Dresdner Friedenspreis-Verleihung posthum an Alexej Nawalny
12. Mai 2024, Dresden
Es gilt das gesprochene Wort!
Ich bin der Trägerinitiative des Friedenspreises Dresden außerordentlich dankbar, dass sie den Preis in diesem Jahr posthum an den russischen Bürgerrechtler, Korruptionsbekämpfer und Politiker Alexej Nawalny verleiht. Wir brauchen die Erinnerung an diesen so selbstlosen und fast übermenschlich mutigen Mann, der uns vor Augen führt, dass es auch ein anderes Russland geben kann. Alexej Nawalnys Lebenswerk ist ein Monument. Er bleibt ein Vorbild für alle, die an Freiheit und Würde auch für die Menschen in Russland glauben. Wir werden ihn nicht vergessen.
Verehrte Frau Nawalnaya, ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie heute hier sind, um diesen Preis stellvertretend für Alexej Nawalny entgegenzunehmen. Kurz nachdem Sie vom Tod Ihres Mannes erfahren hatten, sagten Sie bei der Münchner Sicherheitskonferenz: „Ich möchte die gesamte internationale Gemeinschaft, all diejenigen in der Welt, die jetzt zuhören, dazu aufrufen, zusammenzustehen und dieses Böse zu besiegen, dieses furchtbare Regime, das heute über Russland herrscht.“ Und weiter: „Dieses Regime und Wladimir Putin persönlich sollten zur Verantwortung gezogen werden für all diese Gräueltaten, die sie in den vergangenen Jahren in meinem Land, in unserem Land Russland verübt haben.“ Liebe Frau Nawalnaja, es ist ermutigend und inspirierend zu sehen, dass Sie die Arbeit Ihres verstorbenen Mannes so unbeirrt, couragiert und selbstbewusst fortsetzen. Ich verneige mich in tiefstem Respekt vor der Art und Weise, wie Sie den Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit in Russland führen. Alle, die wir hier heute in Dresden versammelt sind, stehen hinter Ihnen und wir nehmen Anteil an Ihrer Trauer und dem tragischen Verlust, der Ihnen persönlich und der allen freiheitsliebenden Menschen vom barbarischen Putin-Regime zugefügt wurde.
Alexej Nawalny war der bedeutendste Oppositionelle in Russland und der wichtigste Gegner des russischen Diktators. Bis zuletzt war er unter kaum vorstellbaren, menschenverachtenden Bedingungen als politischer Gefangener von der Öffentlichkeit weggesperrt gewesen. Dem russischen Diktator aber war er weiterhin ein Dorn im Auge, eine Bedrohung für seinen Macht- und Angstapparat. Er konnte es nicht erdulden, dass Alexej Nawalny am Leben blieb. Am 16. Februar brach Nawalny dann im Straflager am Polarkreis in Sibirien zusammen und starb.
Auch wenn seine Ehrung am heutigen Tage, knapp drei Monate nach seinem Tod, nur eine Geste sein kann: es bedarf solcher Gesten, um jene im öffentlichen Diskurs präsent zu halten, die unter Einsatz des eigenen Lebens die Menschenwürde und das Recht verteidigen.
Dem Putin-Regime reichte es offenkundig nicht aus, dass Alexej Nawalny wegen seines politischen Engagements aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde. Zahlreiche weitere politische Gefangene sind in Russland hinter Gefängnismauern verschwunden, weil sie trotz Einschüchterung, Drangsalierung und Vergiftungsversuchen nicht ablassen wollten, Unrecht, Korruption und Krieg anzuprangern und der Wahrheit über die Diktatur in Russland ihre Stimme zu geben. Die sogar um ihr Leben bangen müssen, wenn sie demokratischen Protest organisieren und die Allmacht von autoritären Herrschern durchbrechen. Sie brauchen die Solidarität jener, die offen sprechen können.
Ich begrüße den Preis für Alexej Nawalny auch deshalb, weil Menschen wie er uns zeigen, dass wir immer eine Wahl haben. Mag es in Zeiten von Diktatur auch normal sein, zu schweigen und sich anzupassen, so zeigen sie uns, dass es möglich ist, die Angst zu überwinden und gegen das Unrecht aufzustehen. Die Realität hat uns zwar gelehrt, dass nicht alle Menschen widerstehen können, aber Menschen wie Alexej Nawalny zeigen uns diese mögliche Variante menschlichen Verhaltens angesichts von Unfreiheit und Unterdrückung. Das Dasein solcher Menschen ist ein Appell an uns alle: erkenne deine Möglichkeiten, unterwirf dich nicht freiwillig, tue das, was dir möglich ist, um dem Ungeist und Unrecht zu widerstehen!
