Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises

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©Zentrum gegen Vertreibungen

Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises

07. Juli 2021, Frankfurt a.M.

Dankesworte zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises des Zentrums gegen Vertreibungen in der Paulskirche am 4. Juli 2021, Frankfurt am Main

 

Änderungen vorbehalten

Es gilt das gesprochene Wort.

Bevor ich anfange, eine kleine Erinnerung. Ich war 14, lebte in der DDR, in einer kommunistischen Diktatur und las das Buch von Franz Werfel, das heute schon erwähnte wurde: „Die 40 Tage des Musa Daq“. Man konnte es in der DDR kaufen. Bevor ich also politisch wurde und Fakten sammeln konnte, die mir erlaubten, die Diktatur zu erkennen und später zu delegitimieren, ist mein Herz getroffen worden. Und manchmal ist es so, dass wir nicht mit Fakten und Daten alleine, die sich im Intellekt verorten und ablagern, sondern aus einer Geneigtheit des Herzens in Haltungen kommen, die unser Dasein herausfordern. Da musst Du dir etwas merken, denn da wirst du später etwas zu tun haben. Oder dort musst du lang gehen. Und deshalb braucht unser Intellekt oftmals die Unterstützung derer, die uns in besonderer Weise als Künstlerin oder Künstler bewegen können, das zu tun, was wir als Humanisten denken. An dieses Miteinander wollte ich zu Beginn erinnern. Aber das steht nicht in meinem Manuskript. Das kam soeben über mich.

Sehr geehrter Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Minister des Innern,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr verehrter Herr Dr. Wagner,
sehr geehrter Herr Dr. Bernd Fabritius,
verehrte Mitglieder der Jury,
meine Damen und Herren,

zu Beginn möchte ich Danke sagen. Ein sehr herzlicher Dank an Sie, lieber Dr. Christean Wagner und an das Zentrum gegen Vertreibungen, an die Jury, die mir diesen Preis zugesprochen hat. Ich danke auch Ihnen, Herr Ministerpräsident,- und, Ihnen Herr Oberbürgermeister, ich freue mich, den Preis hier in Frankfurt am Main, an dem Ort entgegenzunehmen, an dem die Deutschen im 19. Jahrhundert so intensiv um ihre Nation gerungen haben, um die Demokratie und damit um den Rechtsstaat.
Und wie schön ist es doch, dass wir nach so einer langen Zeit, in der keine oder kaum Begegnungen stattfinden konnten, heute hier zusammenkommen können. Ich freue mich sehr darüber!

Ich fühle mich geehrt, dass Sie, lieber Bernd Fabritius, so freundliche und ergreifende Worte zur Übergabe dieses Preises gefunden haben.

Sehr verehrte Damen und Herren,

vor wenigen Tagen stand ich in der lichtdurchfluteten Eingangshalle des ehemaligen Deutschlandhauses in der Mitte Berlins: Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung wurde eröffnet. Nach über zwanzig, teilweise turbulenten Jahren hat die Idee Gestalt angenommen, die im Jahr 2000 mit dem Zentrum gegen Vertreibungen vom Bund der Vertriebenen auf den Weg gebracht wurde. Nun hat Deutschland - getragen von einem Beschluss des Bundestages - einen würdigen Ort, an dem des Leids der eigenen Landsleute gedacht wird, aber auch Solidarität geübt wird mit allen anderen Opfern von Vertreibung und Genozid. Ich habe die Initiative zu einem derartigen Zentrum von Anfang an unterstützt und gestehe: Mich erfüllte in jener Stunde ein Gefühl der Dankbarkeit. 

