Verleihung des Annetje Fels-Kupferschmidt Award
22. Januar 2020, Amsterdam, Niederlande
Es gilt das gesprochene Wort.
Goode middag!
Mit Freude und großer Dankbarkeit nehme ich Ihre Auszeichnung, den Annetje Fels-Kupferschmidt Award, an.
Es bewegt mich, dass ich, der im Jahr des deutschen Überfalls auf die Niederlande geboren wurde, hier in Amsterdam ausgezeichnet werde. Und zwar mit einem Preis, der den Namen Ihrer langjährigen Vorsitzenden und Ehrenvorsitzenden Annetje Fels-Kupferschmidt trägt. Einer Frau, die den deutschen Einmarsch als niederländische Jüdin erlebte und nach der Befreiung 1945 zu einer international beachteten Vorkämpferin gegen Antisemitismus wurde.
Ich empfinde Freude über diese Auszeichnung, weil ich mich verbunden fühle mit Ihnen allen. Ihnen, denen die Aufarbeitung unserer Geschichte, die Erinnerungsarbeit und die Erziehung künftiger Generationen im Geiste von Freiheit und Aufklärung ein Anliegen sind.
Und ich empfinde Dankbarkeit, wenn ich heute hier erneut Überlebende des deutschen Besatzungsterrors und des Holocaust treffen darf.
Dankbarkeit gegenüber der Großherzigkeit und dem Versöhnungswillen von Menschen, die allen Grund hätten, weder großherzig noch versöhnungswillig zu sein.
Dankbarkeit, wenn mir als Deutschem, wenn uns als Deutschen trotz des Abgrunds des Holocaust und trotz des Abgrunds des Weltkrieges Versöhnung und Freundschaft mit früheren Opfern ermöglicht wird.
Der Bitte des Niederländischen Auschwitz Komitees, die "Auschwitz Never Again Lecture" zu halten, bin ich daher gern gefolgt.
Dank u wel!
Ich fühle mich geehrt, hier zu ihnen sprechen zu können – in einer Reihe mit Preisträgern wie Raul Hilberg, Simone Veil, Jorge Semprún, Thomas Buergenthal oder auch Christopher Browning, Menschen, die die mich sehr beeindruckt haben – mit ihrer Persönlichkeit und mit ihrer Arbeit.
Ein Wort der Anerkennung möchte ich auch der Arbeit des Niederländischen Auschwitz Komitees sagen. Ich habe mit Interesse gelesen, was Ihre Vereinigung seit 1956 an Erinnerungsarbeit leistet. Sie richten den Blick wachsam auf Probleme der Gegenwart, blicken aber auch voraus in die Zukunft. Sie wissen: Jüdisches Leben ist nach dem Holocaust neu erblüht in unseren Ländern – Europa beruht auf freien, offenen Gesellschaften, in denen es sich zu leben lohnt.
Gleichzeitig aber können wir nicht die Augen davor verschließen, dass in den letzten Jahren neben einem quasi traditionellen ein neuer Antisemitismus und ein neuer Antizionismus erstarkt sind. Antisemitismus ist bis in die Alltagskultur vorgedrungen, in rechte und linke Jugendkulturen, in die Vorstellungen rechtspopulistischer Parteien, in so manche Moschee. Und Antisemitismus ist gewalttätig geworden, ich verweise etwa auf bedrückende Erfahrungen französischer Juden.
Und in Deutschland gab es 2019 einen Anschlag in Halle Anfang Oktober 2019, bei dem es nur deshalb nicht zu einem Blutbad in der Synagoge kam, weil die Eingangstür den Schüssen des Attentäters standhielt. Vor der schützenden Tür verloren zwei Menschen ihr Leben.
Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben: Keine noch so gute Politik kann Fanatismus und Hass ausrotten. Aber derartigem Hass, derart gewalttätigem Antisemitismus muss mit der Härte des Gesetzes begegnet werden. Es ist bitter, dass wir uns diesem Thema heute in neuer Dringlichkeit zu stellen haben. Aber Antisemitismus gleich welcher ideologischen Verbrämung kann nur mit Intoleranz begegnet werden. Sonst würden wir unser Erfahrungswissen ignorieren und unsere Wertebasis verraten.
Als ich jung war und begann, politisch zu denken, konnte ich das Land meiner Väter nur hassen. Dieses Land, immerhin das Land von Goethe, Schiller und Beethoven, war moralisch so tief gefallen. Ich hasste Deutschland für das, was die Generation meiner Eltern angerichtet hatte: Diktatur, Besetzung anderer Staaten, Vernichtungskrieg und Holocaust. Und ich verachtete die Generation der Eltern dafür, dass sie über all das den Mantel des Schweigens, des Vergessens und Verdrängens hüllten.
