Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Festakt Überführung Stasi-Unterlagen in Bundesarchiv

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©BKM/Zahn

Joachim Gauck spricht beim beim "Festakt zur Überführung der Stasi-Unterlagen in das Bundesarchiv"

Rede beim "Festakt zur Überführung der Stasi-Unterlagen in das Bundesarchiv"

17. Juni 2021, Berlin

Änderung vorbehalten.

Es gilt das gesprochene Wort

Mit dem heutigen Tag endet die Arbeit einer Behörde, für die es bei ihrer Errichtung kein Vorbild gab. Allerdings gab es verschiedene Vorstellungen aus allen Richtungen der Gesellschaft, die kaum miteinander zu vereinbaren waren.

Existierte z.B. bei einigen Bürgerrechtlern die Vorstellung, jeder könne seine Akte mit nach Hause nehmen, so kam aus der Politik und der Gesellschaft andererseits die Vorstellung auf, die Akte gänzlich unter Verschluss zu halten bzw. sie sogar zu vernichten.

Für die Akteure der Demokratiebewegung von 1989 war es keine Frage, ob das Archivgut des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) erhalten werden sollte. Aber das „wie“ einer Verwahrung und Nutzung musste erst in schwierigen Debatten errungen werden.

Gab es einerseits das Interesse der Demokratiebewegung (Runder Tisch) und später des Parlaments, die Akten zu öffnen „für die politische, individuelle und historische, aber auch für die juristische Aufarbeitung der Diktatur“, so betonte das einstige DDR-Establishment – aber auch die Bonner Regierung - , dass dieser Weg zu gefahrvoll und deshalb abzulehnen sei.

Es ist hier nicht der Ort, alte Kontroversen nachzuerzählen, aber es darf doch daran erinnert werden, dass sowohl die Behörde als auch das Stasi-Unterlagen-Gesetz errungen werden mussten. Dass dies gelang, ist Anlass zu einer zurückhaltenden Genugtuung, vor allem aber Anlass zum Dank. So steht mein heutiges Grußwort unter der Überschrift

DANK

Unter diesem Thema denke ich zuerst dankbar an jene, die das Aufbegehren von 1989 zu einer friedlichen Revolution machten. Obwohl nach dem Mauerfall viele meinten, das sei das Ende der Revolution, kam es Anfang Dezember `89 und im Januar in Berlin zu Besetzungen der Stasi-Dienststellen und damit zur Beendigung der Aktenvernichtung durch das MfS und zur Errichtung von Bürgerkomitees, die in den Stasi-Gebäuden einzogen. Am Runden Tisch wurde beschlossen, das MfS aufzulösen und ein dafür verantwortliches Amt zu gründen.

Der nächste Dank gilt der Volkskammer von 1990, die mit großer Mehrheit ein Gesetz zur Sicherung und Nutzung der Akten beschloss. Damit war zum ersten Mal ein Gesetz in Kraft getreten, das die Interessen der Unterdrückten stärker gewichtete als die Persönlichkeitsrechte der Täter und Verantwortlichen für die diktatorische Herrschaft.

Geleitet von dem Willen, das Herrschaftswissen der illegitimen Macht in Hände und Köpfe der Unterdrückten zu bringen, wurde der im Archivrecht verankerte Grundsatz zurückgestellt, personenbezogene Daten mit einer 30-jährigen Sperrfrist zu versehen. So wurde es möglich, den Wissensvorsprung bzw. das Monopol derer zu brechen, die bislang Herren dieser Akten waren.

Möglich war nun:

  • Wissen über Verfolgung und Herrschaftstechnik zu erlangen
  • Die Einzelnen über ihre Biographie in Kenntnis zu bringen
  • Ehemalige Stasi-Mitarbeiter aus dem Öffentlichen Dienst zu entfernen
  • Strafverfolung wie auch Rehabilitierungen aktengestützt voranzutreiben
  • Den wissenschaftlichen und medialen Diskurs zu unterstützen.
  • Auch die alte Bundesregierung ist in den Dank einzubeziehen, speziell der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble. Zwar hatte die Bonner Regierung durchaus eigene Vorstellungen - durchaus auch beeinflusst von der DDR-Regierung - Innenminister Diestel was das Gegenüber von Schäuble. Aber der Wille des DDR-Parlaments – unterstützt von Aktionen engagierter Bürger – war ein starkes demokratisches Argument, das den Politiker Schäuble schnell zu einem kooperativen Verhandlungspartner machte.

Ein günstiger Kompromiss wurde noch in den Einigungsvertrag hineinverhandelt, und so kam es dann zwar zum Ende des DDR-Gesetzes, aber andererseits zur Absage an das Konzept Bundesarchiv als Hort der Stasi-Akten. Diese blieben disloziert im Osten unter der Regie einer unabhängigen Behörde, deren Leitung vom Bundestag zu wählen war.

Ein neues Stasi-Unterlagen-Gesetz wurde vertraglich versprochen auf der Grundlage des Öffnungskonzepts des DDR-Gesetzes. Es wurde bald deutlich, dass der Bundeshaushalt dafür zusätzliche Millionenbeträge würde aufbringen müssen. Widerworte dagegen gab es seitens der Regierung trotzdem nicht. Wir sind bei dem Thema Dank und dieser richten sich an Herrn Schäuble.

