Festrede beim Konzert zum Jahrestag der Friedlichen Revolution am 9. Oktober
09. Oktober 2022, Leipzig
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Es gilt das gesprochene Wort.
33 Jahre ist es nun her, dass hier in Leipzig das Ende der SED-Diktatur eingeläutet wurde. Es war – wir alle wissen es noch – ein weiterer Montagabend an dem sich viele Bürgerinnen und Bürger zum Friedensgebet in der Nikolaikirche trafen. Doch an diesem Montagabend strömten erstmals Zehntausende anschließend zusammen, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Sie wussten zwar, dass die Staatsmacht die Proteste in den Tagen zuvor brutal niedergeschlagen hatte. Sie waren sich auch nicht ganz sicher, ob es eine gewaltsame, eine "chinesische Lösung" geben würde. Ja, sie waren vertraut mit der Arroganz der Macht, ein Schießbefehl wäre keineswegs unvorstellbar gewesen. Und sie sahen die gewaltige Drohkulisse, die das Regime auch an diesem Tag auffahren und aufmarschieren ließ. Aber sie kamen trotzdem: Zehntausende überwanden ihre Angst vor den Unterdrückern, weil ihre Sehnsucht nach Freiheit größer war als ihre Furcht.
An diesem Montag wurde keiner mehr gedemütigt, keiner geprügelt und verhaftet, wie es noch zwei Tage zuvor in Berlin der Fall gewesen war. Niemand stellte sich dem Aufstand der Bürger mehr in den Weg. Die überwältigten Unterdrücker streckten ihre Waffen vor den überwältigenden Massen. Und die Bilder vom friedlichen Zug über den Leipziger Innenstadtring, sie wurden zum Fanal, das jeden Tag mehr Menschen an immer mehr Orten in der DDR ermutigte, ihren Protest in die Öffentlichkeit zu tragen.
Dieser Montag in Leipzig zeigt uns: Aus dem Aufbruch der wenigen Mutigen war eine Bewegung der Massen geworden, die unaufhaltsam zu einer Friedlichen Revolution heranwuchs. Die Bewegung in Leipzig hatte ein klares Ziel vor Augen: "Demokratie, jetzt oder nie!". Menschen, die ihr Leben lang unter Diktatoren gelebt hatten, die ihnen Individualität und Selbstbestimmung verwehrten, Menschen, deren Grundrechte beschnitten und deren Denken und Handeln überwacht worden war, Menschen auch, die sich oft ohne große Überzeugung angepasst, ohnmächtig gefühlt oder in Nischen eingerichtet hatten – fast alle überwanden innerhalb weniger Wochen, ja Tage, ihre Angst, ihre Bedenken, ihre Zurückhaltung. Ob in Dresden, Halle, Berlin und auch im Osten und Norden des Landes – aus dem Aufbruch sollte der radikale Umbruch werden.
Wir gewannen Selbstachtung und Würde zurück. Es war der Übergang vom Untertan zum Citoyen. Und selbst heute – schon lange in Freiheit lebend – können wir uns genau an diese Momente erinnern, als mit uns die Freiheit so jung und unvertraut auf unsere Straßen und Plätze trat. Befreiung, so empfinde ich es heute, ist noch beglückender als Freiheit. Ich sehe es vor mir wie heute, es war magisch, und es war ganz irdisch zugleich – unendlich viele Träume hatten sich erfüllt. Und für unendlich viele von uns, da war es einfach nur – Glück.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Freiheit selbst erzeugt aber – und dies spüren wir seit einigen Jahren immer deutlicher – bei einem Teil der Bevölkerung so wirkmächtige Ängste, dass Sie vor der Freiheit selbst zurückschrecken und die freiheitliche Demokratie aus dem Inneren schwächen, zum Teil sogar bekämpfen. Hinzu kommt eine neue Bedrohung der Freiheit von alten Mächten, deren existentielles Ausmaß sich mit dem russischen Angriffskrieg auf die ganze Ukraine nicht mehr leugnen lässt. Und natürlich löst das nicht nur Unsicherheit aus, sondern massive Ängste.
