Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Festauffuehrung Fidelio Dresden

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede - ARCHIVBILD

©Henning Schacht - Bundesregierung

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede - ARCHIVBILD

Festaufführung der Oper "Fidelio"

11. Oktober 2019, Dresden

Änderung vorbehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,

sehr geehrter Herr Theiler,

sehr geehrte Damen und Herren,

erinnern Sie sich?

Über 30 Jahre ist er her, der 7. Oktober 1989. Überall im Lande hatten Partei und der gesamte Staatsapparat Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der "Deutschen Demokratischen Republik" inszeniert. Die letzten Getreuen marschierten auf, um umgeben von einer hoffnungsarmen Bevölkerung der blutleeren Diktatur noch einmal Glanz und Gloria zu verleihen. In Ost-Berlin inklusive Fackelzug und Staatsbankett mit dreistöckiger Geburtstagstorte.

Wir erinnern uns an den 7. Oktober 1989 in Plauen im Vogtland: Denn dort kamen etwa 15.000 Menschen zusammen, die am Republikfeiertag nicht für, sondern gegen das Regime demonstrierten. "Gorbi, hilf!" hieß es in den ersten Tagen des Aufbegehrens gegen die Herrschenden noch, aber auch: "Wir bleiben hier".

Wir erinnern uns an den 7. Oktober 1989 in Dresden: Hier in der Semperoper hebt sich der Vorhang zur Premiere der Oper "Fidelio" von Ludwig van Beethoven. Und die Zuschauer schauten durch Drahtzaun und Stacheldraht auf die Bühne.

Dahinter im Finale des ersten Aufzugs die Gefangenen, die im Chor anstimmen:

"O welche Lust, in freier Luft

Den Atem leicht zu heben!

Nur hier, nur hier ist Leben,

Der Kerker eine Gruft."

 

Und weiter dann:

"O Himmel! Rettung! Welch ein Glück!

O Freiheit! kehrest du zurück?"

 

Sie enden mit:

"Sprecht leise, haltet euch zurück!

Wir sind belauscht mit Ohr und Blick."

 

Am Premierenabend folgt minutenlanger Applaus, das Publikum erhebt sich von den Plätzen, Tränen der Ergriffenheit fließen. Jedes Wort wurde nicht nur verstanden, sondern gefühlt.

Kunst und Wirklichkeit kommen sich selten so nahe, wie an diesem Abend vor über 30 Jahren hier in der Semperoper. Es scheint als sei diese, die einzige Oper Beethovens für diesen Moment der Geschichte geschrieben und nicht über 170 Jahre zuvor entstanden. Eine Oper, die Mut macht trotz der Entbehrungen und Bitternis seine Ängste vor der Gewalt des Mächtigen zu überwinden. Einen besseren Beleg für die Zeitlosigkeit, für die universelle Kraft der Musik könnte es kaum geben. Und es zeigt sich, dass es der Kunst und deren Interpretation immer wieder gelingt einen anderen, weiteren Zugang zu unserer Wahrnehmung zu finden. So öffnen sich in uns Türen, die ansonsten verschlossen blieben. Und manchmal ist es eine Inszenierung, die eine eigene Kraft entwickelt, die Menschen hilft, die wirkliche Wirklichkeit zu erkennen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir erinnern uns, denn wer den Herbst 1989 erlebt hat, wird ihn nie vergessen. Im Osten nicht, aber – so vermute ich – auch im Westen nicht. Die einen waren selbst dabei hier in der Semperoper am 7. oder am 8. Oktober als in Dresden ein neues Kapitel der Politik aufgeschlagen wurde.

Oder auf den Straßen und Plätzen von Leipzig, Berlin, Magdeburg, Rostock, fiebernd, in einer Mischung aus Angst und Hoffnung. Aber unberührt blieben auch jene nicht, die diesen Aufbruch im Fernsehen, im Radio oder in den Zeitungen verfolgten. Deutschland und Europa erlebten eine historische Wende, eine Friedliche Revolution. Menschen überwanden ihre Angst.

Wir ermutigten uns in Gottesdiensten gegenseitig und wagten uns auf die Straße. Wir standen zu Tausenden vor den Gebäuden der Stasi und stellten als Zeichen unserer Gewaltlosigkeit Kerzen vor Türen und Fenster. Nach diesen Erfahrungen spürten die Menschen: Wir können diese Herrschaft ändern und wir werden sie ändern. Wir, die wir bis dahin zu politischer Ohnmacht verdammt waren, werden uns selbst ermächtigen. Ich spürte: Das ist endlich mein Leben, das ist endlich unser Leben. Es war und bleibt ganz sicher die beglückendste Erfahrung meines Lebens: Menschen können sich selbst ermächtigen. Sie können zu den Herren ihrer Geschichte werden. "Wir sind das Volk!" – für mich der schönste Satz der deutschen Politikgeschichte!