Die Bereitschaft zur Befassung mit der eigenen Schuld, mit Mitläufertum oder eigenen Verbrechen – sie entstand erst spät und unter Schmerzen. "Wir haben ja nichts gewusst" oder "wir konnten ja nichts machen", diese Haltungen hielten sich lange – sogar die Haltung: "Es war ja nicht alles schlecht".
Als Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 1977 als erster deutscher Regierungschef das Vernichtungslager Auschwitz besuchte, sagte er: "Eigentlich gebietet dieser Ort zu schweigen. Aber ich bin sicher, dass der deutsche Bundeskanzler hier nicht schweigen darf". Dieser Satz des ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Schmidt ist vielen Menschen in Erinnerung geblieben.
Auschwitz-Birkenau, das nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager, in dem zwischen 1940–1945 über eine Million Menschen, vor allem Juden, umgebracht wurden, ist zu einem Synonym für Terror und Völkermord des nationalsozialistischen Regimes geworden. Hier ereignete sich ein Grauen, das – obwohl tausendmal in seiner ganzen Dimension beschrieben – nie wirklich erfasst werden kann. Und obwohl das so ist, wäre Schweigen nicht angemessen. Es bleibt unsere Aufgabe zu sagen, was war und zu warnen vor dem, was passieren kann.
Als Nachkriegskind erinnere ich mich generell mehr an das Schweigen als an das Reden. Es war ein Schweigen, das die Vergangenheit und die Verbrechen überdecken sollte.
Ein Kommentator der so genannten "Nürnberger Rassegesetze" leitete unter dem ersten Bundeskanzler das westdeutsche Kanzleramt.
Auch die Menschen in der DDR waren "unfähig, zu trauern", wie es Alexander und Margarete Mitscherlich für Westdeutschland noch in den 1960er Jahren diagnostizierten. Die regierenden Kommunisten pflegten die Erinnerung an den kommunistischen Widerstand, aber eine Aufarbeitung des Holocaust gab es nicht. Schon in den 1950er Jahren gab es zudem in der SED mehr ehemalige NSDAP-Mitglieder als in jeder anderen deutschen Partei. Zudem bewirkte die Propaganda des SED-Staates die Verdrängung, indem sie sich einfach auf die Seite der Sowjetunion und damit auf die Seite der Guten schlug.
Es war die Generation der Söhne und Töchter, die dann vor allem in Westdeutschland die schmerzhaften Fragen nach Schuld und Mitschuld aufgeworfen hat – aufgerüttelt durch mutige Einzelne wie den Staatsanwalt Fritz Bauer, der Anfang der 1960er Jahre die Frankfurter Auschwitz-Prozesse erzwang.
Auch begann mit der 1968er Bewegung, die nach der Schuld der Täter und dem Opportunismus der Mitläufer fragte, eine breitere und existentielle Aufarbeitung. Meine Generation begann sich dem zu stellen, was durch unser Land geschehen war – allem voran mit dem Holocaust an den europäischen Juden. Wir forschten und hatten teil am internationalen Diskurs über die Segregation und anschließende Auslöschung an millionenfachem Leben, an Juden, an Sinti und Roma, Kommunisten, Behinderten und an anderen Gruppen, alles im Geiste einer wahnhaften Überhöhung der eigenen Rasse.
Aber es dauerte lange, bis sich die Fähigkeit zum Benennen und Anerkennen deutscher Schuld in der Breite unserer Gesellschaft verankerte.
Als Bundeskanzler Willy Brandt bei einem Besuch in Polen am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos auf die Knie fiel, um für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg um Vergebung zu bitten, fand fast die Hälfte der Westdeutschen diese Geste "übertrieben".
Das war nicht 1950, sondern es war Ende 1970.
Spät, sehr spät, lernten wir Deutschen, dass die Anerkennung von Schuld, auch das Bezeugen von Scham eine Gesellschaft nicht schwächer, sondern stärker macht. Manche meiner westdeutschen Altersgenossen gingen früh mit "Aktion Sühnezeichen" nach Israel, andere erforschten die Lebensgeschichten von Überlebenden, richteten Geschichtswerkstätten ein, errichteten Gedenktafeln, später erinnerten Nachgeborene mit den sogenannten Stolpersteinen an ehemalige jüdische Bewohner, die ermordet wurden. Viele Schüler besuchten ehemalige Konzentrationslager. Viele junge deutsche Männer verweigerten den Dienst an der Waffe mit Verweis auf das Grauen der deutschen Geschichte. Breite Teile der ganz normalen deutschen Bürger befassten sich ernsthaft und nachhaltig mit der deutschen Geschichte, besonders intensiv nach die Ausstrahlung der aufrüttelnden amerikanischen Serie "Holocaust".
