Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

Ringvorlesung Geschichtszeichen der Freiheit

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Bundespräsident a.D. Joachim Gauck eröffnet die Ringvorlesung "Geschichtszeichen der Freiheit" in Halle

©Uni Halle / Markus Scholz

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck eröffnet die Ringvorlesung "Geschichtszeichen der Freiheit" in Halle

Ringvorlesung "Geschichtszeichen der Freiheit"

09. April 2024, Halle

                                                  Es gilt das gesprochene Wort.

1989/90: Freiheit erringen, Freiheit gestalten

 

Als ich die Einladung zu Ihrer Vortragsreihe „Geschichtszeichen der Freiheit“ erhielt und mir deren ambitionierte Zielvorstellung verdeutlichte, habe ich mich gefreut, weil ich dem Thema existentiell verbunden bin – praktisch „von Kindesbeinen an“, sodann als Pastor und Oppositioneller, als Mitstreiter in der Demokratiebewegung, als Abgeordneter in der ersten freien Volkskammer und zuletzt als Präsident. So begrüße ich Sie also mit Lebenserfahrungen, jedenfalls solchen, die mit Freiheit und Unfreiheit verbunden sind. Beginnen wir mit dem Letztgenannten.

Wer im Kriegsjahr 1940 geboren ist und in Deutschland östlich der Elbe lebte, für den würde politische Unfreiheit seinen Lebensraum prägen. Von der Geburt an erlebt meine Alterskohorte quasi eine doppelte Normalität. Der alltägliche Lebensablauf vermittelt den Menschen: Es ist, wie es ist, Du hast so zu leben, wie die Macht, der Du unterstehst, es wünscht. Mit Gehorsam und Anpassungsbereitschaft kannst Du persönliche Sicherheit und Aufstieg erlangen.

Wo ein solches Dasein „normal“ ist, existiert aber in aller Regel jene andere Normalität, die in den Psychen der Menschen beheimatet ist, die in Unfreiheit leben müssen: der Wunsch, ja die Sehnsucht danach, ungebunden, selbstbestimmt und ohne Angst leben zu können. Je ernster Menschen diesen Wunsch nehmen, desto bestimmender wird diese psychische Gestimmtheit mit der erstgenannten „Normalität“ in Konflikt geraten. Und wenn nicht nur einzelne Individuen, sondern Gruppen und schließlich Massen ihre innere Sehnsucht zur äußeren Aktivität werden lassen, werden Bewegungen und Kämpfe in der Gesellschaft in Gang gesetzt, wie wir sie im Lauf der DDR-Geschichte gesehen haben.

Die historische Rückschau erkennt mit Blick auf 1989 eine glückhafte Entwicklung von der Sehnsucht nach Freiheit zur Erringung von Freiheit. „Glückhaft“ deshalb, weil günstige politische Bedingungen dem Freiheitsbegehren der Menschen Möglichkeiten des Gewinnens bescherten. Dies ist ja keineswegs immer gegeben. Wer heute z.B. nach Belarus oder in Richtung Iran schaut, der sieht, wie die staatlichen Unterdrücker alles bekämpfen, was Freiheit oder auch nur bestimmte Freiheiten fordert. Frustration und Ohnmacht der Unterdrückten prägen dann lange Gesellschaften der depotenzierten Staatsbewohner.

So hat meine Generation auch unseren Lebensraum erlebt.

Dabei habe ich früh einen Hoffnungsschub erlebt. 1953 sah es so aus, als ob die Freiheitssehnsucht der Mehrheitsbevölkerung im Osten durch einen Aufstand gegen die Unterdrücker Freiheit, Demokratie und Einheit erreichen könnte. Aber die hegemoniale Macht mobilisierte Soldaten und Panzer. Die Niederlage der Freiheitsliebenden prägte sich tief im kollektiven Gedächtnis der Teilnation ein: „Es hat keinen Zweck, aufzubegehren.“

So organisierten die einen ihre Fluchten, während die verbleibende Mehrheit auf je eigene Weise ihr Leben in politischer Ohnmacht organisierte (in Varianten von Systemtreue bis zu Widerstand).

Dass selbst in Gesellschaften mit perpetuierter politischer Ohnmacht und ohne jede Lebenserfahrung mit Freiheit die Freiheitssehnsucht nicht erstirbt, verweist darauf, dass das Bedürfnis frei zu sein zum Kernbestand des menschlichen Selbst gehört.