Wie unangenehm, ja peinlich wenn heute bestimmte Kräfte diese Losung politisch uminterpretieren, um Stimmung gegen die gewählten, also demokratisch legitimierten Volksvertreter des Deutschen Bundestages und gegen unsere Regierung zu machen! Da kann ich nur sagen: Diese Demagogen haben weder den Befreiungsakt von 1989 verstanden noch wissen sie was die Demokratie uns allen gebracht hat. Sie schüren vielmehr Ressentiments, um das zu untergraben, was es als Grundlage eines freien, selbstbestimmten Lebens unbedingt zu verteidigen gilt: Demokratie, die Herrschaft des Rechts, Vielfalt, Toleranz. Wer mit völkischen, fremdenfeindlichen, populistischen und antisemitischen Parolen zündelt, der zielt nicht auf die Emanzipation der Bürger und nicht auf die Verbesserung der Demokratie, sondern umgekehrt auf die Entmündigung von Bürgern und auf die Zerstörung der Demokratie. Und zudem fördert er am Rand der Gesellschaft ein Klima des Hasses, aus dem abscheuliche Gewaltverbrechen erwachsen.

"Wir sind das Volk!" ist und bleibt für mich und alle demokratischen Bürger unseres Landes das Erbe einer emanzipatorischen Tradition. Und genau diesem Erbe bleiben wir verpflichtet.

Was die Erinnerung an 1989 trotz ihrer beglückenden Botschaft allerdings so schwierig macht, das ist die Ambivalenz, die mit der Erinnerung an die Jahre nach 1990 verbunden ist. Zwar geht es den Menschen in den neuen Bundesländern materiell besser als jemals in der DDR.

Aber andererseits erwiesen sich so manche Träume und Hoffnungen als trügerisch. Viele Erwartungen erfüllten sich nicht. Oft wird übersehen wie radikal die Gesellschaft der ehemaligen DDR umgekrempelt wurde, wie die allermeisten um Arbeit bangten, arbeitslos oder frühberentet wurden. Von den Erwerbstätigen des Jahres 1989 waren fünf Jahre später nur noch 25 Prozent in den gleichen Institutionen tätig. Und nur 18 Prozent blieben trotz Betriebswechsels ununterbrochen erwerbstätig.

Obwohl Ostdeutsche die "Westimporte" oft auch schätzten oder in der Politik sogar wählten – etwa drei westdeutsche Ministerpräsidenten in Sachsen und Thüringen – bildeten sie für Viele schnell ein Ärgernis.  Nicht wenige Ostdeutsche fühlten und fühlen sich bis heute fremd im eigenen Land. In den Gerichten trifft ein Ostdeutscher in der Regel auf westdeutsche Richter; in den ostdeutschen Universitäten stand nur zeitweilig ein einziger ostdeutscher Wissenschaftler an der Spitze.  Zwar war die Erneuerung von Justiz, Forschung und Lehre ein Anliegen der ostdeutschen politischen Mehrheiten. Aber die umfassende Erneuerung erwies sich auch als Stressfaktor.

Angesichts dieser Umstände scheint es nicht verwunderlich: Bei vielen Ostdeutschen verbindet sich der Systemwechsel nicht mit dem Gefühl des Gelingens, sondern des Versagens, nicht mit dem Gefühl des Aufstiegs, sondern mit dem Gefühl der Zurückweisung und mangelnder Anerkennung.

Unzählige Ostdeutschen wurde in ihrer Arbeitsbiografie ausgebremst und in den Jahren nach der Wende weit zurückgeworfen. Ich halte es allerdings für völlig verfehlt, wenn manche nun ausschließlich "den Westen" für diese Entwicklung verantwortlich machen. Nein, wir, die Ostdeutschen, waren es selbst, die die schnelle Wiedervereinigung wollten und damit jenen Prozess beschleunigten, der nun oft als "Übernahme" beschrieben wird. "Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr."

Millionen von Ostdeutschen waren euphorisch, als Helmut Kohl am 1. Juli 1990 die D-Mark in den neuen Bundesländern einführte und die Löhne und Gehälter 1:1 umstellte, obwohl dies für die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft eine Katastrophe bedeutete. Und jene Parteien, die für eine schnelle Anpassung an Marktwirtschaft und westliche Produktionsweise warben, erzielten in Ostdeutschland hohe Ergebnisse. Die ostdeutschen Mehrheiten gaben den marktwirtschaftlichen Kräften also auf demokratischem Wege ein starkes Mandat, sie und nicht etwa die Bonner Regierung waren die Protagonisten einer möglichst schnellen Vereinigung.

