75. Jahrestag der Schließung der Lager Fünfeichen
23. September 2023, Neubrandenburg
Es gilt das gesprochene Wort.
Wir sind hier an einem Ort, an dem sich die Grausamkeit von zwei totalitären Systemen offenbart. Der Schrecken, der sich hier über neun Jahre zutrug, lässt sich heute in dieser grünen Stille kaum ermessen. Hier stehen wir auf einem Gräberfeld. Hier, wo Schicksale, Namen und Lebensgeschichten verschüttet liegen, kommen wir zusammen, um an das unermessliche Leid zu erinnern: Das Leid von Kriegsgefangenen der deutschen Wehrmacht. Und an das Leid der Menschen, die hier nach 1945 von den Sowjets, vom NKWD, inhaftiert und getötet wurden. Heute vor 75 Jahren wurde die Lager Fünfeichens geschlossen.
Die ersten Kriegsgefangenen kamen bereits kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 hierher, in das sogenannte Stammlager „Stalag II A“, – ganze Kolonnen polnischer Kriegsgefangener zogen im September 1939 vom Bahnhof nach Fünfeichen. In den weiteren Kriegsjahren kamen gefangene Soldaten aus zehn weiteren europäischen Ländern und den USA hinzu. Für die Offiziere entstand in der Nähe ein eigenes Lager, das Oflag II E (ab Februar 1944 als Oflag 67 bezeichnet).
Die Gefangenen der Westalliierten wurden noch halbwegs entsprechend der Genfer Konvention behandelt. Die besondere Grausamkeit bekamen vor allem die Kriegsgefangenen aus dem Osten zu spüren. Sie litten besonders unter Hunger, mangelnder Hygiene und der Willkür der Wächter. „Es war schwer, diesen ersten Winter zu überstehen. Einige hielten diese katastrophalen Bedingungen nicht aus und starben in jenem Winter an Erschöpfung“, so erinnert sich der polnische Kriegsgefangene Jan Kowalkowski. Später standen die sowjetischen Kriegsgefangenen am unteren Ende der Hierarchie der Wehrmacht, denen jeglicher völkerrechtlicher Schutz entsagt wurde. Ideologisch-rassistisch legitimiert durch das Ziel, den „jüdisch-bolschewistischen“ Staat für immer von der Weltkarte zu löschen, sollten gefangengenommene Rotarmistinnen und Rotarmisten – die Frauen im KZ Ravensbrück, die Männer in Fünfeichen – durch schwerste Zwangsarbeit bei Hungerrationen und medizinischer Unterversorgung dem einkalkulierten Tod preisgegeben werden.
Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden - sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen in der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen.
Sie wurden auf lange Fußmärsche gezwungen, in offenen Güterwagen verschickt. Sie mussten sich Erdlöcher graben, sich notdürftig Baracken bauen - sie versuchten verzweifelt, irgendwie zu überleben. Dann wurden sie in großer Zahl zum Arbeitseinsatz gezwungen, den sie, geschwächt und ausgehungert, wie sie waren, oft nicht zu überleben vermochten.
Fast 120.000 Kriegsgefangene aus elf Staaten registrierte die Wehrmacht zwischen 1939 und 1945 im Stalag II A Neubrandenburg-Fünfeichen. Historiker gehen davon aus, dass von fast 120.000 Kriegsgefangenen zwischen 6.000 und 8.000 die Kriegsgefangenschaft nicht überlebten.
Über 90 Prozent der Todesopfer im Stalag II A waren Angehörige der Roten Armee, die in Massengräbern verscharrt wurden. Eine eigene Identität, einen Namen wollten man ihnen selbst nach dem Tod nicht zugestehen.
Meine Damen und Herren,
was sagen Zahlen? Wenig - und doch, sie geben Auskunft. Sie geben uns zumindest eine Vorstellung von dem Schrecken und von der unbarmherzigen Behandlung, die die Sowjetsoldaten in deutscher Gefangenschaft erlitten haben. Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen - Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjetunion gehörten.
Wenn wir betrachten, was mit den westalliierten Kriegsgefangenen geschah, von denen etwa drei Prozent in der Gefangenschaft umkamen, dann sehen wir den gewaltigen Unterschied: Anders als im Westen war der Krieg im Osten vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein Weltanschauungs- und Vernichtungs- und Ausrottungskrieg geplant – und in der Regel auch geführt, denken wir zum Beispiel an die schreckliche jahrelange Belagerung Leningrads mit dem Ziel des Aushungerns einer Millionenstadt.
Denken wir an die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung in allen besetzten Ländern, ganz besonders aber in der Sowjetunion. Das geschah bewusst und vorsätzlich und auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers. Die Wehrmacht setzte diese Befehle bereitwillig um.
Der millionenfache Tod derer, die unter der Verantwortung der Deutschen Wehrmacht starben, ist eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gewesen. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht.
Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen. Ich habe in Nordrhein-Westfalen, in Schloß Holte-Stukenbrock, daran erinnert und in der Kriegsgräberstätte in Lebus in Brandenburg. Denn dieses Schicksal der sowjetischen Gefangenen lag lange, zu lange, in einem Erinnerungsschatten. Das mag damit zu tun haben, dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten gedacht haben, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden.
Das mag sicher auch daran liegen, dass die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf die eigene Schuld verstellten. Diejenigen, die wegschauen und sich nicht erinnern wollten, sahen sich dann zudem später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk großgeschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete, Geschlagene.
In späteren Jahren haben in Westdeutschland und auch im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die beginnende Scham darüber die Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen einfach überlagert.