Wie der heranwachsende Mensch Schritt für Schritt erkennt, dass er ein wertvolles, schützenswertes und autonomes Wesen ist, so erkennt der erwachsene Bürger Schritt für Schritt, dass er nicht ewig dazu verurteilt ist, willenlos einem Schicksal zu gehorchen. Er entdeckt eigenständig oder angeregt durch andere seine Zuständigkeit für das eigene Leben und für die Gesellschaft. Er erkennt seine Wünsche und Interessen als etwas Gültiges, ihm Zustehendes an. Dieses innere Wachsen des homo politicus, das immer sicherer werdende Wissen um die eigene Fähigkeit, verantwortlich handeln zu können, führt dann zum Bedürfnis, aus dem Wünschen ins Handeln zu gelangen.

Wenn wir die Ereignisse des Jahres 1989 betrachten, erkennen wir die zunächst ängstliche und zögerliche Bewusstwerdung der eigenen Potentiale durch eine Vielzahl von Menschen, die in den Jahren des Zwangs das Wissen um die eigene Kraft weitgehend verloren hatten.

In der Diktatur werden zwar Fähigkeiten entwickelt, die für die Lebensabläufe in der Gesellschaft erforderlich sind; berufliche, auch akademische Ausbildung sind garantiert. Aber es existiert immer ein strukturelles Defizit bei der Herausbildung von Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit.

Wer in der Schule keine Klassensprecher, sondern FDJ-Sekretäre erlebt, im Betrieb keine echte Gewerkschaft, sondern eine Gewerkschaft als Agentur der Staatsmacht, wer als Betriebsleiter abhängig ist von seinem Parteisekretär, wer bei seinem beruflichen Aufstieg Führungspositionen nur erlangt, wenn er in die Partei eintritt, der lernt nachhaltig, dass nicht Eigensinn, sondern Unterwerfung das eigene Fortkommen sichert. Und wer sich als Bürger dem Feld des Politischen, der Partizipation widmen möchte, erlebt eine Gesellschaft ohne Debatten um die wesentlichen Inhalte des Politischen, Meinungsbildung ohne Meinungsvielfalt, erlebt als Autor oder Journalistin Zensur, als Wahlbürger Wahlen ohne jede Bedeutung. Zudem steht das Recht auf Seiten der Macht und fördert so das Ohnmachtsgefühl der Landesbewohner. Nicht erwähnt habe ich, dass diese zwangsbeheimatet waren durch eine undurchlässige Grenze. Nicht erwähnt auch die permanente Einschüchterung und Bedrohung der Bevölkerung durch eine überdimensionierte Geheimpolizei. Nicht geredet auch über eine Wirtschaftsform, die das eigenständige Unternehmertum abschaffte – und damit ein Lernfeld für Eigeninitiative und Eigenverantwortung. Mitteldeutschland ohne DDR stünde heute ökonomische auf Augenhöhe mit Baden-Württemberg und dem Rhein-Main-Gebiet!

Ich habe hier bewusst an wichtige Elemente einer langjährigen Konditionierung der Staatsbewohner erinnert, auch weil jüngere Menschen die „ratio“, die Normalität von Anpassung an das System, nur schwer verstehen.

Und noch etwas will ich in Erinnerung rufen: Die Macht der Ängste, die erst einmal relativiert und dann überwunden werden mussten, bevor die lange Angepassten ihrer eigenen – verborgenen – Freiheitssehnsucht Raum gaben.

Aber plötzlich war dann der Bann gebrochen und das flächendeckende Angst-Anpassungssyndrom erschien plötzlich als heilbar – überwindbar. Stürmisch und mitreißend veränderte sich das Land, weil es nicht nur die Einzelnen verändert, wenn Menschen die in ihnen ruhenden Potentiale leben können, sondern die ganze Gesellschaft, das ganze Land veränderte sich. Freudvolle Tage, Wochen, Monate waren das, als die Freiheit im Werden, als sie jung war und einen weiten Himmel über uns eröffnete.

Wenn die Freiheit geboren wird, heißt sie Befreiung. Sie schenkt das Glück, das die Unterdrückung vorüber und die Unterdrücker machtlos geworden sind.

Aber – nicht lange nach den glücklichen Tagen der Befreiung und des Falls der Mauern, wird dann das Leben in der Freiheit zur Gestaltungsaufgabe für die Befreiten. Und bald wird es zu Differenzierungen und Trennungen kommen zwischen denen, die eben noch eins waren im Kampf für Freiheit und Demokratie. Wir merken dann: Freiheit von Zwang, das wollen alle; aber die errungene Freiheit, das Leben im neuen Sinn zu führen, das überfordere dann viele. Es ist jene Freiheit, die von Philosophen als positive beschrieben wird, die Lebensform, die uns erlaubt für etwas da zu sein, die uns ja sagen lässt, zu einem Lebensgefühl der Zuständigkeit für mich und die Menschen und Aufgaben, die nun einmal alltäglich da sind.