Dass aus dem selbsterfahrenen Leid von Flucht und Vertreibung der Deutschen in den letzten Jahrzehnten eine besondere Empathie für andere Menschen mit Flucht- und Vertreibungserfahrungen erwachsen konnte, halte ich für keine Selbstverständlichkeit. Umso mehr schätze ich es, dass es gelungen ist, nicht im eigenen Leid zu verharren und empfänglich zu werden für das Schicksal anderer. Es freut mich, dass es mit der Dauerausstellung im Berliner Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung und Versöhnung gelungen ist, das Erinnern mit Erkenntnis, und die Erkenntnis mit Empathie zu verbinden. Denn Entwurzelte, Flüchtlinge, Vertriebene, zwangsweise Emigrierte, Heimatlose einst und Heimatlose heute und morgen – sie alle machen tief in ihrer Seele dieselbe schmerzliche Erfahrung, die der Schriftsteller Jean Améry, Flüchtling vor Nazi-Deutschland und Überlebender von Bergen-Belsen, in die einfache, bedrückende Formel fasste: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“.

Dass wir heute dort stehen, wo wir stehen, hat viel Engagement, Entschiedenheit und Standfestigkeit erfordert. Ich erinnere mich noch an den heftigen Gegenwind, den das Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen zunächst erfuhr. Was ist nicht alles angeführt worden:

  • Dass Deutsche nicht an die Vertreibung ihrer Landsleute erinnern dürfen, weil Angehörige eines Täter-Volks keine Opfer sein können.
  • Dass die Erinnerung an deutsches Leid die deutsche Schuld und das Leid der Opfer von Deutschen schmälert
  • Dass keine Initiative gegen Vertreibungen unterstützt werden darf, wenn sie von den Falschen betrieben wird.

Es ist wohl keine Übertreibung, wenn ich heute sage: Wohl fast alle haben gelernt. Viele Betroffene, die imstande waren, über den eigenen Schatten zu springen und ihr Leid in den historischen Kontext einzuordnen. Viele Liberale und Linksliberale, die erkannten, dass, wer das Leid von Deutschen anerkennt, die deutsche Schuld keineswegs leugnen muss, sondern einfach zur Kenntnis nimmt, dass Deutsche die Opfer deutscher Opfer wurden.

In einer neuen Dimension ist das Thema so im kollektiven Gedächtnis der Nation angekommen. Zahlreiche neue wissenschaftlichen Arbeiten sind erschienen, ebenso unzählige Biographien und Romane. Kränkungen wurden behoben, blinde Flecken in den Familienbiografien gefüllt, Wissen erweitert. Sich der Vergangenheit und dem Schmerz noch einmal zu stellen, hat weder zu Revanchismus noch zu Ressentiment geführt. Im Gegenteil. Wunden konnten verheilen, Verständigung mit den deutschen Nachbarn wurde möglich. Und scheinbar Unverträgliches in der deutschen Geschichte ließ sich miteinander verbinden. Ich bin noch heute dafür dankbar, dass gerade aus den Kreisen der Vertriebenen heraus, die ersten individuellen Brücken, oft getragen von Kirchen und Kirchgemeinden in Richtung Osten geschlagen wurden, als die Politik noch lange nicht so weit war. Und sich daran dankbar zu erinnern, gehört auch zu einem Tag der Erinnerung.

Jetzt möchte ich noch auf etwas verweisen. Ich habe über den Ort gesprochen, das ehemalige Deutschlandhaus. Wir sehen es in der Erinnerungslandschaft, wie sie in der deutschen Hauptstadt entstanden ist: Im Umkreis von nur einem Kilometer befinden sich das Holocaust-Denkmal, das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung und das noch im Entstehen begriffene Exilmuseum.

Im Rückblick erkennen wir, wie notwendig und heilsam die Diskussionsprozesse waren. Es diente der Stabilisierung der Gesellschaft HEUTE, als die Leiden von gestern Anerkennung erfuhren.

