Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Kommunalwahlen 1989

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck hält eine Rede im Paulinum in Leipzig

©Julien Reiter

Rede im Paulinum der Universität Leipzig

Besuch der Konrad Adenauer Stiftung Sachsen zum Thema Freiheit '89

05. Mai 2019, Leipzig

Ich komme gerne her, auch zum wiederholten Male und zum ersten Mal in dieses so schön gewordene Paulinum.

Warum treffen wir uns heute hier? Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat uns eingeladen, denn wir wollen uns bewusst machen, dass vor dem berühmten Herbst 1989 bereits etwas stattgefunden hat. Und so freue ich mich, hier in diesem Raum auf Menschen zu treffen, die schon vor dem Herbst aufgewacht und aufgestanden sind und ich begrüße Sie mit besonderer Herzlichkeit. `89 ist zur Chiffre geworden, wegen des berühmten 9. Oktobers hier in Leipzig. Aber wir wollen als Leipziger so großmütig sein, immer auch an die Plauener zu erinnern, die schon am 7. Oktober auf die Straße gegangen waren.

Damals ging es sichtbar voran. Ich habe mich im Nachhinein manchmal gewundert, an wie vielen Orten sich Menschen zusammengefunden hatten. Menschen, die lange vor diesem Phänomen, das nachher als Wende bezeichnet wurde, aufstanden und in sich selber etwas verwandelt haben.

Ich habe mir noch einmal bewusst gemacht, wie häufig d er Begriff Wende für die Friedliche Revolution verwendet wird und zwar nicht nur in Niedersachsen oder Baden-Württemberg, sondern durchaus auch hier im Osten. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Im Osten gibt es eine große Gruppe von Leuten, die wollen lieber das Wort "Wende" hören als "Friedliche Revolution", weil sie das mit der Revolution nicht so mochten oder heute noch über ihren Machtverlust böse sind. Im Westen dagegen scheint die Vorstellung einfacher, das habe sich einfach so von selbst ergeben, eine Art Implosion. Dann muss man nicht denen dankbar sein, die etwas riskiert haben und etwas gemacht haben, was andere Deutsche sich nicht trauten. Aber wir bleiben dabei, es war mehr als eine Wende, es war ein revolutionärer Umbruch und wir freuen uns darüber und gehen heute dem nach, was davor kommen musste. Bevor etwas in der ganzen Gesellschaft in Bewegung kommt, muss es immer so etwas wie einen Ermächtigungsvorgang geben. Deshalb lassen Sie uns auf die Bedeutung der kleinen Gruppen und auch der einzelnen Individuen schauen.

Wenn wir die Geschichte der Demokratie anschauen, werden wir feststellen, dass die Demokratie zuerst geboren wird in der Sehnsucht von unterdrückten Menschen. Dann entstehen theoretische Grundforderungen in den Köpfen von einzelnen, aufgeklärten Individuen. Sie vermitteln diese in kleinen Gruppen, die zunächst Minderheiten sind. Konkrete Gestalt nimmt die Demokratie zuerst in überschaubaren Stadtgesellschaften an, wo die Fürstenherrschaft nicht mehr angesagt ist. Die Bürger kommen dort zu einem Gestus, den man die Haltung eines Citoyens nennen kann. Niemals ist per Knopfdruck eine ganze Gesellschaft davon überzeugt, dass Freiheit und Demokratie eine Lebensmöglichkeit sind. Sondern immer gehen Einzelne und kleinere Gruppen der Mehrheit voraus. Das müssen wir uns zu jeder Zeit bewusst machen, nicht nur in Zeiten von totalitärer oder autoritärer Herrschaft, auch in Zeiten der Demokratie. Minderheiten und Individuen spielen bei der Gestaltung einer freiheitlichen Gesellschaft eine große Rolle.

Gerne wird von den Gefahren des Individualismus gesprochen – das ist auch gut so –, aber wir dürfen niemals übersehen, was an Fähigkeiten in einzelnen Menschen wächst und die Fähigkeit hat, andere Menschen anzustecken und zu aktivieren.

Wir haben in der Einführung schon gehört, dass wir damals in Deutschland und auch in Ostdeutschland manches nicht selbst erfunden haben. Ich freue mich immer, wenn wir in diesem Zusammenhang an unsere polnischen Nachbarn denken. Wir waren aber auch im Osten Deutschlands schon einmal in einer sehr revolutionären Stimmung, als der Aufstand am 17. Juni 1953 und den folgenden Tagen blutig niedergeschlagen wurde. Aber später hatten wir uns, sagen wir mal zähneknirschend, an unsere Ohnmacht gewöhnt. Es war für uns manchmal irritierend, mit welcher Vehemenz Menschen in Polen ans Streiken dachten. Wir waren noch überzeugt, Streik geht nicht im Sozialismus.