All die neuen Aufgaben und Verpflichtungen und gar die komplette Umgestaltung einer Diktatur in eine Demokratie fiel nun denen in die Hände, die man vom Mitbestimmen Jahrzehnte lang ferngehalten hatte. Und dann? Große Freude bei denen, die Ideen hatten, die die Kraft und den Willen hatten, eine echte Demokratie zu errichten. Wie viele waren es damals wohl genau? Und gleichzeitig eine große Sorge, bei manchen eine alt-neue Ängstlichkeit: Wie sollen wir das schaffen? Das haben wir nicht gelernt, da kann ich keine Verantwortung übernehmen. Und nicht wenige, die eben noch als Sieger der Geschichte ihre Freude gezeigt hatten, waren geblockt, ihre eigenen Kräfte zu erkennen. Von Kindesbeinen an, hatte man ihnen verwehrt, die eigene Verantwortung zu trainieren, sich als autonom und als Zentrum des Gemeinwesens zu verstehen, nun waren zwar viele am Werk, die im Kampf für die Freiheit Selbstermächtigung erlebt hatten.

Sie wollten und mochten gestalten und erlebten sogar so etwas wie das zweite Glück, dass was jene erleben, die sich einbringen und Verantwortung wagen. Aber weite Teile der Bevölkerung vermochten dieses Glück nicht zu leben. Viele verloren mit ihren Arbeitsplätzen auch ein Lebensgefühl der Sicherheit. Waren sie vorher weitgehend kritisch gegenüber dem sozialistischen System, so gab es weithin eine alltägliche Rollensicherheit. Auch eine Gewöhnung an Strukturen, man hatte sich eben irgendwie eingerichtet. – Ich rede gar nicht über all die Systemträger, die sich wohl und wohler fühlten, wo andere einfach nur irgendwie durchkommen wollten.

Die Besichtigung jener Jahre, als die Freiheit „normal“ wurde, ist bei mir mit erheblicher Ernüchterung verbunden. Ich selbst war seit März 1990 Abgeordneter der Volkskammer, war verbunden mit den Aktiven von 1989, die als Abgeordnete, als Bürgermeister oder Ratsmitglieder in den Kommunen die Demokratie aufbauten. Ich war damals häufig wütend auf die Inaktiven, die sich aufregten über die Mängel, statt sich selbst zu beteiligen. Ich dachte an den Satz von Jean-Jacques Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“. Ich konnte nicht verstehen, dass die Menschen ohne die Fesseln der Unterdrücker, nicht umgehend Freiheit leben konnten – jedenfalls jene Freiheit nicht, die als Verantwortung gelebt wird. Ich meinte damals, es sei ganz natürlich, vom Glück der Befreiung in das mühsame zweite Glück der Verantwortung überzugehen.

Erst Jahre später wurde mir die Last jener Ketten bewusst, die den Menschen nicht von außen umschließen, ihn jedoch innerlich binden und konditionieren. Mochte im Zuge der Befreiung auch vieles an alter ideologischer Bindung und Fesselung zerstört und abgetan worden sein, so blieb manche Haltung, die einst erlernt war, erhalten. Die Haltung der Macht gegenüber etwa, der man übergroße Bedeutung zumisst oder aber grundsätzliche Ablehnung zeigt. Mangelndes Selbstvertrauen, weil die Lebensform des autonomen ICH, als Citoyen nicht eingeübt werden konnte, Fremdheit gegenüber Vielfalt… und die ewig wiederkehrende Erfahrung der eigenen Ohnmacht („man kann ja doch nichts machen“), die zu einer Distanz gegenüber den gesellschaftlich Aktiven führt.

Als ich mir diese Dinge vor Augen führte, war ich zwar nicht vom Zorn über rote und braune Reaktionäre befreit, wohl aber von jenem, der den Unzufriedenen und Abständigen galt. Außerdem gab es eine geistige Begegnung mit einem Werk von Erich Fromm. Dieser hatte in der Emigration in den USA seine Arbeit „Escape from freedom“ herausgebracht, die wir auf Deutsch unter dem Titel „Furcht vor der Freiheit“ kennen. Das Werk entstand in der Zeit, als Faschismus und Nationalsozialismus noch als Verführungsmacht und lebensbedrohende Gewalt die freie Welt vor existentielle Herausforderungen stellte. Fromm fragte sich etwa, wieso so viele Menschen augenscheinlich der Freiheit nicht trauen und sich in unterschiedliche Fluchtbewegungen begeben. Besonders ausführlich analysiert er die „Flucht ins Autoritäre“.

