75 Jahre Grundgesetz
08. Mai 2024, Stuttgart
Es gilt das gesprochene Wort.
Wenn ich mich heute bei Ihnen, Frau Landtagspräsidentin Aras, ganz herzlich für die Einladung zu dieser Feier bedanke, so ist das weit mehr als eine höfliche Geste. Es ist mir ein wirkliches Bedürfnis und eine Freude, dem Grundgesetz, das der Bundesrepublik zunächst als Provisorium und seit 1990 als Verfassung des ganzen wiedervereinten Landes dient, meine Reverenz zu erweisen.
Am 8. Mai 1949 wurde es vom Parlamentarischen Rat beschlossen, am 23. Mai 1949 in Bonn feierlich verkündet und unterzeichnet. Und trotz zahlreicher Änderungen seines Textes und trotz einschneidender politischer Veränderungen in Deutschland, Europa und der Welt gelten seine Hauptbestandteile nahezu unverändert. Kein anderes deutsches Verfassungsdokument hat eine so lange Gültigkeit erlangt. Aber mit Blick auf die Lebensgefühle und die Debatten im Land frage ich mich, ob wir unsere Verfassung auch zu schätzen wissen?
Vielleicht erleben es nicht alle hier im Saal gleichermaßen. Wer lange vom Guten profitiert, gewöhnt sich so daran, dass er es oft nicht mehr zu schätzen weiß. Aber ich, der ich fünf Jahrzehnte in einer Diktatur gelebt habe, empfand und empfinde dieses Grundgesetz als ein großes Glück. Es schuf zuerst die Grundlage für ein freiheitliches Westdeutschland, das jahrzehntelang meinen Sehnsuchtsort bildete, und es hat danach beigetragen zur deutschen Einheit, die auch mich Teil einer demokratischen Ordnung, einer von Freiheit bestimmten Lebenswelt werden ließ.
Für mich ist die heutige Feier deswegen kein leeres Ritual und ganz gewiss keine Pflichtübung, sondern eine willkommene Gelegenheit, das Grundgesetz auch nach 75 Jahren als eine bewährte Grundlage für unsere Freiheit und Demokratie zu würdigen.
Eine ähnlich emotionale Beziehung zum Grundgesetz fand ich unlängst bei der Schriftstellerein Jagoda Marinic. Sie sei eine Verfassungspatriotin, schrieb die Tochter kroatischer Einwanderer. Am Tag der Einbürgerung war sie vom Gefühl der Sicherheit erfüllt: Es gebe nun Rechte, schreibt sie, die auch für sie galten. Seitdem geht sie immer zur Wahl, „als sei es die feierlichste Sache der Welt“.
Oft ist auf die Kernelemente der Verfassung verwiesen worden, die in Abgrenzung zur Weimarer Republik entstanden. Teils existierte unter den Gründungsvätern und -müttern während der vorbereitenden Diskussionen im Jahre 1948 Einigkeit, etwa über die größere Betonung der Grundrechte oder die geschwächte Stellung des Staatspräsidenten, teils wurde durchaus kontrovers diskutiert, etwa über die Gestalt der Länderkammer oder die Rolle von Parteien.
Ich möchte mich heute konzentrieren auf die Grundrechte, die in Weimar noch im zweiten Teil der Verfassung aufgelistet worden waren, im Bonner Grundgesetzt allerdings prominent an den Anfang gestellt wurden. Nach dem Schock von 50 Millionen Toten, sechs Millionen ermordeter Juden und vielen Millionen von Vertriebenen war sich die internationale Gemeinschaft einig: Menschenrechte müssen unbedingt verteidigt werden. Sie sollten die Individuen schützen vor jeglicher Gewaltherrschaft. Nationalsozialismus und Stalinismus standen denen vor Augen, die das Grundgesetz auch als eine fundamentale Scheidelinie zwischen Demokratie und Diktatur verstanden.
Die Menschenrechte sollten nicht rein moralische Postulate letztlich hilfloser Menschenrechtsorganisationen bleiben. Der neue demokratische Staat selbst sollte die fundamentalen Rechte des Bürgers garantieren und verteidigen. Es bedurfte damals eines Doppelschrittes: Zunächst verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, lautete der erste Satz des ersten Artikels.