Die Polen haben ein Sprichwort: "Glaube niemandem, der dir sagt, dass du mit dem Kopf nicht durch die Wand kommst." Das ist ein problematisches Sprichwort. Ich empfehle es nicht generell, denn manchmal hilft es auch, nachzusehen, ob die Wand nicht auch Türen hat, durch die man gehen kann. Aber trotzdem ist es ein Vermögen des Menschen, damit zu rechnen, dass auch das wenig wahrscheinliche umgesetzt werden kann. Da sind uns die freiheitsliebenden Polen oft ein Vorbild gewesen und das waren sie auch für viele der kirchlichen Gruppen in der DDR, evangelisch wie katholisch.

Wir haben vorhin gehört, wie kompliziert das Wählen in der DDR war. Kompliziert ist aber vor allem, sich vorzustellen, dass das Falten eines Zettels und das Einwerfen des unbeschädigten Zettels eine Wahl sein soll.

Liebe anwesende Lehrerinnen und Lehrer, bitte besorgen Sie sich doch einmal eine Kopie, um denen, die jetzt zur Schule gehen, einen Wahlzettel von damals zu zeigen. Dann werden sich die jungen Leute wundern, dass da nirgends ja oder nein steht, oder nirgends Kästchen, wo wir unser Kreuz machen können. Da wird jeder sagen: "Das war doch keine Wahl."

Irgendwann hat uns das natürlich gereicht. Das war schon lange vor ‘89 so. Aber ‘89 kam dann neu hinzu, dass sich ganz besonders in den kirchlichen Jugend- und Basisgruppen Netzwerke gebildet hatten, die sich verabredeten. Sie wollten nicht nur individuell in ihren Kämmerlein dagegen sein und überlegen, ob sie es dieses Mal wagen, nicht zur Wahl zu gehen oder in die Wahlkabine zu gehen. Sondern sie kontrollierten die Wahl, indem sie Leute hinschickten, die beim Auszählen zuschauten und sich selber Notizen machten.

Herzlichen Dank an diejenigen, die damals dabei waren: Pfarrer Turek, der organisiert hat, dass es eine zentrale Stelle gab, zu der wir die Ergebnisse hintragen konnten. Schönen Dank an diejenigen, die ihre Telefone zur Verfügung stellten. Damals, meine jüngeren Damen und Herren Studierende, gab es nämlich keine Handys. Es gab auch keine Computer und in einer Landschaft wo nur jeder 24. oder 54. ein Telefon hatte, war allein eine Übermittlung von Fakten schon ein höchst komplexes Vorhaben

Ich möchte heute auch mit Ihnen darüber reden, wie sehr man sich an Dinge gewöhnen kann, die einem nicht gefallen. Die Leute, die den Mut hatten sich aufzumachen und zu sagen: "Jetzt zählen wir mal selber nach", haben etwas Ungehöriges getan, weil sie sich verabredet hatten, etwas zu tun, wozu ihnen keine staatliche Instanz eine Aufforderung gegeben hatte. Das ist in solchen Zeiten sehr schwierig, selbst wenn Sie hoch sinnvolle Dinge taten, wie eine Baumpflanz-Aktion mit ihrer Jugendgruppe. Es hat niemandem geschadet, aber war damals irgendwie staatsfeindlich, weil sie nicht vorher die Erlaubnis eingeholt hatten. Und die Staatssicherheit hat darüber Akten angelegt, warum die das wohl tun. Als diese Leute sich also ihr staatsbürgerliches Recht genommen haben, in die Wahllokale zu gehen, da war man hoch irritiert, schon bevor sie anfingen den Zählvorgang zu begleiten.

Ganz besonderen Respekt habe ich vor denen, die damals sogar gewagt hatten, Anzeige wegen Wahlfälschung zu erstatten. Denn wir wussten ja, wie unsere Gerichte waren. Dennoch ist man in Berlin und Halle, ich weiß nicht, ob auch in Leipzig, tatsächlich zum DDR-Gericht gegangen und hat Anzeige erstattet. Es war schwierig, sich dann als Zeuge benennen zu lassen. Wir kennen aber ein paar Namen von Frauen und Männern, die bereit waren, damals Zeugnis abzulegen. Wir müssen uns immer wieder klar machen, wie kompliziert das war und wie viel inneren Widerstand man auch überwinden muss, um zu diesen Handlungen von Zivilcourage zu kommen.