Über Jahrzehnte haben dann deutsche Schulen, Medien, Theater, Kirchgemeinden, Parteien und Bürgervereinigungen einen tiefen Bewusstseinswandel bei der Mehrheit der Deutschen bewirkt, indem sie die Vergangenheit an den Fakten orientiert und auf das Thema Schuld fokussiert an die Zeitgenossen herangetragen haben. Und besonders diejenigen, die Auschwitz und andere Schreckensorte besucht haben oder Überlebenden des Holocaust begegnet sind, werden niemals die Gefühle der Betroffenheit und des Erschreckens vergessen, die wohl jeden ergreifen, der seine Seele nicht gegenüber Leid verhärtet.
Niemand vermag gänzlich davon zu abstrahieren, welcher Nation er angehört. Es gibt ein Band, das jeden mit der Vergangenheit seiner Gesellschaft verbindet. Und wenn dieses Band für die heutigen Deutschen nicht mehr Schuld heißt, so heißt es heute Befangenheit und Betroffenheit. Und daraus ist Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein erwachsen.
Ich werde immer in Erinnerung behalten, wie ich 2012 in Breda anlässlich des Tags der Befreiung der Niederlande als erstes deutsches Staatsoberhaupt der mehr als 100.000 niederländischen Juden gedachte, die der Ausrottungspolitik Deutschlands zum Opfer fielen – unter ihnen Anne Frank. Gemeinsam mit der niederländischen Königin gedachte ich auch der hunderttausenden niederländischen Zwangsarbeiter und der ungezählten niederländischen Kriegsopfer, die etwa bei der Bombardierung Rotterdams umkamen.
Und ich erinnerte an die, die für uns Vorbilder wurden, weil sie sich widersetzt hatten: An die Kommunistische Partei der Niederlande, die mit einem Generalstreik gegen die Verschleppung der ersten 400 Juden in das KZ Mauthausen protestierte. An Menschen wie Emanuel Querido, der in Amsterdam einen Verlag für Exilschriftsteller gründete. Auch an Corrie ten Boom, die jüdische Familien in ihrem Haus versteckte, deswegen denunziert wurde, ins KZ Ravensbrück kam – und später den Kriegsgegnern die Hand reichte.
Wie könnte jemand gerade als Deutscher angesichts von so viel Leid einerseits und so viel Aufopferungs- und Versöhnungsbereitschaft andererseits gleichgültig bleiben?
Als Auschwitz befreit wurde, war ich gerade fünf Jahre alt geworden. Drei Monate später ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Ich bin persönlich also nicht schuldig für das, was andere Deutsche vor meiner Geburt und in meiner Kindheit verbrochen haben. Trotzdem beschlich mich als junger Mensch immer wieder das Gefühl auch eigener Schuld.
Vielleicht war ein Teil davon die Übernahme jener Schuld, die die Generation vor mir nicht auf sich genommen und verdrängt hatte. Als junger Pastor habe ich in meiner Gemeinde sogar versucht, noch Angehörige der dritten Generation mit dem Gefühl von Schuld anzustecken. Heute weiß ich: Das mag gut gemeint gewesen sein, aber es war töricht. Schuld hat eine personale Dimension. Es ist möglich und nötig, Menschen die Augen zu öffnen und sie im Sinne der Verantwortung zu erziehen, ohne ihnen Gefühle von Schuld einzuimpfen.
In Deutschland war ich nach der Wiedervereinigung lange Jahre Vorsitzender einer Vereinigung "Gegen Vergessen – Für Demokratie", die vielfach und erfolgreich mit Zeitzeugen gearbeitet hat, um gerade junge Menschen über die Vergangenheit aufzuklären. Wie viele von Ihnen hier im Saal haben wir uns auch dort gefragt, wie Erinnerungsarbeit möglich sein wird, wenn wir eines Tages gänzlich auf die Zeitzeugen werden verzichten müssen. Schwerlich nur dürfte es gelingen, die tiefe emotionale Erschütterung, die meine Generation in der Konfrontation mit Tätern und Opfern der Nazizeit erlebt hat, in gleicher Weise weiterzutragen, in unsere Schulen, unter unsere jetzige Jugend.