Heute Abend im Verlaufe des Konzertes werden wir neu mit Schillers und Beethovens Blick auf eine Möglichkeit menschlichen Lebens konfrontiert, wenn der Chor singt: Alle Menschen werden Brüder. Wie oft in der Geschichte ist diese Brüderlichkeit wohl beschworen worden. Wenn der Chor singt: Und doch müssen wir erkennen: Auch im 21. Jahrhundert existieren Menschen und Mächte, die aus dem Angebot von Partnerschaft Gegnerschaft und schließlich sogar Feindschaft machen. Statt auf die Herrschaft des Rechts setzen sie auf das Recht des Stärkeren, auf Einschüchterung und die Spaltung unseres demokratischen Gemeinwesens. Vielen Europäern ist erst jetzt bewusst geworden, wie viel wir zu verlieren haben. Deshalb unterstützen wir zusammen mit anderen die Ukraine.
Wir lassen uns nicht einschüchtern, auch nicht durch die Drohungen Putins mit Atomwaffen. Vor allem aber: Wir lernen heute neu, dass wir uns verbünden müssen, wenn uns Freiheit und Demokratie am Herzen liegen. Denn: Freiheit ist nicht umsonst zu haben.
Wir sehen in diesen Tagen auch, welche Kräfte aus dem Wunsch nach Freiheit erwachsen können. Denn die Menschen in der Ukraine kämpfen für das, was ihnen wirklich am Herzen liegt – für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Aus diesem Grund gehen auch im Iran unzählige Frauen und Männer auf die Straßen, um für ihre Freiheit und gegen das Mullah-Regime zu protestieren. Diese tapferen Menschen sollten uns Mut machen. Wir sehen in ihnen Möglichkeiten, über die auch wir verfügen, wenn auch wir verteidigen, was uns lieb und teuer ist.
In dieser existentiellen Frage gibt es keine Alternative: Unsere Demokratie muss eine wehrhafte Demokratie sein. Dazu gehört neben gut ausgerüsteten und schlagkräftigen Streitkräften auch die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu erkennen, dass wir in Europa nicht nur von Freunden umgeben sind. Putins Russland zwingt uns seine Feindschaft auf, weil es in unserer freiheitlichen, liberalen Demokratie eine Bedrohung für sich selbst imaginiert. Dies zu erkennen, bedeutet, dass es keinen Zweifel an unserer Solidarität, an unserem militärischen Beistand der Ukraine geben darf. Selten war bei einem Krieg so klar, wer Täter und wer unschuldiges Opfer ist: Hier in einer Äquidistanz zu verharren zwischen beiden Kriegsparteien wäre nicht nur unmoralisch sondern eine Leugnung unserer Werte und auch unserer Interessen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Freiheit ist aber auch weit weniger offensichtlich aus dem Inneren unserer Gesellschaft bedroht. Sie entsteht aus einem Gefühl, dass die Freiheit des Menschen in ihm selbst einschränkt: Es ist die Angst.
Wenn ich über die Angst in Freiheit spreche, mag das zunächst nach einem Paradox klingen. Würden wir nicht denken, der Mensch habe Angst in Unfreiheit? Wenn er Repression ausgesetzt ist? Wenn er mit Willkür rechnen muss? Wenn er folgen muss, auch gegen seinen Willen, statt seine Schritte selber zu wählen? Wird der Mensch nicht erleichtert aufatmen, wenn ihm die Freiheit begegne?
Das ist ganz gewiss so. Und ebenso sicher ist es, dass es manifeste Sehnsucht nach Freiheit gibt, die die Unterdrückten aller Zeiten und aller Zonen kennen. Ich weiß, wovon ich rede.
Aber so paradox es klingt: Angst existiert auch in Freiheit. Unsere Psyche entdeckt in der Freiheit Unheimliches, Überforderndes, Verlassenheit, auch eine Abgetrenntheit von Gott. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass gerade in der politischen Moderne, gerade also, wenn nach vielen Generationen Freiheit eine ganz konkrete Lebensmöglichkeit geworden ist, dass gerade in dieser Phase Freiheit den Neu-Befreiten wie eine Zumutung erscheint. Aus psychologischer Sicht hat Erich Fromm darüber gesprochen als Furcht vor der Freiheit und Flucht aus der Freiheit.
Und diese Furcht vor der Freiheit hat in den vergangenen Jahren viel Nahrung bekommen. Schon vor dem Krieg Putins und vor der Pandemie, waren wir konfrontiert mit einer ganzen Reihe von revolutionierenden Veränderungen: die Digitale Revolution, der Klimawandel und der zunehmenden Migration.