Eine überwältigende Mehrheit von 48 Staaten stimmte für die Erklärung (darunter auch China), 8 enthielten sich (darunter die Sowjetunion). Erstmals wurde der Schutz der Menschenrechte in einem internationalen Dokument festgehalten - eine wahre Zeitenwende für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Individuum und Staat.
Allerdings war diese Resolution nicht rechtsverbindlich, sondern nur eine Empfehlung. Es bedurfte also eines zweiten Schritts - der Übernahme der Menschenrechte in nationale Verfassungen, so dass sie vom Staat zu garantieren waren und für Bürger einklagbar wurden. In Deutschland fand diese Übernahme bereits wenige Monate nach Verabschiedung der Erklärung der Menschenrechte statt. Gleich in Art. 1 Absatz 1 hielten die Gründungsväter und – mütter für die Bundesrepublik Deutschland fest:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Die Menschenwürde ist dabei nicht als ein Grundrecht unter anderen, sondern eher als Fundament der Grundrechte zu verstehen, als unhintergehbare politisch-moralische Leitdefinition. Ich denke in diesem Zusammenhang an Martin Luther King. Er fand dafür in seinem Brief aus dem Gefängnis von Birmingham 1963 das Bild von dem Felsen, auf den sich alles politische Handeln zu gründen habe. Jeder Mensch hat das Anrecht auf eine eigene Rolle als Mensch. Für uns heißt das: Kein Mensch darf einem staatlichen Zwang ausgesetzt und etwa zur Annahme einer sozialistischen, rechtsextremistischen oder islamistischen Ideologie gezwungen werden oder für „falsches“ Denken und Handeln bestraft oder „umerzogen“ werden – und sei es im Namen des angeblich Guten. Es ist ein Kennzeichen menschenunwürdigen Verhaltens, wenn Menschen hilflos der Macht ausgeliefert sind – wie es leider bis heute vielerorts geschieht, ich denke etwa an das Schicksal von Alexej Nawalny oder Wladimir Kara Mursa in Russland und an die Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi im Iran.
Um die hervorgehobene Bedeutung der Grundrechte zu unterstreichen, wurden sie in der Bundesrepublik im Unterschied zur Weimarer Verfassung bindendes Recht. Sie können nicht durch Notverordnungen außer Kraft gesetzt werden, sondern sind durch Art. 79 Abs. 2 der sogenannten Ewigkeitsklausel unterstellt. Keine der drei Staatsgewalten – auch kein Bundeskanzler und kein Bundespräsident - kann etwas tun oder unterlassen, was im Widerspruch zu ihnen steht. Keiner soll daran rütteln können, dass in unserer Verfassung der Mensch im Zentrum steht.
Nicht wenige hier im Saal dürften allerdings in Verlegenheit geraten, sollte man sie um eine Definition der Menschenwürde bitten.
Die einen würden vielleicht auf das Naturrecht verweisen, andere auf den Glauben oder die Überzeugung von Immanuel Kant, nach dem einem Menschen Würde deshalb zusteht, weil er das einzige vernunftbegabte Wesen sei. Auch unter den Vätern und Müttern des Grundgesetzes herrschten unterschiedliche Auffassungen. Theodor Heuss sprach daher einmal von einer „nicht interpretierten These“.
Doch selbst wenn es keine gemeinsame Begründung für die Menschenwürde gab und gibt, so gab und gibt es offenkundig einen allen gemeinsamen moralischen Kompass, der alle gleichermaßen fühlen lässt, wenn ein Mensch erniedrigt, gedemütigt, beleidigt wird. Daraus ist beispielsweise in allen großen Religionen die Goldene Regel erwachsen. Sie geht davon aus, dass die Würde dem Menschen angeboren ist und dass er damit befähigt und beauftragt ist, alle Mitmenschen als seinesgleichen zu respektieren und Schaden von ihnen fernzuhalten. Es sind im Wesentlichen die grundlegenden Festlegungen auf Menschenwürde und Grundrechte, die es mir persönlich 1990 akzeptabel erscheinen ließen, für das wiedervereinte Deutschland das Grundgesetz als gemeinsame Verfassung zu übernehmen.
