen Verhältnissen lebt, von direkter ehrenamtlicher Hilfe profitiert, das liegt auf der Hand. Mit Ihrer Arbeit und natürlich auch mit der Arbeit vieler anderer Menschen an anderen Projekten in unserem Land passiert aber noch etwas anderes, das über die Verbesserung der Lebenssituation des Einzelnen hinausgeht: Sie, bewirken auch etwas für sich selbst und für unsere ganze Gesellschaft. Für sich selbst machen Sie die beglückende Erfahrung, die lautet: Wenn wir Bezogenheit leben, macht auch mich das stärker. Fast jeder ehrenamtlich Aktive kann von solchen Erfahrungen berichten, so ernüchternd das Ergebnis der eigenen Arbeit manchmal auch sein mag. Anderen zu helfen, das stärkt auch uns selbst.
Und schließlich, und jetzt spricht mal der ehemalige Bundespräsident, stärken Sie mit Ihrem Engagement auch unsere Gesellschaft. Wenn wir nicht nur eine Gesellschaft von Konsumenten sind, sondern von Menschen, die für einander Verantwortung übernehmen…. Wenn wir nicht nur Bewohner unserer Stadt sein wollen, sondern aktive Bürger unserer Stadt, dann haben wir alle etwas davon. Dann leben wir Verantwortung.
In meiner Präsidentschaft bin ich nicht nur der ganzen Bandbreite gesellschaftlicher Problemfelder begegnet, sondern zu meinem Glück auch der ganzen Bandbreite gesellschaftlichen Engagements zur Lösung bestehender Probleme. Das hat mich immer wieder sehr motiviert und heute ermutigt es mich beim Blick in die Zukunft. Das, was für Deutschland gilt, das gilt für die Freie Hansestadt Bremen auch: Einem Land, das so viele Stifter und so viele Ehrenamtliche hat, mit so viel Kraft und Kreativität und so viel Bürgersinn, dem muss nicht bange sein, auch wenn manche Probleme auf dem Tisch liegen.
Vielleicht spüren Sie, wie sehr ich mich ehrenamtlichem Engagement verbunden fühle und vielleicht spüren Sie auch meine Freude, Ihnen hier zu begegnen. Ich will aber wie angekündigt noch auf den Namensgeber der Bürgerhilfe kommen, weil der Name Wilhelm Kaisen selbst heute noch einen Klang für mich hat, der ausstrahlt.
Als junger Mann in der DDR kannte ich die Namen fast aller westdeutscher Minister und Ministerpräsidenten. Wir verfolgten an unseren Radios die Reden im Bonner Bundestag, wir kannten die Konflikte und die Leidenschaft, mit der unterschiedliche Meinungen in der jungen Bundesrepublik vorgetragen wurden. Und gerade weil wir den Widerstreit der Meinungen mochten, die geschliffene Rede, den glaubwürdigen Konflikt, kannten wir die Namen unserer eigenen Größen nur zufällig oder gar nicht. Den Bürgermeister von Bremen kannte bei uns Mancher, der keinen einzigen Namen von Bürgermeistern unserer ostdeutschen Großstädte kannte.
Der Grund ist leicht erkennbar, denn Politiker in der Bundesrepublik waren, anders als in der DDR, profiliert statt stromlinienförmig, der Streit um die Sache war notwendig und nicht verboten und der Lebensweg vieler Politiker der ersten Stunde flößte uns Respekt ein. Etwa der von Wilhelm Kaisen, in dem man auch heute noch wie in einem Geschichtsbuch des späten 19. und des 20. Jahrhunderts lesen kann und der uns auch ins 21. Jahrhundert hinein wichtige Botschaften zu übermitteln hat.
Wilhelm Kaisen also, 1887 geboren. Ab 1905, also mit 18, Mitglied der SPD, mitten im Kaiserreich. Bekenntnis zu Demokratie und Republik, auch gegen manchen früheren Mitkämpfer, der auf die Revolution setzte. Maurer und Stuckateur, bisweilen Tagelöhner in einer Fabrik für Schuhwichse, wandernder Handwerksgeselle, der bis Kopenhagen kam. Begegnung, jedenfalls laut eigener Erzählung, man mag es kaum glauben, mit Lenin auf der Parteischule in Berlin. Umzug nach Bremen zur Verlobung mit Helene Schweida. Soldat im Ersten Weltkrieg, in Flandern und Nordfrankreich.