Als Egon Krenz uns im Fernsehen und Rundfunk dann erzählte, wie großartig die DDR-Bürger wieder in seinem Sinne abgestimmt hatten, da wusste eine Minderheit von Informierten schon, dass das gelogen war. Dieses Mal wusste man nicht nur schon von vorne herein, dass sie wieder lügen, man konnte es auch mit konkretem Zahlenmaterial belegen. Es ging hier um eine Staatsmacht, die sich vom Volk ja irgendwie legitimieren lassen muss, aber diesem eigenen Volk nicht traut und auch noch ein Ergebnis von über 90 Prozent fälschen muss.

Hier in Leipzig sollen es zwischen 9 und 11 Prozent gewesen sein, die gegen den Wahlvorschlag gestimmt haben. Auf überregionaler DDR-Ebene waren es nicht ganz so viele. Aber der Abschied von der Ohnmacht ist möglich. In uns muss der Wille und die Kraft wachsen, etwas zu tun, was die Mehrheit nicht tut. Und dann machen wir uns deutlich, dass dieser Abschied von der Ohnmacht eigentlich eine Haltung ist, die für Menschen gilt, die Verantwortung lieben und aktiv leben wollen, und sie müssen eine immer währende Lebensleistung erbringen, um sich von der, ich nenne das mal "einladenden Ohnmacht", zu verabschieden.

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck tauscht sich mit Studierenden in Leipzig aus

©Julien Reiter

Austausch mit Studierenden der Universität Leipzig

Warum nenne ich die Ohnmacht einladend? Weil die Menschen, die sich in die politische Ohnmacht begeben das nicht so nennen. Sie sagen nicht: "Ich begebe mich in die Ohnmacht", sondern sie sagen sich: "Politik, das ist alles falsches Spiel und wählen hat sowieso keinen Sinn." Sie haben eine Alltagsideologie, mit der sie den Begriff Ohnmacht vermeiden. Sie gehen aber tatsächlich in eine Haltung der Nicht-Mitbestimmung. Warum tun sie das? Weil es etwas Beruhigendes und Tröstliches hat. Jeder, der in diese Haltung geht, der nicht wählt, der sich nicht aktiviert, ist nie an etwas schuld. Es sind automatisch immer die anderen. Und man ist niemals im Zweifel, für das Richtige oder das Falsche entschieden zu haben.

Deshalb ist unsere Auseinandersetzung damit, in welcher Haltung wir Teil der Gesellschaft sein wollen, gefragt. Es ist nicht nur die Zeit von autoritärer Herrschaft und Diktatur, die uns auffordert diesen Gestus der Ohnmacht abzulehnen, sondern wir müssen uns bewusst machen: Es ist eine permanente Aufforderung an uns als Lebewesen in einer freien und offenen Gesellschaft, den Abschied von der Ohnmacht für uns und als Gruppe zu vollziehen.

Ich weiß, man kann sehr gut auch anders reden. Wenn ich mit jungen Leuten übers Wählen spreche und unterschiedliche Arten von Wahlvorgängen bespreche, sage ich immer: Ihr wisst doch genau, welche Sportschuhmarke gerade angesagt ist. Und ich kann Ihnen sagen: Sie wissen es alle. Sie sind voll wahlfähig, wenn es um bestimmte Produkte geht oder um bestimmte kulturelle Vorlieben. Sie sind entscheidungsfähige Menschen. Und wechselt man auf das Feld der Politik, wirken sie, als hätten sie die Möglichkeit der Entscheidung überhaupt nicht, als würde das in ihrem Inneren gar keine Wahl sein. Wir könnten dann sagen: "Kunde sein, das kann jeder. Bürger sein, will eingeübt sein." Das ist nicht selbstverständlich. Deshalb sollten wir aber nicht das Kundendasein verteufeln. Wir sind ja auch alle Verbraucher. Aber wir brauchen mehr als nur die Fähigkeit, ein funktionierender Kunde zu sein. Wir wollen nämlich nicht nur, dass die Wirtschaft brummt, sondern wir wollen neben einem Wirtschaftswunder auch ein Demokratiewunder. Und dieses Demokratiewunder haben Leute in Deutschland geschaffen, nach einem verbrecherischen Krieg und nach unendlichen Mordtaten. In Jahrzehnten haben sie das Recht wieder errichtet, haben aufgebaut, was zerstört war, haben eine Moral wieder hergestellt, an die man sich halten konnte und haben vor allen Dingen die Rechtsordnung und unser Grundgesetz geschaffen.