Der Zentrale Runde Tisch der DDR hatte 1990 zwar einen Entwurf für eine neue Verfassung ausgearbeitet, der von einer neu gewählten Volkskammer beschlossen und durch einen Volksentscheid gebilligt werden sollte. Dieser Entwurf ging nicht nur in Teilen über das GG hinaus, er wurde auch als Basis für ein gleichberechtigtes Miteinander bei der Erarbeitung einer neuen gesamtdeutsche Verfassung gesehen.
Das Ergebnis ist bekannt: Der Mehrheit der DDR-Bevölkerung drängte im Sommer 1990 auf eine schnelle Wiedervereinigung. So fehlte den Abgeordneten der Volkskammer wie den politisch Aktiven die Zeit für eine langwierige Verfassungsdebatte, die Einheit erfolgte durch den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Ich vermag darin keine Unterwerfung zu sehen, wie manche aus der Bürgerbewegung bis heute meinen. Ich sehe diesen Schritt dagegen als eine zweite Legitimierung bzw. Beglaubigung des Grundgesetzes.
Wir dürfen uns in diesen Tagen im Übrigen gern daran erinnern, dass – wenn es nach dem Willen der Menschen in der frühen DDR gegangen wäre – schon 1953 nach dem Volksaufstand am 17. Juni der Weg in den Geltungsbereich des Grundgesetzes geführt hätte. Die Panzer der Diktatoren haben eine frühe Einheit in Freiheit verhindert.
So erlebte zunächst nur der Westen, was sich auch nach 1990 der Osten bewusst machen konnte: Das Grundgesetz hat sich bewährt.
Mir ist natürlich die verbreitete Kritik bekannt, dass die Realität nicht hält, was die Verfassungen an Würde und Rechten versprechen. Es ist ein altes Thema: Hatte nicht einst schon in den USA Thomas Jefferson, einer der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitsverfassung und Verfechter von Menschenrechten, nicht selbst noch Sklaven? Hat es in Preußen bzw. Deutschland nicht sechs Jahrzehnte gedauert, bis das Wahlrecht auch den Frauen zugesprochen wurde?
Und um in die Gegenwart zu gehen: viele Bürger beklagen, dass etwa von Gleichheit keine Rede sein könne, wenn die Bildungschancen von Kindern aus ärmeren und eingewanderten Familien signifikant geringer sind als bei denen aus bildungsnahen und wohlhabenderen Familien? Andere fürchten Einschränkungen der Meinungsfreiheit, wie sie von Seiten des Staates einerseits und von gesellschaftlichen Aktivisten andererseits betrieben werde. Manche NGOs sprechen gar von einer Heuchelei: Die Demokratie könne ihren normativen Ansprüchen nicht gerecht werden. Sie gebe ein feierliches Versprechen, könne die Durchsetzung der Norm aber nicht garantieren.
Ja, es stimmt zweifellos: Die Norm ist das Ideal und die Wirklichkeit weicht oftmals davon ab. Es gibt keinen idealen Staat. Doch für mich sprechen Abweichungen oder Defizite nicht gegen die Norm, vielmehr braucht es die Norm als Richtschnur, wenn es um Verbesserungen geht. Denken wir etwa daran, dass für die Frauen in Europa oder für die Schwarzen in den USA die Kluft zwischen Norm und Realität ein Ansporn war, um die Realität stärker der Norm anzupassen – konkret: für immer mehr Gleichberechtigung zu kämpfen.
Dasselbe galt und gilt in jüngster Zeit für Angehörige ethnischer, religiöser oder sexueller Minderheiten. Die Grundrechte enthalten insofern auch ein Versprechen, das darauf wartet, von den Bürgern aufgegriffen und von der Politik eingelöst zu werden. Hier sehe ich in letzter Zeit aber auch ein gewisses Problem. Die Normen sind entstanden als Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur. Und sie bezogen sich auf den Kernbereich menschlicher Identität. In letzter Zeit erleben wir aber, dass das moralische Gewicht der Menschenwürde auch bei den Diskussionen etwa über die Reproduktionsmedizin, die Gentechnik oder auch über die subjektive Befindlichkeit des Einzelnen ins Feld geführt wird.