Doch die zunehmende Distanz kann auch ein Vorteil sein. Ich erlebe immer wieder, dass sich Enkel und Urenkel der schambehafteten Vergangenheit offener und uneingeschränkter zu stellen vermögen als ihre Eltern und Großeltern. Dabei muss die emotionale Betroffenheit keineswegs verloren gehen. Auch Angehörige der dritten und vierten Generation, auch Menschen ohne deutsche Wurzeln werden berührt, wenn sie konkrete Einzelschicksale erforschen, mit Hilfe von Dokumenten, Tagebüchern, Videoaufzeichnungen oder den Erinnerungen anderer.
Wenn ihnen Geschichten von "normalen" Leuten begegnen, die ihre Nachbarn hätten sein können, oder ihre Verwandten oder ihre Schulkollegen. In Menschen, die so sind "wie du und ich", kann sich auch jungen Menschen fremdes Leid erschließen. In "ganz normalen" Menschen können sie erkennen, wie schnell Menschen zu Handlangern oder wichtigen Exekutoren des Bösen wurden und wie teilweise banal das Böse sich ausbreitete.
In Berlin habe ich viele Jahre dicht am Bayerischen Viertel gewohnt, einer Gegend, in der einst recht viele Juden lebten, sogar einige Prominente, etwa Albert Einstein.
In dieser Nachbarschaft wurde vor 25 Jahren eine dauerhafte Flächenausstellung eingeweiht, die an 80 doppelseitig gestalteten Schildern nationalsozialistische Gesetze und Verordnungen auflistet, mit denen die Entrechtung der Juden in Deutschland vorangetrieben wurde.
Auf einem Schild, angebracht vor einer Arztpraxis, steht etwa: "Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren. 25.7.1938".
An anderen Stellen steht: "Juden dürfen kein selbständiges Handwerk mehr betreiben. 12.11.1938", oder: "Juden dürfen keine Haustiere mehr halten. 15.5.1942". Man kann natürlich fragen: Sind derartige Beispiele nicht zu banal, um das große Verbrechen zu zeigen? Man kann aber auch der Meinung sein, dass diese Beispiele dadurch so verstörend und erhellend wirken, weil sie so banal sind.
Ich stimme jedenfalls einem Autor zu, der ein Buch über die Ausstellung verfasste. Wer lesend das Viertel durchstreift, – so sein Urteil – der versteht, "dass jede der Tafeln einen Knoten im Netz der Entrechtung markiert. Dass jede weitere Bestimmung seine Maschen ein Stück enger zog. So lange, bis es keinen Ausweg mehr gab." Es gab viele Knoten im Netz der Entrechtung.
Und hinter jedem staatlichen Befehl standen ganz konkrete Menschen, die Befehle erteilten und ausführten. Es waren keine anonymen Mächte, es war auch nicht Hitler allein. Sehr häufig waren es Menschen aus unserer Nähe.
Die Großmeister des Bösen bedienten sich der Technokraten der Macht, des mittleren Apparates und zuletzt in der Aktionskette jener Menschen, die die Entrechtung und schließlich das Mörderhandwerk tatsächlich betrieben. Auch diese Mörder waren nicht nur brutale Sadisten in SS-Uniformen, sondern mitunter ganz einfache Wehrmachtsangehörige oder Hilfspolizisten.
Christopher Browning, den Sie vor einigen Jahren ebenfalls auszeichneten, hat über das Reservepolizeibataillon 101 aus Hamburg berichtet. Die Mehrheit der Polizisten beugte sich dem Befehl, Juden im besetzten Polen zu erschießen. Aber eine kleine Minderheit, zwölf von etwa 500 Uniformierten, verweigerte sich dem Befehl, wofür sie im Übrigen nicht bestraft wurden. Was Jugendliche, was aber auch wir Erwachsenen daraus lernen können, wir alle, die wir heute leben?
Die entscheidende moralische und praktische Erkenntnis für mich ist: Wir haben eine Wahl, wenn auch in Zeiten von Diktatur und Krieg nicht jede Wahl. Aber in der Regel können wir wählen – zwischen Gut und Böse, zwischen schlechter und besser. Sicher werden wir das Unrecht nicht aus dieser Welt schaffen – aber es ist ziemlich sicher: Würden wir unsere Fähigkeiten deutlicher wahrnehmen, das Gute oder das Bessere zu wählen, würde diese Welt besser sein – lebenswerter, humaner.
"Das haben Menschen Menschen angetan", sagte die polnische Schriftstellerin Zofia Nałkowska, als sie als Mitglied einer internationalen Untersuchungskommission unmittelbar nach der Befreiung Konzentrationslager inspiziert hatte.