Wenn ich gerade vom Widerstehen spreche, dann muss ich hier an die Ukrainer denken, die seit über zwei Jahren ihre Souveränität und Freiheit mit bewundernswerter Ausdauer und großem Mut verteidigen. Sie verdienen unsere fortgesetzte Unterstützung und benötigen alle Mittel, die den Widerstand gegen den skrupellosen Aggressor und eine Abwehr seiner Kriegsgräuel ermöglichen. Die Ukrainer wissen es: Unter russischer Herrschaft sollen sie ihrer Geschichte, Sprache und Kultur – sprich: ihrer Identität – beraubt werden, so wie es bereits in den von Russland okkupierten Gebieten geschieht. Das expansionistische Russland zu schwächen und zurückzudrängen ist daher das Gebot der Stunde. Dabei gilt es nicht nur die Existenz einer eigenen ukrainischen Nation zu sichern. Deutlich steht uns vor Augen: Die Ukraine verteidigt auch unsere freie Art zu leben, die wir zu lange für selbstverständlich und unbedroht gehalten haben.
Der Kampf gegen die autoritäre Kreml-Herrschaft wird aber auch von Russen selbst geführt – von jenen, die zum „anderen“ Russland gehören. Wir hören ihre Stimmen, wie die von Viktor Jerofejew und anderen Künstlerinnen und Intellektuellen im Exil; oder auch aus dem litauischen Wilna, wohin ein Teil des Teams von Alexej Nawalny geflohen ist. Oder aus Berlin, wo eine Filiale der Menschenrechtsorganisation Memorial gegründet wurde. Wir hören etwa von Oleg Orlov, als Beispiel für die „anderen“ Russen aus Russland selbst, obwohl dort schon das kleinste Aufbegehren zu Festnahmen, Anklagen und teilweise drastischen Strafen oder, wie einst in Sowjetzeiten, auch wieder zu Einweisungen in die Psychiatrie führt. Noch aus Lagern und Gerichtssälen dringen die politischen Botschaften der ungebrochenen Angeklagten an die Öffentlichkeit – wie etwa vom 42-jährigen Wladimir Kara-Mursa, der im April 2023 zu 25 Jahren Haft wegen angeblichen Hochverrats verurteilt wurde. Oder vom Kreml-Kritiker Ilja Jaschin, der zu achteinhalb Jahren verurteilt wurde, weil er über die russischen Gräueltaten im ukrainischen Butscha berichtet hatte. Oder wie eben bis zum 16. Februar von Alexej Nawalny, dem bekanntesten und laustärksten Kritiker des Putin-Regimes. Es geht unter Putin - wie einst zu KGB-Zeiten - wieder um Zersetzung und Vernichtung derer, die sich der absoluten Macht nicht beugen wollen, es geht darum, sie physisch und psychisch zu brechen. Und Alexej Nawalny war Putins Angstgegner. Er wurde zur Ikone der Putin-kritischen Opposition.
Lassen Sie mich einen Blick zurück auf den politischen Werdegang von Alexej Nawalny richten. Als Jurist und Blogger trat er zunächst auf als Anwalt der russischen Mittelschicht, die auf dem Aktienmarkt ihr Geld an die Korruption verlor. Dann deckte er mit Hilfe des Internets die Veruntreuung von Staatsgeldern in großem Stil auf. Seine 2011 als Nichtregierungsorganisation gegründete Stiftung landete ihren größten Coup mit einem Video über die pompöse Privatresidenz von Putin am Schwarzen Meer - auf einem Grundstück, in dem 39 Fürstentümer von Monaco Platz finden könnten. Das Video erreichte 132 Mio. Klicks. Auch als Politiker hat Alexej Nawalny versucht, in der russischen Gesellschaft aktiv zu werden; 2013 kandidierte er zur Bürgermeisterwahl in Moskau und erreichte über 27 Prozent der Stimmen. 2017 trat er als Putins Gegenkandidat zur Präsidentschaftswahl im April 2018 an, wurde allerdings wenige Monate vor der Wahl von der Zentralen Wahlkommission ausgeschlossen. Wichtiger als ein fest umrissenes Programm war es ihm immer, möglichst viele verschiedene Strömungen zusammenführen, wenn sie denn gegen die Regierungspartei „Einiges Russland“ gerichtet waren.