Die Anerkennung und Dokumentation von Flucht und Vertreibung in Deutschland wäre aber unvollständig, wenn sie sich auf die Geschichte der alteingesessenen Deutschen beschränkte. Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden. Neben uns wohnen und arbeiten Menschen, deren Fluchtgeschichten ihren Ausgangspunkt nicht im Sudetenland oder in Schlesien haben, sondern in Syrien, in der Türkei, im Irak, in Eritrea oder neuerdings auch aus Venezuela. Integration darf nun keine Einbahnstraße sein, in einer pluralen Gesellschaft müssen die verschiedenen Fluchterfahrungen ihren Platz finden. Wir sind einander Interesse schuldig, weil wir Teile derselben Gesellschaft sind. Und was wäre geeigneter, Zugang zum anderen zu finden durch Schicksale, die über ethnische, religiöse und andere Unterschiede hinweg verbinden? Und deshalb kann ich die Söhne und Töchter der Erlebnisgeneration nur ermuntern, das Versöhnungswerk, das ihre Eltern einst begonnen haben, heute in einer anderen eben erwähnten Dimension fortzusetzen. Es war Ilja Trojanow, der nach seiner Flucht aus dem kommunistischen Bulgarien feststellte: „Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch.“ Es gibt eben Erfahrungen, die ich, der seine Heimat nicht verloren hat, nur sehr schwer nachvollziehen kann, während andere in meiner Nähe und Ferne, die diese Erfahrungen der Entwurzelung gemacht haben, anderen Entwurzelten emotional einfach näherstehen. Und dieses will sichtbar gemacht werden. Und hier können wir inzwischen aus einem Fundus der Solidarischen einst Entwurzelten schöpfen. Hier ist noch manches zu tun und viele von Ihnen haben ein Maß an Empathie für andere entwickelt inzwischen als sie den eigenen Schmerz überwunden hatten, dass sie für andere, eine neue Generation, auch Vorbild sein können. Vergessen Sie nicht, dies weiterzureichen. Ihre Erfahrungen sind wertvoll. Das ist etwas, was sie trotz weißer oder grauer Haare noch zu sehr lebendigen und wirkmächtigen Mitgliedern, Bürgerinnen und Bürgern unserer Gesellschaft machen kann.

Sehr geehrte Damen und Herren,

noch nie war die Zahl der Menschen, die dort, wo sie beheimatet sind, nicht mehr leben können, so hoch wie heute. Mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung befand sich 2020 auf der Flucht – über 82 Millionen Menschen. So viele wie in Deutschland Menschen leben. Auch vor unserer „Haustür“, in Europa, sehen wir die schrecklichen Folgen von Krieg, Konflikten und Verfolgung: Schon seit Jahren fliehen Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Und oftmals finden sie den Tod. Gerade gestern haben wir wieder erschreckende Meldungen darüber zur Kenntnis nehmen müssen.

Warum sind diese Menschen auf der Flucht? Viele fliehen vor dem Krieg. Viele fliehen aber auch, weil sie aus ethnischen, religiösen oder geschlechtsspezifischen Gründen diskriminiert, ausgegrenzt und verfolgt werden. Weil ihre Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Flucht und Vertreibungen weltweit zu bekämpfen, heißt daher immer auch, die Fluchtursachen zu bekämpfen – Konflikte zu vermeiden und für die Achtung der Menschenrechte einzutreten.   

Zugleich ist es nunmehr fast 73 Jahre her, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bei den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, dass die Vertreter aller Kontinente sich auf diese Erklärung einigten und erstmals Rechte für alle Menschen proklamierten. Weltweit. Unterschiedslos und unabhängig von nationaler oder sozialer Herkunft, Ethnie, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.

Wenn wir auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken und eine Bestandsaufnahme über die Entwicklung und Verbreitung der Menschenrechte wagen, dann muss die Bilanz ernüchternd ausfallen. Die Realität beweist es uns. In zahlreichen Staaten auf nahezu allen Kontinenten wurden und werden die Menschenrechte ignoriert, relativiert und den Interessen der Machthabenden untergeordnet. Aus allen Ecken der Welt gibt es Geschichten zu erzählen, wie Menschen aus dem Land getrieben werden, weil sie von Islamisten oder korrupten oder autoritären Herrschern bedroht sind, der „falschen“ Ethnie, Religion oder Partei angehören, wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert  werden oder weil sie nicht auf ihre Meinungsfreiheit verzichten wollen.