In den Todeslagern zeigte sich mit aller Brutalität, wozu der Mensch fähig ist – und zwar unabhängig von der konkreten Ideologie. Denn der Nationalsozialismus war nicht das einzige verbrecherische System im 20. Jahrhunderts. Besonders unter der stalinistischen Terrorherrschaft wurden auch in der Sowjetunion und später in China und Kambodscha Menschen millionenfach entrechtet, verhaftet, erschossen, dem Hunger preisgegeben.
Mochten die ideologischen Begründungen der Kommunisten auch gänzlich anders sein als im Nationalsozialismus – die konkreten Herrschaftstechniken, die dienstbare Rolle des Rechts, die staatsterroristische Herrschaft über den Bürger waren die gleichen. In beiden Fällen hatten wir es mit totalitären Systemen zu tun. In beiden Fällen wurde das aus der Aufklärung erwachsene Demokratieprojekt ruiniert und die Willkürherrschaft weniger, die nicht frei vom Volk gewählt worden waren, geradezu verewigt.
In Deutschland sind diese Ähnlichkeiten lange Zeit verdrängt worden. Viele fürchteten, mit der Diskreditierung der linken Diktatur zu eng an jene heranzurücken, die sich vor der Aufarbeitung der rechten Diktatur drückten. So hat die Furcht vor der Einseitigkeit des rechten Lagers oftmals die Einseitigkeit des linken Lagers bewirkt.
Umso mehr freut es mich, dass Sie, lieber Herr Grishaver, als eine Begründung für meine Auszeichnung auch meine Arbeit als Beauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR nannten. Ja, ich habe diese Aufgabe zehn Jahre lang aus voller Überzeugung erfüllt. Mit der Öffnung der Akten des Staatssicherheitsdienstes konnten wir Herrschaftswissen einer Macht, die nicht durch freie Wahlen legitimiert war, in die Köpfe des unterdrückten Volkes bringen. Wir konnten nicht nur Zuträger des Geheimdienstes aus öffentlichen Ämtern entfernen und Verfolgte zu Herren ihrer Personendaten machen, wir konnten auch die Rehabilitierung unschuldiger Opfer befördern. Und zudem konnten Medien und Wissenschaft faktengestützt die Feinstruktur von Unterdrückung offenlegen.
Bis heute bin ich der Meinung: Es ist keine Relativierung der deutschen Schuld am Holocaust, und auch kein Ablenkungsmanöver, wenn Deutsche, die offen über den totalitären Nationalsozialismus sprechen, auch über den totalitären Kommunismus sprechen.
Es ist keine unerlaubte Gleichmacherei, wenn Ähnlichkeiten in Herrschaftsmechanismen unterschiedlicher Regime thematisiert werden – Ähnlichkeiten und Unterschiede, natürlich.
Es ist keine Geringschätzung der Leistung der sowjetischen Armee bei der Befreiung Deutschlands und Europas vom Nationalsozialismus.
Und es ist nicht einmal eine Verleumdung jener idealistischen, nicht regierenden Kommunisten, die – etwa beim niederländischen Februarstreik 1941 – aufopferungsvollen Widerstand leisteten gegen die extreme Rechte und dabei mitunter Verbündete von Demokraten waren. Im Gegenteil. Es ist schlichtweg mein Wunsch und so wird es in der Haltung des Niederländischen Auschwitz-Komitees auch deutlich: Gegner jeden Totalitarismus können doch Verbündete sein dabei, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu thematisieren, anzuklagen und auch darin, sie aufzuarbeiten.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Das Niederländische Auschwitz-Komitee hat mir bei einem Interview im Vorfeld der heutigen Preisverleihung die Frage gestellt, wie ich über den Gedenktag zur Befreiung von Auschwitz am 27. Januar denke. Erlauben Sie mir, meine Rede mit meiner eigenen Antwort zu beenden:
"Wir erinnern uns an die Verbrechen, an Schuld und Verantwortungslosigkeit nicht einfach, weil wir mit der Vergangenheit verbunden bleiben wollen. Wir sind nicht vergangenheitssüchtig, aber wir sehen am falsch gelebten Leben, wie wichtig es ist für Gegenwart und Zukunft, die Würde und die Rechte aller Menschen zu wahren."
In diesem Geiste danke ich dem Niederländischen Auschwitz Komitee erneut für die großzügige Einladung in Ihren Kreis und die heutige Auszeichnung.
Und Ihnen allen danke ich dafür, dass wir uns gemeinsam zuhause fühlen können in Gesellschaften und in Zeiten, in denen kontinuierlich daran gearbeitet wird, die richtigen Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit zu ziehen.
Daran, Individuen zur Freiheit zu ermächtigen.
Und daran, das Humanum zu bewahren.
Sie alle tragen dazu bei mit Ihrem Wirken und mit Ihrer Haltung.
Haben Sie Dank.