Alexej Nawalny konnte sich ein System nach Putin nur als parlamentarische Republik vorstellen, mit Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Pluralismus. Ohne den – wie er schrieb - „imperialen Autoritarismus“, der die Bürger im eigenen Land terrorisiert und die Länder außerhalb in ihrer Existenz bedroht. Nur ein demokratisches Russland werde Frieden schaffen. Und ein demokratisches Russland müsse die Grenzen der Ukraine so akzeptieren, wie sie beim Zerfall der Sowjetunion 1991 vereinbart worden sind – was indirekt eine Anerkennung der von Russland 2014 annektierten Halbinsel Krim als ukrainisches Territorium einschließt. Nawalny war der Gegenpol zum Kreml-Herrscher.
Das erste Mal wurde er 2011 verhaftet. Weil er gegen Fälschungen bei den Parlamentswahlen protestiert hatte, kam er 15 Tage in Haft. 2013 erhielt er wegen angeblicher Unterschlagung fünf Jahre Haft auf Bewährung, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht auf ein faires Verfahren verletzt sah. Im Laufe der Zeit wurden die Strafen und Schikanen immer drakonischer. 2017 schütteten ihm unbekannte Täter eine Säureflüssigkeit ins Gesicht; Nawalny konnte sein verätztes rechtes Auge nur durch eine Operation in einer spanischen Spezialklinik retten. Im Sommer 2020 entging er dem Tod nur knapp, weil er nach einem hinterhältigen Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok ins künstliche Koma versetzt und zur Behandlung in die Berliner Charité ausgeflogen wurde. Im Exil zu bleiben, kam für ihn allerdings nicht in Frage, - auch wenn er wusste, dass er für seine Rückkehr einen hohen Preis würde zahlen müssen. Kaum angekommen wurde er noch auf dem Flughafen verhaftet.
Was Sie, liebe Frau Nawalnaja, damals auf dem Rückflug angesichts der zu erwartenden Repression empfunden und was Sie mit Ihrem Mann besprochen – oder umgekehrt auch ausgeblendet - haben, wissen wir nicht. Aber wir erinnern uns sehr deutlich an das Bild, wie Ihr Mann, dieses wieder und wieder verfolgte Individuum, kostbare Momente menschlicher Nähe erlebt, als seine Frau ihn im Flugzeug begleitet auf seinem Weg, der sehr bald zu Erniedrigung und Einsamkeit führen wird. Für Ihren Mann stand aber offensichtlich unerschütterlich fest: Wer etwas verändern will, der muss am Ort des Geschehens sein. Und sei es hinter den streng bewachten Mauern von Gefängnissen und Straflagern. Und sei es unter Inkaufnahme des eigenen Todes.
Alexej Nawalny hatte durch seine Entscheidung nicht verloren, sondern in den Augen all jener Landsleute gewonnen, die noch Gut und Böse zu unterscheiden vermögen: Durch seine Unbeirrbarkeit und seinen ungeheuren Mut. Und durch seine Entscheidung, bis zum tödlichen Ende mit der Mehrheit durchzustehen, was das repressive System ihr auferlegt. Unter solchen Bedingungen können Aufenthalte im Gefängnis oder in der Verbannung zu Beweisen einer nahezu religiösen Hingabe an „die Sache“ werden, und die Märtyrer – nun also auch Nawalny – werden zu Ikonen einer Anklage gegen unmenschliche, ja tödliche Herrschaft. Für manche Oppositionelle ist Selbstaufopferung auch nicht nur eine Konsequenz ihres moralischen Selbstverständnisses. Sie folgen auch einer grundlegenden Einsicht, wie sie etwa der Soziologe Grigori Judin formulierte: Was würde denn geschehen, wenn alle Kritiker Putins das Land verließen? Wenn sie ihre Heimat aufgeben würden? Wenn Putin einfach im Kreml bliebe – und sich irgendwann wieder alles „normalisieren“ würde?
