Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

600 Jahre Universitaet Rostock

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Austausch mit Rektor Wolfgang Schareck beim Festumzug anlässlich 600 Jahre Universität Rostock

©Universität Rostock/IT- und Medienzentrum

Austausch mit Rektor Wolfgang Schareck beim Festumzug von der Universität Rostock in die St. Marien-Kirche

600 Jahre Universität Rostock

12. November 2019, Rostock

Änderungen vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Jetzt sind wir hier in St. Marien: Für viele von uns ein besonderer Ort, weil von hier aus die erste Demonstration im Oktober 1989 ausging, für uns Rostocker der Anfang einer langen Reise in die Freiheit, die geistige wie die politische. Und an diesem Ort wurde vor 600 Jahren die erste Universität im gesamten Ostseeraum gegründet, die Universitatis Rostochiensis, die älteste Universität im Ostseeraum. 

Vor 600 Jahren, am 13. Februar 1419, genehmigte Papst Martin V. die Einrichtung eines Studium generale, ein gutes halbes Jahr später, am 12. November, wurde die Universität Rostock mit einer Artistischen (Philosophischen), Juristischen und Medizinischen Fakultät eröffnet. Den Norden mit Gelehrten auszustatten, wo "bedauerlicherweise Aberglauben und Irrungen hervorsprießen", erachtete der Papst für wichtig, um "auch das Staatsgefüge der angrenzenden Länder mit glücklichem Fortschritt" zu bereichern. Für eine Theologische Fakultät hingegen hielt er die Zeit aufgrund von "häretischen Ideen und Bestrebungen" in Norddeutschland noch nicht gekommen – die Theologische Fakultät wurde erst um 1432 genehmigt. 

Ich möchte hier nicht auf die wechselvolle Geschichte der Universität eingehen. Das mögen Berufenere tun. Doch hervorzuheben ist eine vom Humanismus geprägte Blütezeit um 1600, und erinnern möchte ich doch an einige Personen, die besondere Leistungen vollbracht haben. Wie etwa an Tycho Brahe, einer der bedeutendsten Astronomen, der zwei Jahre in Rostock studierte. Oder an den Biologen Hans Speman, der 1935 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie erhielt und an Albrecht Kossel, der 1910 für seine Zelllkernforschungen ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Einer größeren Öffentlichkeit dürften die späteren niederdeutschen Schriftsteller Fritz Reuter und John Brinckman bekannt sein, die an der Rostocker Universität studierten. Fritz Reuter zählte zu den Lieblingsautoren meines Vaters; ich hingegen war fasziniert von Uwe Johnson, der nach seiner Schulzeit in Güstrow hier ebenfalls zeitweilig eingeschrieben war und dessen Archiv seit sieben Jahre von der Uwe Johnson Forschungsstelle betreut wird.  

Die Liste der berühmten und erfolgreichen Wissenschaftler und Hochschulabsolventen ließe sich noch fortsetzen. Und ich hoffe, diese Leuchttürme unter Lehrenden und Lernenden erfüllen die Nachkommen mit einem angemessenen Stolz.  

Sehr geehrte Damen und Herren,

Zur Feier gehört die Gratulation.

Deshalb herzlichen Glückwunsch allen Universitätsangehörigen, dem Lehrkörper, den Studierenden und denen, die für die Verwaltung und die Technik zuständig sind. 

Viele Gratulationen, die Menschen zu unterschiedlichen Anlässen aussprechen, sind mit Worten der Anerkennung und - wichtiger noch – des Dankes verbunden. Und so ist es für mich natürlich etwas Besonderes, nicht nur zu einem  Jubiläum zu sprechen, sondern zum Universitätsjubiläum in meiner Rostocker Heimat, zum Jubiläum meiner Alma Mater. Für altgewordene wie junge Absolventen sage ich all den akademischen Lehrern Dank, die ihre Wissenschaft ernst genommen haben, die den wissbegierigen, jungen Menschen aufrichtig und engagiert begegnet sind: Ihnen allen, dem gesamten akademischen Lehrkörper sei heute gedankt!  

Dieser Dank gilt nicht einfach einer Institution, sondern all denen, die der Wissenschaft mit ihrer Persönlichkeit und ihrem wissenschaftlichen Gewicht uns Studenten und darüber hinaus der Gesellschaft gedient haben. Ich spreche diesen Dank aus in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass er nicht allen Lehrenden und Studierenden gleichermaßen gelten kann. Denn so rühmenswert die abendländische Geschichte akademischer Wissenserweiterung auch ist, so überaus drastisch, ernüchternd und erschreckend ist es, dass auch der menschliche Intellekt biegsamer, lenkbarer und destruktiver sein kann, als man es nach einer langen Geschichte der Aufklärung in Europa annehmen dürfte. 