Mitglied des Abgeordnetenhauses ab 1921, Wahl zum bremischen Wohlfahrtssenator 1927 in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Elend. Nach der Machtübernahme der Nazis Ausscheiden aus dem Senat. Nach kurzzeitiger Inhaftierung Rückzug auf den Kotten, es gab dort keine Wohnstube, aber nach und nach sechzehn Morgen Land, einen Ochsen, drei Kühe, zwei Schweine. Am 17. Juli 1945, der Krieg ist aus, ruft der Nachbar: „Willem, putz din Zylinder, sie kommen und holen dir!“ und ein amerikanischer Oberst holt Wilhelm Kaisen ab, der kurz danach Bürgermeister wird.
Glänzende Wahlsiege in Bremen jenseits der 50 Prozent, nicht wegen Meisterschaft in der Ideologie oder wegen märchenhafter Zustände im Land, aber wegen glaubwürdigen politischen Handelns und auch wegen des funktionierenden Bündnisses von Kaufleuten und Arbeiterschaft. Wille zur parteiübergreifenden Zusammenarbeit selbst in Zeiten absoluter Mehrheiten.
Wilhelm Kaisen, zwei Jahrzehnte Bürgermeister, ein Lebensweg, der „nicht Poesie“ ist, wie die ZEIT einmal schrieb, aber doch Stoff für Poeten wäre. Denn nur sie, so fand die ZEIT 1965, „werden uns eines Tages schildern können, wie groß, wie einmalig dieser Mann ist, der jetzt seinen altmodischen Schreibtisch im Rathaus zu Bremen verlässt und zu seinen Ochsen und den Kühen zurückkehrt“.
Heute, im Jahr 2017, braucht es keine Poeten, um genau das zu erkennen: Wilhelm Kaisen war ein großer Bürgermeister. Dass die Westdeutschen nach Ende des mörderischen Krieges und der NS-Diktatur Demokratie bauen und leben konnten, hat einerseits mit gnädigen und klugen Siegern in London, Paris, Washington, aber auch mit glaubhaften Persönlichkeiten wie Wilhelm Kaisen zu tun, die den Verstand und schließlich auch das Herz der Deutschen für einen neuen demokratischen Staat gewinnen konnten.
Kaisen erkannte das Notwendige, hatte Sinn für das Machbare und orientierte sich bei seinem Handeln in Bremen nicht an Ideologie, sondern an dem klaren Auftrag aus der bremischen Verfassung: „eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird“. Das, was diesem Ziel diente, setzte Kaisen um, mitunter ziemlich ruppig, und das, was ihm weniger zweckdienlich erschien, schob er beiseite.
Dass er mit seiner eigenen Partei (und vor allem ihrem ersten Vorsitzenden Kurt Schumacher) oft in Konflikt stand, lag an seiner Orientierung auf bremische Interessen. Dafür ließ er sich gerne von der Partei rügen, etwa 1951, als ihm wegen seines Ja zum Schumann-Plan bescheinigt wurde, „dass es den politischen Grundsätzen der SPD widerspricht, wenn es um deutsche Lebensfragen geht, regionale Interessen über das Interesse der gesamtdeutschen Wirtschaft zu stellen“.
Letzteres war in der Realität gar nicht der Fall, im Gegenteil: Das frühe Ja zu Europa war lebensnotwendig für die junge Bundesrepublik, Kaisen hatte es früh erkannt. Das galt auch für die Beziehung zu den USA. Schon 1950 reiste er in die USA, für sechs Wochen und in Begleitung eines Persönlichen Referenten und Dolmetschers namens Karl Carstens und mit einer klaren Erkenntnis: Die Situation politischer Ohnmacht Deutschlands und wirtschaftlicher Not, wie sie sich in Bremen zeigte, ließ sich nur aufbrechen mit einer engen Anbindung an die USA, politisch wie wirtschaftlich die Führungsmacht der freien Welt. In den frühen 50er Jahren war diese Einschätzung hochumstritten ebenso wie die Wiederbewaffnung, die Kaisen ebenfalls unterstütze.