Letztlich muss der Kampf vor Ort ausgefochten werden. Und zweifellos zählt Nawalnys langjähriger Kampf gegen die korrupte Elite zu den wichtigsten delegitimierenden Faktoren des Putin-Systems. Kein anderer Oppositioneller war so charismatisch wie er. Kein anderer konnte Zehntausende zu Protesten auf die Straße bringen. Keinem anderen ist gelang es, über viele Jahre mit unorthodoxen Methoden die Regierung so herauszufordern. Es gibt auch nicht viele andere Oppositionelle, die in ähnlich exponierter Lage so unbeirrt, angstfrei und ungebrochen an ihren Zielen festhalten - trotz permanenter Schikanen und Einschüchterungen, trotz rechtswidriger Trennung von der Familie, trotz körperlicher Schwäche und fehlender medizinischer Betreuung, trotz Isolationshaft in einer Einzelzelle, die Nawalny einmal als „Hundezwinger“ beschrieb. Ihn brach nicht einmal ein infamer Mordversuch durch den russischen Inlandsgeheimdienst. „Einen mutigeren Menschen“, so sagte es einmal ein Wahlkampfhelfer aus Jekaterinburg, „habe ich noch nicht getroffen.“
Dank Nawalny ist ein alternatives politisches Netzwerk entstanden, das nicht in den allgegenwärtigen Klientelbeziehungen wurzelt. Selbst wenn seine über ganz Russland verteilten Regionalbüros und sein „Fond zur Korruptionsbekämpfung“ inzwischen verboten wurden, so konnte seine Bewegung doch nicht mundtot gemacht werden. Regelmäßig meldete sich Nawalny mit Videobotschaften selbst aus dem Lager. Und 140 seiner Mitarbeiter im Wilnaer Exil versorgen über soziale Medien jeden Monat zwischen 18 und 20 Millionen Menschen in Russland mit Fakten und Kommentaren, und ermutigen jeden einzelnen zur Selbstbefragung: Was kann ich persönlich tun, um widerständig gegenüber dem System zu sein? Denn – davon war Nawalny überzeugt: „Jeder kann etwas tun. Rede mit dem Nachbarn. Hänge einen Flyer auf. Berichte anderen von unseren Recherchen. Spende Geld.“ Ja: Es gibt ein „anderes“ Russland, ein Russland außerhalb des Systems Putin. Das ist die Hoffnung aller Demokraten für die Zukunft.
Ich möchte unsere heutige Begegnung und die Preisverleihung auch nutzen, um auf eine Verpflichtung derer hinzuweisen, die das Glück haben, in Freiheit leben und sprechen zu können. Wenn die Opfer autoritärer und imperialer Herrschaft nicht mehr selbst ihre Stimme gegen die Unterdrückung erheben können, dann sind wir in den freien Gesellschaften verpflichtet, uns auch in ihrem Namen zu Wort zu melden: einzutreten für ein Leben in Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung. Auch von uns wird es abhängen, was mit anderen politischen Gefangenen im Putin-Russland zukünftig geschieht. Auch von uns wird es abhängen, was aus Maria Kolesnikowa, Viktor Barbariko, Sergej Tichanowski und anderen politischen Gefangenen in Belarus geschieht.
Freunden gegenüber hatte Alexej Nawalny einmal gesagt, die Berichterstattung im Westen über seine Verfolgungen sei seine Lebensversicherung. Heute müssen wir feststellen: Es hat nicht gereicht. Alexej Nawalnys Leben konnte nicht gesichert werden. Aber vielleicht gelingt es uns, mit dieser posthumen Preisverleihung das Licht auf jene Kräfte in Russland zu richten, die Widerstand leisten und für ein demokratisches Russland kämpfen.
Aber auch für uns im westlichen Europa enthält der Blick auf Alexej Nawalny eine bedeutende Botschaft: der bewusste Gang ins Lager, die Entwürdigung und sein Tod offenbaren uns einen Glauben und eine Hingabe an die Idee der Freiheit, die uns Freiheitsverwöhnten übermenschlich erscheint. Wer von uns wollte diesem Beispiel schon folgen? Aber eines könnten wir doch sehr wohl: den Wert der Freiheit neu begreifen und bewusster verteidigen, was wir in unseren freiheitlichen Gesellschaften geschaffen haben. Und wenn wir uns auch nicht zutrauen, genau so mutig zu handeln wie die großen Vorbilder und Märtyrer, so vermag ihr Leben, ihr Widerstehen uns doch so zu ermutigen und zu verändern, dass wir mit neuer Energie und mit festem Willen an die Seite all derer treten, die Freiheit und Recht verteidigen.
Ich sehe die heutige Preisverleihung an Alexej Nawalny als einen Versuch, dies in unseren Köpfen und Herzen zu verankern. So verbinden wir uns mit dem Leben und Wirken des Verstorbenen.
Die ihn ums Leben brachten, haben ihn daran gehindert, heute zu uns zu sprechen. Aber sie können nicht verhindern, dass er uns heute zuruft: Ohne euch wird die Freiheit sterben - nur mit euch wird sie leben.
Wir hören diesen Zuruf. Wir brauchen ihn gerade.
Wir sagen: danke Alexej Nawalny.