Dann wird aus der kleinen Organisationseinheit „Sonderbeauftragter…“ die große Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen – personell wegen der Aufgabenfülle größer als manches Bundesministerium.

Zu danken ist den Pionieren der Aufarbeitung und Archivierung und allen, die später – auch aus dem Westen – hinzukamen. Alle miteinander, Archivfachkräfte und Historiker für die Abteilung Bildung/Forschung, die Techniker, Kraftfahrer, Bürofachkräfte und Referentinnen für die akteneinsicht und natürlich die Bundesbeauftragten und ihre juristisch beschlagenen Direktoren - hier besonders Prof. Geiger -  seien hier mit großer Anerkennung bedacht.

Ich habe es schon als Bundespräsident zum Ausdruck gebracht und will mich heute noch einmal ganz ausdrücklich bedanken – als Bürger, ehemaliger Bundespräsident und ehemaliger Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes.

Uns ist etwas Wegweisendes gelungen, in vielen Teilen der Welt gilt es als Vorbild, in anderen träumt man noch von der Freiheit und den Möglichkeiten, nach einer Diktatur die Feinstruktur von Unterdrückung offenzulegen.

An diesem Tage schweige ich von Mängeln oder gelegentlichen Fehlern, die es natürlich auch gegeben hat, schaue meine Nachfolgerin Marianne Birthler dankbar an, sage Roland Jahn ebenso Dank für alles, was ihm gelungen ist. Und gemeinsam sagen wir drei allen, die bei der Behörde tätig waren und sind, von Herzen Dank.

In diesem Zusammenhang sei auch die verdienstvolle Arbeit der Landesbeauftragten gewürdigt. Ihre Arbeit in der Nähe und zugunsten der einst Verfolgten war und ist eine wichtige Unterstützung für die Mitarbeiterinnen der Bundesbehörde.

Schließlich ist auch all jenen zu danken, die im Beirat der Behörde oder anderen politischen Institutionen der politischen Bildung die Arbeit der Behörde unterstützen oder kritisch begleitet haben.

Und wenn wir beim Thema Dank sind, sollen die Abgeordneten des Deutschen Bundestags nicht vergessen werden, die 1991 mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz die gesetzliche Grundlage für die Behördenarbeit schufen. In jeder Legislaturperiode gab es Abgeordnete, die in je eigener Weise dem Thema verbunden waren.  Und in dieser Legislaturperiode war der endlich herangereifte Beschluss zu gestalten, die eigenständige Behörde aufzugeben und Akten und Aufgaben an das Bundesarchiv zu überweisen.

Ich weiß um einige Kontroversen, kann auch die Gefühle derer verstehen, die sich ein Weiterbestehen der eigenständigen Behörde gewünscht hätten. Aber ein organisatorischer Wandel, der nicht mit der Beschneidung von Nutzerrechten einhergeht, kann doch eigentlich von jedem gutwilligen Demokraten mitgetragen werden.

Dass der Deutsche Bundestag das Thema Aufarbeitung der SED-Diktatur in früheren Legislaturperioden mit Gesetzen und mit der Errichtung der Enquetekommission zur Aufarbeitung der Diktatur befördert hat und dass er jetzt die Institution einer Opferbeauftragten geschaffen hat, will ich am heutigen Tage nicht unerwähnt lassen und mit Dankbarkeit würdigen. (Ihnen, Frau Zupke, wünsche ich von Herzen Erfolg bei Ihrer wichtigen Aufgabe).

Sehr geehrte Damen und Herren,

meine Dankesrede bezog ihre einzelnen Teile aus dem Erinnern dessen, was war. Lassen Sie mich zum Abschluss darauf verweisen, dass unsere Fähigkeit, sich zu erinnern, immer dann besonders wertvoll wird, wenn es nicht nur um individuelle Wiederbegegnung mit dem Vergangenen geht. Im politischen Raum erinnern wir uns, weil wir in unserer Gegenwart und Zukunft Nutzen daraus gewinnen, wenn die Entfremdungen, Niederlagen, das Aushalten, das Widerstehen, die Ohnmacht wie die Erfolge oder Siege der Vergangenheit neu angeschaut werden.

Wir werden urteilsfähiger, wenn wir die Fakten kennen, die aus einer Bürgergesellschaft eine Diktatur machte.

Wir werden mutiger, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie „ganz normale Menschen“ sich ihrer Ängste entledigen und Schritt für Schritt lernen, ein Citoyen zu sein.

So stellen wir nachfolgenden Generationen vor Augen, wie verhängnisvoll langjährige politische Ohnmacht sein kann, und hoffen und erwarten von den Jüngeren, dass sich ihnen die Ermächtigung der Ohnmächtigen einprägt.

Natürlich: Die alten Gefahren und Widersprüche haben sich erledigt. Aber werden denn die neuen Widersprüche, wird die Unkultur von Fake-News, die Relativierung der universalen Menschenrechte, wird die Gefahr populistischer Verführer denn verschwinden? Sind wir nicht Zeugen davon, dass und wie neue Ängste entstehen?

Also nehmen wir den heutigen Tag zum Anlass, uns über den Fortgang unserer der Aufklärung verpflichteten Arbeit zu freuen, dem Bundesarchiv und der Opferbeauftragten gutes Gelingen zu wünschen und immer, wenn es notwendig wird, dafür Zeugnis abzulegen, dass aus einem dunklen Juni 1953 ein heller Oktober 1989 werden kann.