So übernahm der Osten das System, das sich im Westen bewährt hatte. Damit dies möglichst schnell und reibungslos funktionierte, wurde – wie hätte es anders sein können – eine Führungsschicht geschmiedet, die sich häufig allerdings auf Personal zweiter Garnitur aus dem Westen und Altkader aus dem Osten stützte. Das leuchtete im Sinne der Effizienz in der Regel ein aber die politischen und psychologischen Folgen waren schwerwiegend. Damals wurde im Osten manches allzu schnell über Bord geworfen, weil es nicht in das neue, westdeutsche System passte – ich denke etwa an die Polikliniken. Das meiste aber konnte und sollte nicht übernommen werden. Wir, die wir erst gerade gelernt hatten, eigenverantwortlich zu handeln, erhielten mit der selbstgewählten schnellen Einheit weder genügend Zeit, noch Raum und Gelegenheit, Initiative zu ergreifen, zu lernen und Eigenes auszuprobieren. Die Aufbruchsstimmung machte bei vielen einer Resignation und Lähmung Platz. Bis heute spürt etwa der sächsische Bürgermeister Dirk Neubauer den "lähmenden Mehltau", der sich über das Land gelegt hat.  

Ich habe bereits in den1990er Jahren vor der Furcht vor der Freiheit gesprochen. Als Sehnsuchtsort war die Freiheit strahlend und erstrebenswert für die meisten DDR-Bürger gewesen. Freiheit, einmal errungen, konfrontierte die Menschen aber mit ihrer Angst vor ihr. Selbst über sich zu bestimmen, selbst Verantwortung zu übernehmen, selbst Macht auszuüben, hatte die Mehrzahl der DDR-Bürger nicht gelernt. Die Westdeutschen wurden 1945 nach nur zwölf Jahren von der Diktatur befreit. Hinter den Ostdeutschen aber lagen 1989 lange 56 Jahre autoritärer Herrschaft unterschiedlicher Art. Das Leben in Freiheit und Demokratie und der Mut zur Teilhabe am politischen Leben mussten und muss im Osten noch immer gelernt werden.

Von Menschen, die sich im Osten auf lokaler Ebene engagieren, höre ich: Selbst wenn den Bürgern in einem Ort Teilhabemöglichkeiten eingeräumt werden, nehmen sie diese oft nicht wahr. Wer in Zeiten der Diktatur konditioniert wurde, sich fortwährend an die Verhältnisse anzupassen, die eigene Meinung hinter Allgemeinplätzen zu verstecken und seinen Widerspruch, wenn überhaupt, nur leise im geschützten Raum der Familie oder unter Freund oder mit guten Kollegen zu äußern, der wird seine Vorsicht und Zurückhaltung auch in der Freiheit nicht gleich überwinden. Er wird häufig weiter Angst vor der Kontroverse haben und Konflikten möglichst aus dem Wege gehen. Er wird unter Umständen auch eine Isolation in seinem Umfeld fürchten, wenn er den Konsens des Schweigens durch eine offene Meinungsäußerung bricht.

Es geht hier keineswegs darum, den Ostdeutschen einen schlechten Charakter zu unterstellen oder sie als defizitär zu brandmarken. Es geht vielmehr ganz einfach und grundlegend darum, sich bewusst zu machen: Die Differenz, die Distanz, die Ostdeutsche in der Bewältigung  gegenwärtiger Herausforderungen zu überwinden haben, ist erheblich größer als bei den Westdeutschen. Denn Ostdeutsche hatten bildlich gesprochen andere Trainingsfelder und Übungsmöglichkeiten als die Westdeutschen. Und eine gezielte politische Bildung, in der demokratische Abläufe erklärt und das sachliche Austragen von Kontroversen geübt wird, hat es nicht gegeben.

Zudem sind Ostdeutsche augenblicklich doppelt herausgefordert: immer noch durch den spezifischen Systemwechsel nach 1989, und schon durch die den alle Menschen verunsichernden revolutionären Übergang vom Industrie- zum Informationszeitalter mit Digitalisierung, Entgrenzung, Globalisierung und weltweiter Migration.

Hinzu kommt - und das ist mir in seiner Tragweite so recht erst durch die Wahlergebnisse der letzten Jahre und die populistischen und rechtsradikalen Milieus in den neuen Bundesländern bewusst geworden -, welche Folgen der Exodus von Ost nach West in vielen Regionen schon heute hat und wohl noch verstärkt haben wird.