Gemeinsam müssen wir uns fragen: Warum haben einzelne Staaten, warum hat die internationale Gemeinschaft in den letzten 70 Jahren trotz aller Absichtserklärungen Gewaltorgien, Genozide, schwere Menschenrechtsverletzungen häufig nicht verhindern können? Warum können viele Länder ihre Grenzen vor Flüchtlingen gänzlich schließen? Warum eilt die internationale Gemeinschaft Geflüchteten nicht mehr zu Hilfe?

Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein. Ignoranz kann es sein, Kaltblütigkeit, auch realpolitische Überforderung – all das offenbart sich in vielen Konfliktfeldern rund um den Erdball, zuweilen auch an den Verhandlungstischen. Wir kennen auch die Geringschätzung und Marginalisierung von Menschenrechten, wenn es darum geht, etwa wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.

Wer heute unter Verweis auf kulturelle Unterschiede die Menschenrechte relativieren möchte oder diese gar als "westlichen Imperialismus" diskreditiert, der irrt und leugnet, dass die Erklärung ein Kompromiss von 52 Staaten unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägung war. Unter den 48 Staaten, die der Erklärung zustimmten, waren fast alle Erdteile oder "Regionalgruppen", wie die Vereinten Nationen heute sagen würden, vertreten: Ägypten, China, Kuba, Äthiopien, Frankreich, Iran, Pakistan, Syrien, Türkei, die USA und Venezuela, um nur einige zu nennen.

Wer den Universalismus der Menschenrechte verneint, der leugnet auch, dass die Wurzeln der Menschenrechte in den unterschiedlichsten Kulturen unserer Erde liegen. Und er ist blind dafür, dass die Unterdrückten in jedem Land der Erde die Sprache der Menschenrechte sehr gut verstehen. Überall dort sind die Menschenrechte Unzähligen Hoffnung und Sehnsucht.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wie eng Flucht und Nichtachtung der Menschenrechte miteinander verzahnt sind, erleben wir gerade wieder in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Die oppositionelle belarussische Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichonowskaja konnte noch ins litauische Exil ausweichen. Ihre Mitstreiterin Maria Kalesnikowa hingegen wurde verhaftet, weil sie in Belarus bleiben wollte, und sich weigerte ins Ausland zu gehen. Seitdem sitzt sie wie mehrere hundert andere Oppositionelle im Gefängnis.

Als Präsident habe ich gesagt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Ja, irgendwann stößt die Solidarität mit Flüchtlingen und denen, die statt der Flucht das Gefängnis wählen, an ihre Grenzen. Nicht selten frage ich mich jedoch, ob wir nicht doch mehr tun könnten, als wir tatsächlich tun. Tun wir tatsächlich genug für Flüchtlinge in unserer nächsten Nachbarschaft? Nehmen wir die 2,6 Millionen Flüchtlinge in und aus der Ostukraine wahr? Oder die mehreren Zehntausend belarussischen Flüchtlinge, die meist in Litauen und Polen Zuflucht gefunden haben? Als Ostdeutscher weiß ich, wie wichtig die Solidarität aus der freien, demokratischen Welt ist – als Druck gegenüber den Herrschenden und als aufbauende Kraft für die Unterdrückten und Vertriebenen.

Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mit Ihrer Stiftung und diesem Preis dazu beitragen, dass wir uns nicht blind und taub stellen, sondern dass wir uns dafür sensibilisieren, immer wieder um das höchste Gut, das wir haben, zu ringen: die Würde des Menschen. Denn wir alle "sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen". So steht es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Und so möchte ich schließen: Haben Sie noch einmal von Herzen Dank dafür, dass am heutigen Tag ich diesen Preis empfangen darf, den ich mit Freude entgegennehme.

Die Verleihung kann hier angeschaut werden:

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