Ich las das Werk, als mich die Frage beunruhigte, warum ein Teil meiner freiheitsliebenden Landsleute sich vor der positiven Freiheit eher fürchteten als sie zu wagen, sich zum Teil sogar zurückorientierten in die Zeit der roten Irrtürmer oder gar des völkischen Wahns. Fromm blickt in dem genannten Buch auf den Beginn des Menschseins, als dies besondere Lebewesen aus der Eingebundenheit in die Natur und einer instinktbestimmten Lebensform heraustritt, ein Bewusstsein seiner selbst entwickelt, ein Wesen sui generis, herausgetreten aus dem Determiniertsein der übrigen Natur. Er ist frei von etwas, aber wie gelangt er zu jener anderen Freiheit, der zu etwas?

Ich empfand es als ehemaliger Pfarrer anregend und erhellend, wie Fromm als progressiver Spezialist für die menschliche Psyche, die Paradiesgeschichte der Genesis thematisiert. Das, was als „Sündenfall“ die Strafe Gottes nach sich ziehen wird, erscheint dem heutigen Betrachter als „erste Tat der Freiheit“: „der Akt des Ungehorsams als ein Akt der Freiheit“. Nun zerbricht „die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur“ und „der Mythos betont, dass diese Tat Leiden zur Folge hat“. Von nun an wird der Mensch außerhalb des Paradieses frei sein. Aber gleichzeitig gepeinigt von Sorge und Angst. „…Freiheit erscheint ihm als Fluch. Er ist frei von der süßen Knechtschaft des Paradieses, aber er besitzt noch nicht die Freiheit zur Selbstbestimmung, seine Individualität zu realisieren“. Immer wieder in der Entwicklung des Menschen, der seine ursprünglichen Bindungen verloren hat, gebe es dann „machtvolle Tendenzen vor dieser Freiheit in die Unterwerfung oder in irgendeine Beziehung zu anderen Menschen und der Welt zu fliehen, die eine Milderung der Unsicherheit verspricht, selbst wenn sie den Menschen seiner Freiheit beraubt“.

Nach solcher Lektüre ist der Leser zwar klüger aber seinerseits verunsichert. Zwar kann er die Unwilligkeit jener, die die Freiheit zu etwas als Überforderung verstehen, nun nachvollziehen, kann nämlich eine anthropologische Konstante wahrnehmen, wo er zuvor Ignoranz, Desinteresse oder gar Bosheit vermutet hatte. Aber die Tatsache, dass ein Teil der Bevölkerung immer Fluchttendenzen entwickeln würde, wenn Freiheit in der Form von Verantwortung gelebt werden könne, war weder dem engagierten Bürger Gauck noch dem späteren Bundespräsidenten geheuer.

Geprägt durch Lebenserfahrungen wie 1989 und durch das Vergehen höchst machtvoller antifreiheitlicher Systeme, ist mein Blick auf die gegenwärtige Ära immer noch positiv. Zwar weniger als 1990, ich spreche jetzt häufig über „Erschütterungen“ die unserer liberalen Welt der politischen Freiheit zusetzen. Aber selbst wenn ich unsere Demokratie als System ungesicherter Gewissheiten beschreibe, erscheint es mir immer noch als Raum neuer Möglichkeiten. Ich übersehe die zahlreichen Mängel in Staat und Gesellschaft nicht. Aber anders als in Zeiten der Diktatur lebe ich in einem lernfähigen System. Es lebt vom Engagement derer, die ihre Freiheit als verantwortliche Wahrer und Gestalter des demokratischen Gemeinwesens leben. Es ist im Übrigen die Lebensform, in der uns Glück nicht als flüchtig erscheint, sondern als nachhaltig.

Als Erich Fromm sich vor acht Jahrzehnten fragte, wie der Mensch angesichts seiner Furcht vor der Freiheit, wie das verunsicherte Wesen zu einer neuen Form der positiven Verbindung zu der Welt gelangen könnte, wies er auf Haltungen hin, die offenkundig menschenmöglich sind: Wir sind imstande, in freier Selbstbestimmung „aktive Solidarität mit allen Mitmenschen“ zu leben, „Liebe und Arbeit“ würden „ihn wieder mit der Welt einen“. Da spricht einer vom Gelingen in einer Zeit, die von Untergang und Fluchten aus der Verantwortung geprägt war.