Unzählige junge und risikobereite Menschen verließen ihre ost- und mitteldeutsche Heimat schon bald nach der Wiedervereinigung und fanden ihre berufliche Zukunft im Westen. 400.000 Menschen gingen jeweils in den Wendejahren 1989/90 und um die Jahrtausendwende setzte eine weiter große Abwanderungswelle ein.

So folgten allein bis 2013 weitere 1,8 Millionen. In ländlichen Gegenden von Sachsen-Anhalt oder im südlichen Brandenburg fehlt seitdem ein Viertel der Bevölkerung. Es entstanden Orte ohne Postfilialen, ohne Schulen, ohne Ärzte, ohne Sparkassen, ohne Kneipen und Bäcker und ohne Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz. Mitten in den sprichwörtlichen "blühenden Landschaften", hinter bunten Fassaden und renovierten Stadtkernen kehrten nicht selten Depression, Tristesse und Wut ein. Ja, Wut. Wohl kaum jemand hat sich dieses Szenario 30 Jahre zuvor vorzustellen vermocht.

Die Abwanderungswellen haben insbesondere im ländlichen Raum einen zunehmenden destabilisierenden Einfluss auf das soziale Gefüge. So gedeihen bei den Menschen trotz der guten wirtschaftlicher Entwicklung und geringerer Arbeitslosenquote die Angst und eben die Wut. Auch darüber, dass sie gegenüber der vermeintlichen urbanen Mehrheitsgesellschaft auf der Verliererseite stehen. Was wird aus der Familie, was wird aus der Region, wenn die Kinder fort sind?  Lohnt es sich noch in eine neue Unternehmung zu investieren oder nur das Haus zu renovieren. Und es fehlen nicht einfach Menschen, die jung, weiblich und gut ausgebildet sind, sondern die auch offener, risikobereiter, neugieriger, flexibler, individueller, kosmopolitischer als der Durchschnitt sind.

Aus dieser Gemengelage entstehen bei denen, die geblieben sind, die Gefühle von Benachteiligung und Perspektivlosigkeit. Auf diesem Nährboden entsteht dann eine Verschlossenheit gegenüber allem, was fremd ist; Rassismus und Intoleranz haben zugenommen und verschließen damit die einzige Möglichkeit in absehbarer Zeit, die demografische Homogenität durch Offenheit gegenüber Zuwanderung abzumildern.

Es ist ganz klar: Eine Gleichgültigkeit oder gar Toleranz gegenüber menschen- und demokratiefeindlichen Positionen und Handlungen darf es nicht geben. Schon gar nicht in einer Zeit, in der Extremisten Mordtaten begehen. Wann, wenn nicht jetzt muss gelten:

Der Intoleranz kann nur mit bewusster Intoleranz begegnet werden! Die offene Gesellschaft darf keine hilflose und wehrlose Gesellschaft sein! Wir brauchen mehr Entschlossenheit des Staates, damit Enttäuschte und Wütende wieder Vertrauen gewinnen. Wir brauchen mehr sensible und mutige Bürger in unserer Zivilgesellschaft, die sich für eine Entwicklung zum Wohle unseres Landes verantwortlich fühlen.

"Demokratie ist keine Party, zu der man eingeladen wird. Sie ist eine, die man selber ausrichten muss", hat der bereits erwähnte Bürgermeister Dirk Neubauer erklärt.

Deshalb gilt für Politiker wie für Bürger: Wir haben Verantwortung zu übernehmen. Die Demokratiegeschichte des alten Westens und die Freiheitsrevolution des Ostens, dazu unsere positiven Erfahrungen im Prozess der sich vollziehenden Einheit lehren uns: wir sind verantwortungsfähig und damit zukunftsfähig, Nun gilt es nicht zu ermüden, sondern verantwortungswillig zu sein.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mir war es wichtig, nicht nur der Musikkultur Dresdens zu huldigen, sondern unsere Erinnerung an 1989 zu verbinden mit Gefühlen, Gedanken und Problemen der Gegenwart. Jetzt aber lassen Sie sich von Solisten, Chor und Orchester berühren und ermutigen. Öffnen Sie sich der Kunst, die es auf ganz andere Weise als es das argumentative Wort vermag, Menschen zu sich selber zu bringen, sie zu stärken und miteinander zu verbinden zu immerwährender Suche nach einem besseren Miteinander.

Allen Mitwirkenden unter der Leitung von John Fiore danke ich ganz herzlich dafür, dass Sie uns heute Abend mit Ihrer Kunst beglücken.