Wir wollen auch an einem Feiertag wie diesem daran erinnern, dass das vergangene blutige Jahrhundert nicht nur auf Schlachtfeldern, in Lagern und Kerkern seine Spuren hinterlassen hat, sondern auch in den wichtigsten Gebäuden der Gesellschaft: unseren Universitäten. Dass der Geist verführbar ist, dass die Wahrheit der Fakten relativiert oder geleugnet werden kann, dass ideologische Leitkulturen mühsam erworbene ethische Standards unterminieren oder außer Kraft setzen können – all das haben die ganz Alten unter uns zwei Mal, und die Alten einmal erlebt. Und die, die die Gnade der späten Geburt haben, werden noch von den Schatten alter Entfremdungen gestreift. 

Nur mit immerwährendem Zorn vermag ich an die Bücherverbrennung vor der Universität 1933 denken und an die drei jüdischen Professoren, die noch 1932 unterrichteten: der eine stirbt, bevor die Massenentlassungen an deutschen Universitäten einsetzen, einem zweiten gelingt die Emigration und der dritte nimmt sich das Leben, als er von seinem Lehramt zurücktreten muss.  

Und als nach der Befreiung 1945 eine neue Diktatur in diesem Teil Deutschlands errichtet wird, werden Wissenschaften zum zweiten Mal unter eine ideologische Aufsicht gestellt, Lehrende gemaßregelt oder vertrieben. Zeitweilig werden Unschuldige verfolgt, wie der Jurastudent Arno Esch, der, völlig unschuldig, 23-jährig in Moskau erschossen wird. 

Nein, auch an Feiertagen werden wir nicht in ein Biedermeier gemütvoller Erinnerungen verfallen. Werden standhalten müssen, wenn ernsthaft gefragt wird, was kritisch zu benennen ist oder wer gar zu bereuen hat. 

Diktatorische Herrschaft hat, wenn wir Hannah Arendt folgen, für weite Kreise der Gesellschaft zur Folge, dass sich so etwas wie ein "Verlust von Wirklichkeit" ergibt. Dann gehen Menschen auch nach dem Ende der Diktatur mit Tatsachen so um, als handele es sich um bloße Meinungen. Wer so denkt, erspart sich bei der Begegnung mit der Vergangenheit existentielle Fragen – Schuld und Verantwortung müssen dann nicht bearbeitet werden. Zu Hannah Arendts Zeiten gab es weder die Begrifflichkeit der "alternativen Fakten" noch die der "fake news", den Sachverhalt gab es aber sehr wohl.  

Wir erlebten diese Verschleierung gegenüber Evidenz und Faktizität nicht nur nach dem Ende der braunen, sondern auch nach dem Ende der roten Diktatur.

Und heute? Die alten Ängste aus der Zeit der Diktatur sind verschwunden. Aber obwohl die Freiheit überall in Europa erreicht ist, existieren Ängste, die Teile der europäischen Bevölkerung umtreiben. Entgrenzungsphänomene – Europäisierung, Globalisierung udnd der ungeheure Entwicklungsschub der Informationstechnologien stellen unser tradiertes Bild vom Menschen in Frage. Und wo Ängste sind, sind Nutznießer, Führer und Verführer nicht weit. Sie schüren Aggressivität gegenüber den politisch Verantwortlichen, gegenüber der Moderne insgesamt und errichten ein Klima des Verdachts, des Misstrauens und der Distanzierung von unserer Demokratie, die sie "System" nennen. Sie scheuen vor Fälschungen, Entstellung von Fakten und Verleumdung gewählter Volksvertreter nicht zurück und bieten verunsicherten Bevölkerungsgruppen Lösungen aus längst vergangenen Zeiten an, träumen etwa von einem ethnisch homogenen Nationalstaat, behaupten – obwohl Minderheit – sogar, sie seien "das Volk". Fakten aus der Geschichte und sogar Naturwissenschaft werden in diesem Milieu in Frage gestellt, Meinungen treten an die Stelle faktenbasierter Evidenz.  

So existiert eine Bedrohung der demokratischen und wissenschaftlichen Debattenkultur, eine neue Verachtung aufklärerischer Toleranz und Leugnung ungeliebter Fakten. Da wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, ist das möglich. Umso notwendiger der Widerspruch aufgeklärter Demokraten! Wenn allerdings in Hamburg, Frankfurt, Siegen oder Berlin linke pressure groups Professoren oder Politiker daran hindern, ihre Erkenntnisse und Analysen vorzutragen, dann ist das keine demokratische Tugend, sondern kritikwürdige Intoleranz. Politische Haltung wird dann wichtiger als die Fachkompetenz, Moral zählt mehr als Sachargumente. Vor einer derartigen Gesinnungskontrolle hat der Deutsche Hochschulverband schon vor zwei Jahren gewarnt. Zwang gegen die Meinung eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft auszuüben, und mag er im Namen des Guten und Progressiven auftreten, bleibt Zwang. Der große liberale Philosoph John Stuart Mill erkannte, dass es auch eine "Tyrannei" gebe, die aus der Gesellschaft komme. Er fürchtete sie fast mehr als die Tyrannei des Staates. 