Dabei sind doch die Verbrechen des Nationalsozialismus zutiefst miteinander verbunden. Sie haben alle dieselbe Wurzel: Sie stammen aus der Vorstellung, dass auch unter Menschen nur das Recht des Stärkeren gelte, und dass der Stärkere das Recht habe, über das Lebensrecht der Anderen zu entscheiden, über Wert, über Unwert ihres Lebens. So wurden die Juden, wie die Sinti und Roma ausgesondert, gedemütigt, ermordet, dann die Behinderten oder Homosexuellen. So wurden dann auch die Völker im Osten als „minderwertig“ diffamiert, weswegen man mit ihnen ohne Rücksicht auf Humanität und Menschenrechte, auch ohne Rücksicht auf die Regeln des Völker- und Kriegsrechts verfahren dürfe.
Meine Damen und Herren,
hier in Fünfeichen hörte die Geschichte des Leids und Elends am 28. April 1945 mit der Befreiung der Inhaftierten dieses Lagers durch die Rote Armee nicht auf. Nachdem das Lager von Mai bis September 1945 auch als Repatriierungslager für ehemalige Zwangsarbeiterinnen, Kriegsgefangene und KZ-Überlebende genutzt wurde, errichtete parallel das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR, der NKWD, eines ihrer berüchtigten Lager, hier das Speziallager Nr. 9.
Weiter ging es mit dem Elend und dem Quälen von Menschen. Insgesamt 15.400 Personen waren bis Ende 1948 im Speziallager Nr. 9 interniert. Der überwiegende Teil bestand aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Angehörigen der deutschen Straforgane wie Polizeikräften oder KZ-Wachpersonal. Allerdings verhaftete das NKWD auch lediglich auf Verdacht zahlreiche Unschuldige und auch zahlreiche Jugendliche und hielt sie willkürlich fest. [Zwei Überlebende sind heute hier anwesend.]
Sie alle erlebten die Beugung des Rechts durch das Recht des Stärkeren. Es gab keine Gerichtsprozesse. Schuldeingeständnisse wurden durch Folter erwirkt. Die Menschen starben durch Hunger und Krankheiten, sie erfroren im Winter. Sie gingen elendig zugrunde.
Fast 5.000 Inhaftierte starben im Speziallager Nr. 9. Um die Zustände im Lager zu vertuschen, wurden auch sie in Massengräbern verscharrt. Eine Entnazifizierung wie in den Internierungslagern der Westalliierten wurde von den sowjetischen Besatzern nicht angestrebt. Erst im November 1948 konnten die letzten Personen das Lager verlassen. Und Fünfeichen geriet in Vergessenheit. Erst 1990 wurden nach Hinweisen aus der Bevölkerung Suchgrabungen durchgeführt und im Waldgelände östlich von Fünfeichen die Massengräber aus der Nachkriegszeit gefunden.
Meine Damen und Herren,
die Einrichtung der Speziallager unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte systemisch zum kommunistischen Unterdrückungssystem, es war ein auf die Situation bezogenes Element der sowjetischen Repressionspolitik. Gerade an diesem Ort wird deutlich: Die historische Bewertung, dass die „Befreier“ die Befreiung brachten, traf zwar auf den Westen Deutschlands zu. Doch in Ostdeutschland erwies sich der „Befreier“ als der neue verbrecherische Diktator. Während die westlichen Verbündeten aus der Anti-Hitler-Koalition das deutsche Demokratieprojekt förderten, erschuf Stalin mit seinem Panzer- und Geheimdienstsozialismus eine neue Diktatur.
Unsere heutige Veranstaltung erinnert uns an die Arroganz und Aggressivität der Diktaturen von einst – aber wir vergessen darüber nicht, dass wir Zeugen gegenwärtiger Arroganz und Brutalität sind, mit denen ein neuer Moskauer Imperialismus Menschen um Recht und Freiheit bringen will!
Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn ich mir heute eines wünschen darf, dann dass Gedenkveranstaltungen wie diese nicht als Pflicht, sondern als Impuls zum Lernen über die Vergangenheit und als Orientierung in der Gegenwart verstanden werden.
Schülerinnen und Schüler des Albert-Einstein-Gymnasiums werden hier gleich Berichte einiger Zeitzeugen wiedergeben. Wie ich hörte, sind auch die Jugendlichen des Lessing-Gymnasiums regelmäßig an der Gestaltung der Gedenkfeier beteiligt. Euch gebührt mein großer Dank. Es ist wichtig, dass Ihr euch so engagiert mit der Geschichte auseinandersetzt.
Ich danke auch den Soldatinnen und Soldaten, dass Sie sich hier in Fünfeichen einbringen, dass Ihnen die Erinnerung eine Verpflichtung ist. Und dass Sie sich als Bürgerinnen und Bürger in Uniform Ihrer besonderen Verantwortung für den Frieden, die Sicherheit und unsere Freiheit sehr bewusst sind. Mit Ihrem Einsatz, Ihrer Professionalität und Ihrer Verstärkung der NATO-Ostflanke trägt die Panzergrenadierbrigade 41 aus Neubrandenburg wesentlich zum Schutz unserer östlichen Nachbarn und Partner bei.
Wenn wir uns heute hier versammeln, um an die Verbrechen von zwei Diktaturen zu erinnern, dann denken wir an die Opfer von Gewalt und Krieg damals wie heute. Und wir schöpfen gemeinsam Hoffnung darauf, dass damals wie heute mit entschlossenem Handeln und praktizierter Solidarität das Unheil überwunden werden kann.
Mit Zuversicht wollen wir heute denen beizustehen, die sich mutig für Freiheit, Demokratie und Recht einsetzen. Wir sind den Menschen, mit denen wir unsere Werte teilen, Beistand schuldig. Aus unserer Erinnerung erwächst also mehr denn je auch eine Verpflichtung für heute. Aus unserer Erinnerung an einst erwächst Solidarität jetzt!