Diese Entwicklung verrät zwar einerseits eine gewachsene Sensibilität in der Gesellschaft, ebnet andererseits aber die gravierenden Unterschiede ein, die zwischen existentiellen Verletzungen der Menschenwürde bestehen, in denen es um Leben und Tod geht (wie augenblicklich in der Ukraine) und moralischen Verletzungen, die unterschiedliche politische Positionen oder das subjektive Selbstbewusstsein tangieren. Nicht wenige Juristen und Politiker warnen vor einem inflationären Gebrauch der Norm der Menschenwürde, wenn ihr moralisches Gewicht gleichwertig bei sehr unterschiedlichen Problemstellungen geltend gemacht wird. Unter Umständen kann unsere Aufmerksamkeit damit von den politischen Hauptaufgaben abgelenkt werden. - Mentale und materielle Ressourcen sind nicht unbegrenzt.
Hier komme ich zu einem weiteren Essential des Grundgesetzes. Menschenwürde und Grundrechte sind erst einmal Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Sie sind aber immer auch Entscheidungen zugunsten einer Werteordnung, einer grundlegenden Idee für unser Zusammenleben. Um dem Pluralismus und einer freien politischen Willensbildung Rechnung zu tragen, hatte sich die Weimarer Verfassung noch als wertneutral verstanden. Die Duldung aller politischen Weltanschauungen galt als Tugend, hatte allerdings zur Folge, dass verfassungsfeindliche Strömungen diesen Freiraum zur Unterwanderung der staatlichen Ordnung ausnutzen konnten. Die Gründungsväter und -mütter des Grundgesetzes gingen von vornherein einen anderen Weg. Wenn eine Demokratie indifferent oder achtlos gegen Demokratiefeinde sei, stellte so eine Expertengruppe schon bei den Beratungen zum Grundgesetz fest, stehe sie in der Gefahr, „selbstmörderisch zu werden“.
Und Carlo Schmid, Jurist, Sozialdemokrat, der maßgeblich das Grundgesetz mitgestaltete, hat von Anfang an den „Mut zur Intoleranz“ jenen gegenüber gefordert, „die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie aufzuheben“. Eine große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Bundesverfassungsgericht zu. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm nannte es die „folgenreichste Innovation im Grundgesetz“. Denn das Bundesverfassungsgericht hat diese Wertebindung systematisch zu einer „objektiven Wertordnung“ ausgebaut.
Im Parteiverbotsverfahren gegen die rechtsradikale Sozialistische Reichspartei von 1952 und gegen die KPD 1956 führte es als essentielle Bestandteile der freiheitlich demokratischen Grundordnung erstmals die Gewaltenteilung, das Mehrparteiensystem und das Bekenntnis zu den Menschenrechten auf. Sowohl die Sozialistische Reichspartei wie die KPD wurden damals als verfassungsfeindlich verboten. Wenn später der Verbotsantrag gegenüber der NPD scheiterte, lag das nicht daran, dass die NPD nicht als verfassungsfeindlich eingeschätzt wurde. Vielmehr galt ein Verbot als unverhältnismäßig angesichts der Tatsache, dass der kleinen Partei keine Erfolgsaussichten eingeräumt wurden. Nur aus taktischen Erwägungen wurde kein Verbot ausgesprochen, nicht aufgrund einer wertneutralen Haltung.
Es ist dem Verfassungsstaat zwar untersagt, sich mit einer konkreten Weltanschauung oder Religion zu identifizieren. Das schließt allerdings nicht jedwede Wertebindung aus. Umgekehrt: Erst die Wertebindung der Verfassungsorgane schafft die Voraussetzung, den destruktiven Angriffen von Verfassungsfeinden nicht werterelativistisch ausgeliefert zu sein. Für die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach gehörten zur Grundgesetzordnung deswegen auch immer „bestimmte grundlegende Werte wie die Menschenrechte, auf die alle Staatsorgane verpflichtet sind“. Sobald verfassungsrechtliche Garantien wie etwa Minderheitenrechte auf dem Spiel stünden, hätten Richterinnen und Richter der Mehrheit sogar zu trotzen.
Bilden Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht als seine oberste Hüterin also uneinnehmbare Hürden bei Angriffen auf unsere Demokratie? Können wir uns auf die Verfassung als eine Bastion der freiheitlich demokratischen Grundordnung immer verlassen?
