Bundespräsident a.D. Joachim Gauck

DHM-Ausstellung Gewalt ausstellen

Menü Suche
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck spricht ein Grußwort im Deutschen Historischen Museum

©DHM/Sandra Kühnapfel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck spricht ein Grußwort im Deutschen Historischen Museum

Eröffnung der Ausstellung "Gewalt ausstellen"

23. Mai 2025, Berlin

                                                                                               Es gilt das gesprochene Wort.

Befremdlich war das! Obwohl es doch ein Anlass zur Freude ist, wenn ein renommierter Direktor einer renommierten Institution einen anruft. Aber befremdlich, lieber Raphael Gross, war Ihre Anfrage nach einem Grußwort von mir, weil Sie mir das Projekt einer Ausstellung über Ausstellungen nahebringen wollten. Ich neigte zur Absage. Dann kamen Ihre Worte, dann sagte ich zu. Aber dann war Ihr Tun für mich immer noch befremdlich.

Ich bin ja nun trotzdem gekommen, vielleicht weil ich im Laufe des Lebens gelernt habe, dass oftmals das, was uns befremdet, bei genauerem Hinsehen eine Botschaft für uns enthält oder eine Neugier erweckt oder einen Impuls zum Weiter- oder Umdenken enthält.

So grüße ich Sie nun mit dem, was mir zu dieser Ausstellung nach dem Befremden in den Sinn gekommen ist. Dabei spricht heute weniger der ehemalige Bundespräsident zu Ihnen, sondern der deutsche Bürger, der im Krieg geboren wurde und fünf Jahre alt war, als die erste der von Ihnen dargestellten Ausstellungen eröffnet wurde.

Einer, der in verschiedenen Lebensepochen für angemessenes Erinnern und gegen das Vergessen gearbeitet hat und nun Ehrenvorsitzender der Bürgervereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ ist.

Wir gehen als Besucher der neuen Ausstellung in die unmittelbare Nachkriegszeit, begegnen Gefühlen und Urteilen von Menschen, die von Deutschen mit Krieg überzogen und tyrannisiert worden sind. Wir wissen inzwischen nach langen, oft schmerzhaften Aneignungs- und Aufarbeitungsphasen um die Schuld unserer Vorgängergenerationen. Wir wissen aber noch immer wenig darüber, wie intensiv die Empfindungen derer waren, die unter NS-Deutschland gelitten hatten.

Die Ausstellungen in London, Paris, Warschau, Liberec geben uns Wissen darüber. Wir sehen durchaus unterschiedliche Schwerpunkte, sehen auch, dass die Shoah in ihrer grauenvollen Einmaligkeit noch nicht zur Geltung kommt, sehen - wenn wir etwa die Londoner Ausstellung mit ihrer Konzentration auf die Leiden der Opfer vergleichen mit der späteren Ausstellung in Liberec – eine nationalistische Verzweckung eines an und für sich aufklärerischen Vorhabens.

Aber alle Unterschiede und Schwerpunktsetzungen haben eines gemein: Sie konfrontieren uns mit der abgründigen Seite einer Moderne, die - statt von Aufklärung, vom Humanum - geprägt ist von der menschenverachtenden Hybris eines selbsternannten Herrenvolks, das den schon vorhandenen demokratischen, auch christlichen Werten mehrheitlich den Abschied gegeben hatte.

Nun 1945 war das Ende mit Schrecken für die Besiegten gekommen. Und selbst die Gegner wussten nicht wirklich, wie groß die Zahl der Ermordeten war – mit welcher Mordgier die Täter ihre Opfer verfolgten. Sergeant Mike Lewis, der die Befreiung von Bergen-Belsen mit der Kamera zu dokumentieren hatte, brachte es auf die Formel: „Man muss es sehen, um es zu glauben.“

Die britische Ausstellung „The Horror Camps“ sagte es in ihrem Motto so: „Seeing is Believing“ – sehen heißt glauben. Wobei „glauben“ hier im Sinne von Wilhelm Busch zu verstehen ist: „Nur was wir glauben, wissen wir gewiss.“

Den Ausstellungsmachern damals in London – wie denen, die heute historisches Wissen vermitteln – muss es letztlich um ein Sehen gehen, das im Sehenden mehr bewirkt, als nur die Neugier zu befriedigen; letztlich um ein Wissen, das uns verändert, uns veranlasst (in Havels Worten) „in der Wahrheit zu leben“.

Wo immer in den alten Ausstellungen wie in den aktuellen Leben und Sterben, Zerstören oder Bauen dargestellt werden soll, ist der erste Schritt, die Fakten exakt zu sichern und darzustellen. Dies ist den Menschen auch dann zuzumuten, wenn die Fakten böse, erschreckend, grausam sind. Es ist den Menschen zuzumuten zu betrachten, was Menschen Menschen antun können. Und: Wer die Wahrheit sucht, darf sich vor der Wahrnehmung nicht fürchten. Wahrnehmung kommt vor aller Wahrheit.