Der Bürgermeister wusste: Bremen mit seiner Freimarktgeschichte, die seit der „Jahrmarktgerechtigkeit“ von 1035 Krämern und fremden Händlern freien Warenaustausch erlaubte; Bremen, das als Ort der Häfen und des Handels stets von der Freiheit der Wirtschaft lebte, dieses Bremen würde vom Ja zu Westbindung und Marktwirtschaft viel mehr profitieren als von durchaus populären Ideen von Planwirtschaft und außenpolitischer Neutralität. Ob es dann geschickt war, ausgerechnet während des SPD-Parteitages in die USA zu fahren, lieber Herr Bürgermeister Sieling, das mag ich nicht zu beurteilen. Den Rauswurf aus dem Parteivorstand nahm er in Kauf. Seine Orientierung an bremischen Interessen war keineswegs ein egoistisches, kurzsichtiges „Bremen first“. Sondern die Fähigkeit, aus der genauen Kenntnis des Eigenen, Verantwortung für das Gesamte zu übernehmen.
Dass er das klare Ja zur Westbindung, durchaus anders als manch andere, verband mit einem aufrichtigen, andauernden Interesse an den Deutschen jenseits des Eisernen Vorhangs und sogar, wohl eher als Privatmann, Ost-Berlin besuchte, das gehört zu den Eigenarten Kaisens, denen ich auch heute noch Respekt zolle. Das Gleiche gilt für sein Ja zur europäischen Einigung und sein Wissen, dass die Deutschen „um Deutschlands willen europäisch handeln“ müssen. Er sagte das vor 67 Jahren, gelten tut es noch heute.
Einige scheinbare Gegensätze im Wirken von Kaisen mögen uns befremdlich erscheinen: Dass ein Politiker, der so hartnäckig als Vertreter der Arbeiterschaft für den Wiederaufbau der bremischen Häfen kämpft, im gleichen Moment erkennt und daran arbeitet, dass Bremen eine Universität braucht. Dass jemand, der so eindeutig bremische Interessen verfolgt, so visionär weit über sein Bundesland hinaus erkennen kann, wo die Zukunft Deutschlands liegen muss: in der freien Welt, in Partnerschaft mit den Demokratien des Westens. Dass jemand, der klar verwurzelt ist in der Sozialdemokratie, so unverdrossen baut an der Allianz der ganzen Stadtgesellschaft, die so oft beschrieben wurde als „Bündnis von Arbeiter und Kaufleuten“.
Aber all diese scheinbaren Gegensätze folgen einer klaren Haltung: Der „Stadt Bestes zu suchen“, Nicht nur den Bedarf von heute im Blick zu haben. Nicht nur Einzelinteressen zu folgen. Das Gegenüber nicht als Feind zu sehen, sondern als Partner für diese oder jene Aufgabe. Wilhelm Kaisen würde gefallen, wie sich die nach ihm benannte Bürgerhilfe bis heute im Geiste eben dieser Tradition einsetzt. Das darf es ruhig öfter geben: Verschiedene mit verschiedenen Lebenssituationen und Möglichkeiten abstrahieren vom Eigenen und wirken zusammen vereint für eine gute Sache. Etwas mehr von diesem Geist, der Gegensätze nicht auslöschen will, aber sie nicht für absolut erklärt und gemeinsame Aktion ermöglicht - das wünsche ich Bremen und uns allen.
Mein letzter Gedanke hier verbindet drei Dinge – das Ehrenamt, die Person Wilhelm Kaisen und, Sie werden es mir nachsehen, das Amt des Bundespräsidenten.
Kaisens Mitarbeiter Karl Carstens wäre unter anderen Umständen nicht der erste Bundespräsident aus Bremen geworden. Auch Wilhelm Kaisen war dafür seinerzeit nahezu periodisch in der Debatte – ohne es zu wollen, allerdings. „Diese albernen Cocktailpartys!“, sagte er einmal: „So ein Quatsch! In Bonn wollten Sie ja mal, ich sollte Bundespräsident werden. Aber da hängt zu viel Klimbim dran“.
Das klingt schon sehr entschieden, aber eines weiß ich: Wilhelm Kaisen hätte die klimbimfreien Bürgerfeste des Bundespräsidenten gemocht, bei denen seit 2012 Ehrenamtliche aus allen Bundesländern einmal im Jahr ins Schloss Bellevue eingeladen werden, um sie zu ehren und mit ihnen zu feiern. Mein Nachfolger setzt diese Tradition fort, was mich sehr freut. Und gerne sage ich Ihnen, den Stiftern, den Machern und Ermöglichern, was ich den Ehrenamtlichen beim Bürgerfest Jahr für Jahr zugerufen habe: Sie alle machen mit Ihrer Arbeit unser Land schöner und darauf können Sie stolz sein.