Bisher besaßen Rechtsextremisten keine Macht auf Landes- und Bundesebenen. Doch aus den bevorstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg können sie als stärkste Fraktion hervorgehen. Würden sie – was nicht wahrscheinlich, aber auch nicht völlig auszuschließen ist – eine Landesregierung stellen, könnten sie den Alltag des Landes bereits erheblich verändern:
- die Abschiebungen von Flüchtlingen vorantreiben,
- eine als Remigration getarnte Deportation von Migranten einleiten,
- dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Finanzmittel kürzen,
- Einfluss auf die Lehrpläne nehmen, etc. etc.
Was also tun? Sollten einzelnen Verfassungsfeinden die Grundrechte entzogen werden, wie es Art. 18 des Grundgesetzes ermöglicht, an ihnen also ein Exempel statuiert werden? Oder sollten rechtsradikale Parteien und Organisationen beziehungsweise einzelne Gliederungen verboten werden, wie es Art. 21 Absatz 2 wegen Verfassungsfeindlichkeit vorsieht? Die juristischen Hürden für ein Parteiverbot liegen hoch. Eine Verfassungsfeindlichkeit müsste der gesamten Organisation nachgewiesen werden. Hinzu kommen politische Bedenken: Würde ein Verbot die Haltung der Menschen ändern, die jetzt den Rechtsradikalen ihre Stimme geben, oder würde es sie nach neuen Möglichkeiten ihrer Artikulation suchen lassen?
Verstärkt wird deswegen darüber nachgedacht, wie der Kampf gegen den Rechtsextremismus jenseits eines Parteiverbots geführt werden kann. Die demokratischen Parteien, die Institutionen und die Zivilgesellschaft sollten mutig und faktengestützt in die politische Auseinandersetzung mit den Populisten gehen und das Parlament wird gerade aktiv. Etwa durch besseren Schutz für die Unabhängigkeit gerade von Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht. Insbesondere die Verfassungsgerichte gehörten nämlich, wie die Ereignisse in Polen, Ungarn, Israel und den USA gezeigt haben, zu den ersten Institutionen, die die Regierungen in ihr autoritäres System einzubauen trachten. Insofern erscheint es mir augenblicklich durchaus sinnvoll, die Position des BVG im GG besser gegen extremistische Einflussnahme zu schützen.
Eines muss uns allerdings bewusst sein: Politischer Streit lässt sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass er in den juristischen Bereich verschoben wird. Juristen können nicht an die Stelle von Politikern treten, das Bundesverfassungsgericht ist nicht die letzte politische Instanz. Bestimmend bleibt die Politik, bleiben Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft. Trotz Wertebindung garantiert das Grundgesetz allein nicht, dass unsere freiheitlich-demokratische Ordnung überlebt. Weder schützen uns Verfassungen davor, dass autoritäre Politiker an die Macht kommen (sie können ja mehrheitlich gewählt werden), noch können Verfassungen eine Aushöhlung der demokratischen Prinzipien letztlich verhindern (illiberale Veränderungen können mit parlamentarischen Mehrheiten beschlossen werden).
Die Grundrechte brauchen die Bürger, damit ihr Potenzial zur Entfaltung kommt. Die Demokratie braucht die Demokraten, damit sie widerstandsfähig ist. Die vielen Demonstrationen in den letzten Monaten gegen eine Aushöhlung der Demokratie haben mir gezeigt, dass sehr viele Bürger unseres Landes dies verstanden haben. Wir leben nicht in einer Situation wie in der Weimarer Republik, als es eine gute Verfassung, eine echte Demokratie gab – aber leider zu wenig Demokraten. Wir dürfen besorgt sein und uns aufmachen zu verteidigen, was wir geschaffen haben. Aber Weimarer Ängste gehören nicht in unsere politische Landschaft. Ich wünschte, die jungen Menschen und diejenigen, die nie in Unfreiheit leben mussten, könnten die liberale Demokratie neu oder wieder zu ihrer inneren Überzeugung machen.
Ich bin überzeugt: Wer unsere Verfassung als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und für politische Teilhabe erfasst hat, wird sie zu schätzen wissen und sie wehrhaft gegen ihre Feinde verteidigen wollen.
Mag sie auch nicht frei von Mängeln sein, so bleibt die Demokratie doch die beste Regierungsform, die wir kennen, und weltweit Zufluchts- und Sehnsuchtsziel der Unterdrückten.
Ein Video der Rede finden Sie unter diesem Link auf der Seite des Landtags von Baden-Württemberg.