Sie haben also gezeigt, wir haben in uns die Fähigkeit nicht nur Kunde, sondern auch Citoyen zu sein. Und nun müssen wir uns klar machen, dass dieser Prozess nicht immer geradlinig verläuft. Das sehen wir gerade hier im Osten Deutschlands, aber auch in Mittel und Osteuropa. Transformationsgesellschaften brauchen eine Übergangszeit, um sich von der diktatorischen oder autoritären Herrschaft hin zu einem Leben in einer offenen Gesellschaft mit freier Selbstbestimmung zu entwickeln. In Zeiten der durchherrschten Gesellschaften gewöhnt man sich an die Normalität von Ohnmacht, an die Normalität, Angst zu haben und sich anzupassen. Es gibt so etwas wie eine aus dem Faktischen herrührende Normalität, die dir einredet, Anpassung ist normal, sich zu fürchten vor dem da oben, ist normal und wenn du nicht normal handelst und lebst, lebst du gefährlich. Deshalb sind wir alle in einen Sog geraten, in dem wir mehr oder weniger angepasst waren.

Die ganz wenig Angepassten waren nicht immer die beliebten, meine Damen und Herren. Dieser Sog hin zu einer Lebensform, die uns sichert, ist ein menschlicher Sog. Es gibt so etwas wie eine Rationalität von Furcht vor den Mächtigen und eine Rationalität der Anpassung. Ohne dass wir es so genannt haben, haben wir es aber damals doch internalisiert. Und ich spreche nicht über Sachsen. Ich spreche über Menschen, denen man die Ohnmacht als normale Lebensform aufgedrückt hat. Und immer wird es so sein, dass wir einen Teil des Systems in uns hinein nehmen, der Unterdrücker wird internalisiert. Um ihn von dort zu entfernen, muss man sich anstrengen. Dafür braucht man Vorbilder, die einem zeigen: Du hast eine Wahl, du musst nicht einfach der Ratio diese Anpassung folgen, du kannst dann vielleicht nicht alles erreichen, aber du folgst einem persönlichen Pfad, der dich zufriedener und glücklicher macht. Du folgst deinen Werten, obwohl sie im Moment vielleicht gerade nicht anerkannt sind. Und heute sitzen in diesem Raum Menschen, die dieses Vertrauen auf ihre eigenen Werte ernster genommen haben als diese ganze natürliche Form von Anpassung.

Ich bin oft im Westen Deutschlands unterwegs, weil ich manchmal recht kritische Worte über die DDR-Vergangenheit sage und den Menschen erkläre, dass wir hier in den östlichen Bundesländern nicht einen anderen Charakter haben. Sondern dass die Westdeutschen, hätten sie diese Machtverhältnisse gehabt in eben dieser Weise funktioniert hätten. Und dass es eben kein besonderes Sachsen- und Thüringenproblem gibt, sondern ein Problem von durchherrschten Gesellschaften oder von freien Gesellschaften. Die Art und Weise, wie wir gelebt werden oder leben dürfen, prägt uns auch. Deshalb gibt es noch diese Unterschiede, die im Wahlverhalten oder auch in der Bewertung einiger wichtiger Normen und Werte zwischen Ost und West sichtbar werden. Es ist ein Phänomen, dass es nicht nur in Deutschland gibt, sondern überall dort, wo wir Transformationsgesellschaften haben.

Wir sollten den aktuellen Verführungen, das zu akzeptieren, was uns außer Gefecht setzt, – nämlich Ohnmacht – immer widersprechen. Es ist nicht sicher, dass wir uns mit unseren politischen Anliegen und den eigenen Wertvorstellungen immer durchsetzen können. Aber es ist sicher, dass wir den freien Raum haben, in dem wir dies tun können. In dem wir werben können, um Zustimmung für unsere Meinung, für unsere politische Meinung und für unsere Wertentscheidung. All dieses ist in dem großen freien Raum der offenen Gesellschaft möglich. Danken wir deshalb all den Menschen, die früh denen gezeigt haben, die noch abwarten wollten:

Es ist möglich, wir haben eine Wahl, wir können uns von der Ohnmacht und der Angst verabschieden und sagen: Ja, hier sind wir, Bürger die Verantwortung wollen und sie annehmen.

Ich danke Ihnen.