So betrachten wir die Ansätze und Absichten früherer Ausstellungsmacher nicht nur deshalb, weil wir als überzeugte Europäer wissen wollen, wie unsere Nachbarn unsere Gewalt- und ihre Leidensgeschichte betrachtet und gewürdigt haben. Es gibt einen wichtigeren Grund, sich alten Aufklärungsaktivitäten zu nähern: Wir müssen unsere Entschlossenheit stärken, die Taten, die Fakten, die uns heute begegnen, wenn Krieg, Entrechtung und Herabwürdigung von Menschen erneut wirklich werden, wahrzunehmen, zu dokumentieren.

 

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Austausch mit dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross

©DHM/Sandra Kühnapfel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Austausch mit dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross

Wenn wir die unterschiedlichen Intentionen der Ausstellungsmacher von damals neu besichtigen, stoßen wir auch auf das Problem der geschichtspolitischen Faktenselektion durch die damals Regierenden im Osten Europas.

Ihnen ging es darum. Die Schrecknisse der Vergangenheit darzustellen, um die Akzeptanz des Gegenwärtigen zu erlangen. Das Gegenwärtige im Kommunismus war allerdings ein strukturell begründetes Legitimitätsdefizit. Deshalb benötigte man den Antifaschismus als ein die eigene Herrschaft legitimierendes Element. Mit dieser Verzweckung allerdings wird aus einer „natürlichen“ Antihaltung, die Menschen angesichts von Mord und Verbrechen entwickeln, eine Form des Antifaschismus, die neue Formen von Rechtsferne, Terror und Unterdrückung nicht wahrnimmt bzw. diese sogar legitimiert.

An dieser Stelle fällt mir gerade auf, dass ich nicht über vergangene Geschichtspolitik spreche, sondern auch über ein höchst gegenwärtiges Phänomen: Mit Putins Lügen über einen angeblich grassierenden Faschismus in der Ukraine taucht die Indienstnahme und Verzweckung einer ursprünglich humanen, edlen Unrechtsabwehr zur Legitimation eigener Herrschaftsansprüche erneut auf. Die mörderischen Fakten von Butscha werden dann geleugnet, ein künstlicher Antifaschismus soll die imperiale Aggression in etwas Notwendiges, ja Gutes verwandeln.

Dies erkennend machen wir uns bewusst: Die killing-fields von heute dürfen nicht im mythischen Nebel eines Lebensgefühls verschwinden, das uns ganz allgemein von einer immerwährenden Existenz des Bösen zuraunt und damit eine letztlich fatale Beruhigungsbotschaft anbietet. Wir wissen inzwischen auch genug von einem Erschrecken, das folgenlos bleibt, wenn Menschen verharren im Gefühl der Hilflosigkeit und in Tatenlosigkeit.

Wenn hier von selektivem und verzwecktem Erinnern durch autoritäre Herrschaft die Rede war, so soll andererseits eine Faktenscheue bzw. -leugnung nicht übersehen werden, die im demokratischen Nachkriegsdeutschland in großen Teilen der Bevölkerung existierte. Als damals der Philosoph Karl Jaspers anmahnte, die Betrachtung der NS-Verbrechen müsse zu einer „Durchhellung“ der Gesellschaft führen, fürchteten viele den Schmerz und die Scham, die ihnen bevorstehen würden, wenn sie sich den niederschmetternden Fakten und Erkenntnissen über die NS-Zeit wirklich stellen würden

So war für viele die Wirklichkeit eigenen Leidens, bei den Vertriebenen etwa das selbst erfahrene Unrecht, eine Blockade vor der Wahrnehmung eigener Schuld. So sehen wir rückblickend, dass den Fakten, der historischen Wahrheit doppelte Gefahr droht: von oben durch undemokratische Herrscher, von unten aus der Mitte einer Bevölkerung, die sich vor Selbstkritik, Reue und Neubesinnung fürchtet und ins persönliche Nichtwissen abzutauchen versucht.

Wie gut, dass es inzwischen ein eingeführtes demokratisches Denken in diesem Land gibt, „oben“ ebenso wie „unten“. Aber wie beunruhigend, dass dessen Existenz die Präsenz von „alternativen Fakten“, Geschichtslügen und Wahrnehmungsverweigerung in unserer Gegenwart nicht zu verhindern vermag.

So bleibt viel zu tun – für die Bürgergesellschaft insgesamt wie für die Ausstellungsmacher und Vermittler historischen und politischen Wissens.

Denn nur wer sich die realen facta der Gegenwart nicht erspart, sein Sehvermögen trainiert, die Geschehnisse dokumentiert und nicht nur einfach vor der Monstrosität des Bösen erstarrt, gewinnt Zugang zu jener Form von Wahrheit, die Menschen zu verändern vermag.

In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Ausstellung den Besuch möglichst vieler Menschen, die sehen und lernen wollen.