Er hat mich daran erinnert, dass ich mit vielen derer, die Unfreiheit über so viele Jahre erleben mussten, in den dunklen Zeiten seelische Überlebensrationen empfangen habe. Vor der Freiheit auf unseren Straßen existierte in vielen Köpfen eine Freiheit des Geistes, die Wahrheit hochhielt, als die Lüge Konjunktur hatte, die Empathie und Solidarität wagte, wo andere Anpassung kultivierten und die aus Glaubenden solche Hoffenden machte, die irrational lange darauf setzten, dass aus Hoffnung Taten werden würden.

Die klein gewordene Gemeinde Gottes war 1989 an unzähligen Orten Keimzelle und aktives Zentrum derer, die Freiheit als Lebensmöglichkeit auch hier und aus unserer Kraft heraus für möglich hielten. Dem einen war ein Evangelienwort, das lange nur als Traditionsgut vernommen wurde, ein Weckruf, einst religiöser Zuspruch und jetzt zugleich ein Appell, neues Denken zu wagen: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird Euch frei machen“ (Joh. 8). Den anderen wurde aus einem noch älteren Text bewusst, dass unser Gott eine Kraft ist, die die Aufbrechenden segnet und neue Ziele erreichen lässt. So wie es im Exodusgeschehen, in der uralten Zeit berichtet wird: den Aufbruch wagen. Heraus aus Ägypten 40 Jahre wandern bis zum verheißenden Land, sich nicht zurücklocken lassen in die vermeintliche Sicherheit der Sklaven. So alt die Texte – so wirksam und mobilisierend die Botschaften!

Was mich betrifft, eines Tages würde ich sagen: mein Glaube erlaubte mir, verwegener zu hoffen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mein Auftrag war es, in dieser Auftaktveranstaltung über die Erfahrungen von 1989 zu sprechen. Ich nehme zum Abschluss die Erinnerung an die Kräfte, die aus Hoffnungen wuchsen, noch einmal auf. Ich spreche in einem Teil Deutschlands, in dem die nächsten Wahlen für viele von uns mit einem unangenehmen Ergebnis enden werden.

In Landesparlamenten kann es unübersichtlich werden und womöglich werden Koalitionen gebildet werden, die bislang als unmöglich galten. Wenn nun gerade bei uns im Osten viele Wähler Gegner der liberalen, offenen Gesellschaft wählen oder Anhänger des Kriegsbrandstifters Putin, dann gilt es, die Ordnung der Freiheit neu zu verteidigen. – Dabei ist es politisch falsch und intellektuell fahrlässig, die Wählerschaft, die sich für rechtsaußen entscheidet, pauschal als Nazis zu beschreiben und zu bekämpfen. Dass es diese gibt, und dass sie entschlossen bekämpft und sanktioniert werden müssen, steht außer Frage. Aber es gibt andere Ursachen als die Naziideologie für das Wählen rechtsaußen.

Viele Menschen in ganz Europa (nicht nur bei uns im Osten) fremdeln mit einer Moderne, die sie als Zumutung empfinden. Wenn sich zu viel in zu kurzer Zeit wandelt, wird in jeder Gesellschaft etwa ein Drittel der Wählerschaft so verunsichert, dass die traditionellen Parteien der Mitte, diese Menschen nicht mehr binden können. Denn so groß ist etwa die Gruppe in der Gesellschaft, für die Sicherheit wichtiger ist als Freiheit. Sehr viel Veränderung – etwa durch massive Zuwanderung – sorgt dann sehr oft für die im Vortrag erwähnte Flucht ins Autoritäre. Übersehen wird dabei, dass die Politikangebote der Autoritären zwar die Vergangenheit hoch schätzen, tragfähige Zukunftsangebote aber vermissen lassen.

Landauf, landab wird nun über zu erwartende Wahlerfolge geredet. Und bei manchen sehe ich sogar eine Furcht davor, dass der rechte Rand das Land regieren könnte. Das aber wird sicher nicht passieren, in diesem Land gibt es – anders als in der Weimarer Republik – genug Demokraten, die das verhindern werden.

Deshalb sollten wir nationalpopulistischen Verführern nicht unsere Angst schenken. Sondern mit unseren guten Argumenten und mit unserer Liebe zur Freiheit das verteidigen, was wir 1989 errungen und seitdem bewahrt und verbessert haben:

Unsere offene, liberale Demokratie!