Angesichts dieser gesellschaftlichen Phänomene müsssen sich die Gesellschaft, allen voran unsere Universitäten und Hochschulen, über Grundsätzliches klar werden. Es darf selbstverständlich nicht hingenommen werden, dass der Raum eingeengt wird, in dem die Debatten stattfinden um das bessere Argument oder die genaueren Forschungen. Es darf selbstverständlich nicht hingenommen werden, dass wissenschaftliche Ergebnisse politisch beeinflusst oder uminterpretiert werden, zentrale Themen wie der Klimawandel, die digitale Revolution oder die Migration dürfen nicht mit einer Forcierung von Ängsten oder Moraldebatten beantwortet werden, das ist kein aufklärerisches Modell.  

Unseren Universitäten kommt hier eine wichtige Rolle zu. Sie haben der Überhitzung des politischen Klimas zu wehren und auf Hysterie und Panik mit ideologiefreier Wissenschaft zu antworten. Andererseits darf die Wissenschaftscommunity Sorglosigkeit und Verantwortungsscheu der Politik nicht nur duldend hinnehmen, sondern hat zum verantwortlichen Handeln zu mahnen. Ein zunehmend wichtiges Handlungsfeld der Wissenschaft wird zukünftig Politikbegleitung und Politikberatung sein. Denn die Komplexität der Wissens- wie der Politikfelder wird nicht ab- sondern zunehmen.  

So stehen unsere Universitäten möglicherweise vor wichtigen neuen Aufgaben. Da ist einerseits die immer größere fachliche Spezialisierung, eine akademische High-Speed Entwicklung mit Exzellenzclustern, Eliteuniversitäten und innovativen Studiengängen und Forschungszentren. Sie haben in Rostock mit der Interdisziplinären Fakultät eine in der deutschen Hochschullandschaft recht einmalige Möglichkeit der Kooperation von Fakultäten und Forschungsinstitutionen geschaffen. Besonders erwähnenswert finde ich hier Ihre Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung, wo gemeinsam die sozialen, medizinischen, ökonomischen und technischen Aspekten unserer älter werdenden Gesellschaft untersucht werden. Hervorheben möchte ich auch die besonderen maritimen Bezüge, die Ihre  Universität hier an der Ostsee verfolgt. Zusammen mit dem Leibniz-Institut für Ostseeforschung und der Fraunhofer-Einrichtung für Großstrukturen in der Produktionstechnik forschen Sie zu globalen und regionalen Einflüssen auf Küstenzonen und Meeresgebiete, um wissenschaftliche und technische Lösungen für die Bewältigung regionaler Auswirkungen von globalen Herausforderungen zu liefern. Mit der Interdisziplinären Fakultät und ihren vier Departments leisten Sie einen überzeugenden Transfer von Wissenschaft in die Wirtschaft und in die Gesellschaft.  

Andererseits wird es trotz aller Spezialisierung und Vertiefung von Forschung enorm wichtig, dass Wissenschaft die hochkomplexen Zukunftsthemen nicht Laien oder Halbgebildeten oder den Vertretern von partikularen und politischen Interessen überlassen darf. Sie sollte sich viel stärker als bisher auch außerhalb der Fachdiskurse artikulieren. Wissenschaft darf die Politik nicht unbegleitet lassen. Die unheilige Melange aus Unwissen, Ängsten und Irrationalität überwuchert sonst Zivilität und Fortschritt. 

Ich sehe also die Universität – auch meine – als einen Ort der Ermächtigung, als eine ständige Impulsgeberin, nicht den Ängsten zu folgen, sondern gestärkt durch das Wissen mutig Verantwortung zu leben.

Mit diesen Gedanken konfrontiere ich Sie an einem Ort, an dem vor 30 Jahren Ermächtigungsgeschichten begonnen haben. Immer mehr Menschen haben damals ihrer lange eingeübten Ohnmacht draußen auf den Straßen den Abschied gegeben. Danach hat sich Zukunft aufgetan. Dies ist ein Ort, der uns lehrt, dass Wandel zum Besseren möglich ist.  

Ich wünsche meiner Universität die Kraft, die Fähigkeit und den Willen, all ihr Wissen kommenden Generationen so zu vermitteln, dass ermächtigte und solidarische Menschen den Menschen von morgen Räume der Freiheit eröffnen. Lassen Sie uns miteinander glauben, dass wir können werden, was wir konnten!