Ja, Menschen entwickeln Angst, weil sie den Verlust des Alten und Vertrauten fürchten, die Erosion sozialer Strukturen, die Einbuße an Sicherheit, die Verunsicherung von Identität oder auch des tradierten Glaubens. Die Grenze des für die meisten Menschen Zumutbaren dürfte dabei jeweils dann überschritten sein, wenn die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen an seinem Selbstbild und seinem Selbstbewusstsein rütteln, letztlich an seiner Identität.
Und die Furcht in der Freiheit wird nun von denen instrumentalisieren, die die Freiheit der Menschen nicht schätzen. Es existiert bereits seit vielen Jahren in nahezu allen demokratischen Gesellschaft ein Populismus, dessen Erfolgsrezept überall nahezu gleich ist: Sie nutzen und schüren Ängste und versprechen dann beängstigende Komplexität zu reduzieren, einfache Lösungen herbeizuführen und einen Zustand wiederherzustellen, in dem früher eben alles besser war. Solche Angststrategien verführen uns zu einer Bequemlichkeit, die uns die Problematik des realen Lebens nicht erlaubt. Die Angststrategen bieten uns Befreiung vom ständigen Druck nach Wandel, von der ständigen Notwendigkeit, uns auseinanderzusetzen mit komplexen, eben beängstigenden Fragen. Sie suggerieren, es gebe eine Rückkehr zu einem ursprünglichen Zustand, etwa zu einer überschaubaren, homogenen Nation und zu weniger komplizierten Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens. Sie versprechen Schluss zu machen einerseits mit schwer durchschaubarem Streit und andererseits mit dem lästigen Suchen nach Kompromissen und unbefriedigenden Zwischenlösungen.
Nun stehen uns aber auch Kräfte zur Verfügung, Verführern und Angststrategen zu widerstehen, auch Wissen und Erfahrungen, die uns helfen können, Ängste zu bearbeiten, sie immer wieder neu zu besiegen. Wir werden Mut brauchen, wie die Frauen und Männer hier in Leipzig vor 33 Jahren, werden uns neu ermächtigen, unser Leben selbstbestimmt zu führen, notwendige Auseinandersetzungen nicht scheuen.
Meine Damen und Herren,
gegenwärtig haben wir besonders in Sachsen das Gefühl, dass unsere Gesellschaft gespalten ist. Aktuelle Forschungen widerlegen das: Jutta Allmendinger und Jan Wetzel vom Wissenschaftszentrum Berlin nennen dieses ein Trugbild: Deutschland sehe sich selbst »als Land der Ichlinge«, dabei sei es in Wahrheit »ein Land des Wir«. Mit Blick auf die nächsten Monate lässt sich also festhalten: Es gibt ein großes Potenzial zur Solidarität, das wir zur Entfaltung bringen können.
Und dieses Potential der Solidarischen ist größer als das Potential der Protestierenden, die entweder zu wenig darauf achten, wer links und rechts von ihnen läuft oder selbst Feinde der von uns errungen Freiheit und Demokratie sind. Friedlicher Protest, ja der gehört zu unserer Demokratie. Hass, Hetze, Verächtlichmachung der demokratischen Institutionen und die Anbiederung an menschenverachtende Diktatoren gehören nicht dazu!
Sehr geehrte Damen und Herren,
gerade in Zeiten, in denen viele alte Gewissheiten verloren gehen, sollten wir uns also an unsere Erfahrungen von 1989 erinnern: Wer nur abseits steht und sich heraushält, wird zum beherrschten Objekt. Wer mit Selbstermächtigung hingegen seine Angst vertreibt, gewinnt Handlungsmöglichkeiten, und er gewinnt Zukunft. Nun gilt es die Freiheit, die wir 1989 errungen haben, genauso mutig zu verteidigen gegen die Feinde der Freiheit im Inneren und im Äusseren. Wir können das, wenn wir an uns und unsere Werte glauben. Wir können das, wenn wir uns selbst in der Tradition von Leipzig treu bleiben.
Und nun wollen Kraft schöpfen und uns ermutigen lassen durch die besondere Macht der Musik. Öffnen wir uns nun der Kunst, die es auf ganz andere Weise als es das argumentative Wort vermag, Menschen zu sich selber zu bringen, sie zu stärken und miteinander zu verbinden zu immerwährender Suche nach einem besseren Miteinander.
Allen Mitwirkenden unter der Leitung von Professor Michael Köhler danke ich ganz herzlich dafür, dass Sie uns heute Abend mit Ihrer Kunst beglücken.